Türkei: Hexenjagd auf kritische Akademiker

Während der US-Botschafter die Kriminalisierung der Kritiker der Kurdenpolitik rügt, schweigt die Bundesregierung

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Als Reaktion auf den Terroranschlag auf die deutsche Reisegruppe in Istanbul hat die türkische Armee die vom IS kontrollierte Stadt Manbij mit Artillerie beschossen. Aus der in der Nähe der Türkei liegenden syrischen Stadt soll der Attentäter gekommen sein, der illegal in die Türkei eingereist war und sich erst Tage danach vor seiner Tat als Flüchtling hatte registrieren lassen.

Nabil Fadli, so der Name auf dem Pass, war den Sicherheitsbehörden nicht bekannt, man weiß auch nicht, ob der Getötete überhaupt Fadli war. Dazu scheint bislang die Verantwortungsübernahme des IS zu fehlen, der sich ansonsten gerne alle Anschläge zuschreibt. Inzwischen wurden 10 Menschen inhaftiert, die verdächtigt werden, mit dem Attentäter in Verbindung gestanden zu haben.

Unklar bleibt, wie symbolisch diese Aktion war, zumindest war es ein Zeichen, dass zwar der Krieg gegen die PKK weiter im Vordergrund der türkischen Regierung steht, sie aber nun auch gezwungen war, gegen den IS in Syrien vorzugehen und in einer Welle angebliche IS-Mitglieder zu verhaften. Auch wenn de Maizière emsig versichert, dass die Türkei seit dem Anschlag in Ankara den IS eindeutig bekämpfen würde, so ist das alles andere als sicher.

Kampagne gegen Kritiker

Manbij hat für die Türkei eine strategische Bedeutung. Sie liegt im Gouvernement Aleppo und in dem vom IS kontrollierten Gebiet, das bis an die türkische Grenze reicht und die kurdisch kontrollierten Gebiete in Syrien trennt. Kürzlich haben die von den USA unterstützten Syrisch Demokratischen Kräfte, im wesentlichen Kämpfer der kurdischen YPG, den Euphrat Richtung Westen überschritten und den Tischrin-Damm erobert, über den große Teile Nordsyriens mit Strom versorgt werden. Noch scheinen die Syrer den Damm halten zu können, der IS versucht ihn durch wiederholte Angriffe wieder unter seine Kontrolle zu bringen.

Hier verbinden sich beispielsweise die Interessen der Türkei und der von ihr unterstützten Oppositionsgruppen mit dem Islamischen Staat, denn für die türkische Regierung gilt im Hinblick auf die Kurden der Euphrat als rote Linie, da man mit allen Mitteln vermeiden will, dass die Kurden die noch bestehende Lücke zwischen Afrin und den übrigen Gebieten von Rojava schließen könnte.

In diesem Korridor wollte die Türkei auch deswegen seit langem eine Flugverbotszone einrichten, und einer der Gründe, warum die Türkei jede Hilfe für Kobane verweigert und den Kämpfen dort zugeschaut hat, war eben die Sorge vor einer Vergrößerung des von Kurden kontrollierten Gebiets. Letztlich sind die Kurden, was auch jetzt noch zu sehen ist, der größere Feind der türkischen Regierung als der IS.

Daher ist auch zu verstehen, dass die türkische Regierung, die sich vorerst der Unterstützung der deutschen Regierung und der EU wegen der Flüchtlinge sicher sein kann, gegen Kritiker des Kriegs gegen die Kurden eine Hexenjagd begonnen hat.

Betroffen sind davon über 1.100 Akademiker von 89 türkischen Universitäten, die es gewagt haben, mit einigen hundert ausländischen Intellektuellen eine Petition zu unterschreiben, mit der sie das "Massaker und die Vertreibung von Kurden" in den kurdischen Provinzen verurteilt haben. Sie verlangten Zugang für unabhängige Beobachter und die Bestrafung derjenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, sowie die Einleitung eines Friedensprozesses mit den Kurden.

Mindestens 18 Akademiker, die die Petition unterzeichnet hatten, wurden inzwischen verhaftet, mehr als 130 droht eine Festnahme, es wurden Wohnungen durchsucht. Allein gegen 123 Akademiker in Istanbul wurden Ermittlungen eingeleitet, vielen droht die Entlassung.

Vorwurf der terroristischen Propaganda

Der türkische Präsident Erdogan hatte die Unterzeichner dafür verantwortlich gemacht, "terroristischer Propaganda" zu verbreiten. Zu den Verhaftungen sagte Erdogan am Freitag:

Unsere Nation muss erkennen, wer wer ist. Ein Professor zu sein, macht noch niemanden zu einem Intellektuellen. Das sind die dunkelsten Menschen. Es sind grausame Menschen, weil diejenigen, die sich mit Grausamkeit verbinden, selbst grausam sind.

Auch der Regierungschef schloss sich der Kritik an und bezeichnete die Kritik als "Hass".

Besonders verwerflich scheint es ihm zu sein, dass auch Intellektuelle vom Ausland eingeladen worden sind, das ein "Verrat" und die "Mentalität von Kolonisateuren". Erdogan lud Noam Chomsky, der die Petition unterschrieben hatte, ein, in die Türkei zu gehen, um sich dort über den Terrorismus zu informieren. Dann werde man ihm vorführen, was im Südosten der Türkei geschieht.

Es geht darum, die Opposition weiter auszuschalten, was die türkische Regierung bereits mit der Einschränkung der Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Ausweitung polizeilicher Befugnisse vorbereitet hat. Jetzt scheint neben dem Terrorvorwurf und dem Aufruf zu Hass und Feindseligkeit Artikel 301 des Strafrechts herhalten zu müssen, nach dem es verboten ist, die türkische Nation, die türkische Republik, das Parlament oder die rechtlichen Institutionen des Landes zu beleidigen.

Chomsky: Doppelter Maßstab

Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte, es gebe keine Unterschied, den Terror politisch oder finanziell zu unterstützen, unterstellend, dass die Petition eine Zusammenarbeit mit der PKK darstellt. Chomsky schlug die Einladung aus, warf Erdogan einen doppelten Maßstab und die Zusammenarbeit mit dem IS vor und erklärte, er würde nur auf Einladung von Dissidenten und Kurden kommen.

Kritik kam selbst von der US-Regierung, d.h. vom US-Botschafter der Türkei. John Bass erklärte, Kritik an Gewalt sei nicht mit Terrorismus gleichzusetzen. In einer Demokratie müsse es möglich sein, auch unerwünschte Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Die deutsche Botschaft, auch die Regierung, schweigt.

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu warnte derweilen die EU, dass die Flüchtlinge kommen werden, wenn nicht endlich gezahlt wird.