Ärzte ohne Grenzen beklagt "humanitäres Versagen" der EU-Flüchtlingspolitik

Syrische Flüchtlinge im Budapester Bahnhof Keleti, 5. September 2015. Foto: Mstyslav Chernov/CC BY-SA 4.0

"Europa muss sichere Wege schaffen", fordert die Organisation

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Schwere Vorwürfe erhebt ein heute veröffentlichter Bericht der Organisation Ärzte ohne Grenzen gegen die Flüchtlingspolitik der EU im vergangenen Jahr. Die Abschreckungs- und Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen wird als in vielen Punkten "inhuman" beschrieben und generell als Versagen bewertet.

Die EU und europäische Regierungen haben kollektiv in ihrem Umgang mit der Krise versagt. Darüber hinaus haben sie mit ihrem Schwerpunkt, der auf Abschreckung ausgerichtet ist, zusammen mit ihrer chaotischen Reaktion auf humanitäre Bedürftigkeiten der Flüchtlinge die Bedingungen der tausenden von schutzlosen Männern, Frauen und Kindern aktiv verschlechtert.

Brice de le Vingne, Direktor bei Ärzte ohne Grenzen

Auf 31 Seiten präzisiert und veranschaulich der Bericht (Englisch) die Vorwürfe. Gestützt auf 100.000 medizinische Konsultationen, welche die Ärzte der Organisation mit Flüchtlingen im vergangenen Jahr durchführten, auf Aussagen von Ärzten und individuellen Berichten von Flüchtlingen sowie medizinischen Daten werden die Routen, die Stationen und die Behandlung der "Flüchtlinge, Asylsuchenden und Migranten" geschildert als Höllentripp mit unsäglichen Bedingungen.

Schüsse, Gewalt, Raubüberfälle, Missbrauch, Dreck

Die Überschrift "Obstacle course to Europe", die mit Hindernislauf in Europa übersetzt werden kann, gibt dabei nur in geschwächter Form wieder, wovon der Bericht überquillt: Schilderungen von existenziellen Gewalterfahrungen in "Etappenländern", zum Beispiel in Libyen, wo 92 Prozent von solchen Extremerfahrungen berichten und 70 Prozent traumatische Erfahrungen davontragen, aber auch aus europäischen Ländern wie Bulgarien oder Griechenland.

Die Flüchtlinge berichten von Schüssen, Prügeln, Raubüberfällen, Diebstahl durch Grenzbeamte, Erfahrungen sexuellen Missbrauchs auf der Flucht, vom Tod nahestehender Menschen durch Ertrinken, von schmutzigem Trinkwasser in Serbien, Nässe in Flüchtlingsaufnahmezentren ohne Decken, nur "voll mit Schmutz", nichts zu essen, endloses Schlangestehen, ohne Rücksicht auf die körperliche Verfassung, Schikanen der überforderten Grenzpolizisten unterworfen, Registrierungsprozeduren, die von Ort zu Ort und von Tag zu Tag wechseln.

Von der Schilderung unzumutbarer Zustände ist kaum ein Land ausgenommen, wiewohl im Bericht manche Länder auffallen, darunter auch Griechenland und Italien, die laut EU ihre Hotspots aufbessern sollen.

Die Organisation versteht sich als Zeuge, der auf Not aufmerksam macht. Diese Aufgabe erfüllt sie mit ihrem Bericht, der auf Aspekte der Flucht aufmerksam macht, die in der gegenwärtigen öffentlichen Auseinandersetzung in den Hintergrund geraten ist. Insbesondere dürfte die Lektüre des Berichts auch gerade rücken, worüber viel Überhebliches geäußert wird: die Traumata, die Flüchtlinge erleben.

Über 12.000 trauma-geschädigte Patienten zählten die MSF-Ärzteteams allein in Serbien und Griechenland. Aus ärztlicher Sicht lautet der Generalbefund, dass durch die Bedingungen an den Grenzen die Verfassung bereits kränkelnder Menschen weiter geschwächt werden. Statt dass ihnen geholfen werde, würden sie in vielen Fällen erkranken. Die Rede ist von schweren gesundheitlichen Schaden, die Tausenden zugefügt würden.

Forderungen an die Politik

Soweit der Zeugenbericht, angesichts des beobachteten und erfahrenen Elends geht der Bericht aber darüber hinaus. Er fordert politische Konsequenzen: "die Schaffung sicherer Wege nach Europa".

Ärzte ohne Grenzen geht durch Daten und eigene Beobachtungen an den Grenzen und auf Schiffen davon aus, dass der überwiegende Teil der Geflüchteten aus Ländern kommt, deren Situation von Kriegen und Verfolgung gekennzeichnet ist: 84 Prozent kommen aus "refugee-producing countrys", ist zu lesen. Genannt werden Syrien (49%), Afghanistan (21%) und Irak (9 %). Der Bericht lässt verstehen, dass die Abschreckungspolitik nichts Wesentliches daran ändert, dass die Menschen aus diesen Gebieten flüchten.

Die wesentliche Forderung, welche die Organisation aus ihren Erhebungen und ihren Hilfsmaßnahmen zieht, ist diejenige, die gegenwärtig die wenigsten Fürsprecher hat, nämlich den Verzicht auf die Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen und stattdessen die Einrichtung von Möglichkeiten, um sicher nach Europa zu kommen, ohne solche Risiken und Bedingungen, wie sie im Bericht beschrieben werden.

Es hat ein neues Jahr begonnen, aber wir wissen, dass Menschen weiterhin ihr Leben riskieren werden und keine restriktive Politik sie davon abhalten wird, nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Familien zu suchen. Wir fordern weiter die Schaffung sicherer Wege nach Europa. Die EU darf nicht weiter mit dem Leben und der Würde von Menschen spielen. Die Krise ist alles andere als vorbei und die Flüchtlingshilfe in Italien, Griechenland und den Balkanstaaten völlig unzureichend.

Aurelie Ponthieu, Migrationsexpertin von Ärzte ohne Grenzen

Es ist recht unwahrscheinlich, dass das Programm, das die Ärzte ohne Grenzen vorschlagen, realisiert wird.