Spätaussiedler protestieren gegen Migranten

Ein über russische Medien verbreitetes Gerücht über eine Vergewaltigung zündet nicht nur bei der NPD, sondern vor allem auch bei Russlanddeutschen

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In einigen Städten Bayern und Baden-Württemberg sind am Sonntag um die 3000 Russlanddeutsche auf die Straße gegangen, um gegen Zuwanderung und "Ausländergewalt" zu demonstrieren, auch in Nürnberg und Erlangen. Gefordert wurde "mehr Sicherheit" und "Respekt für die deutsche Kultur". Obgleich schon von der Polizei richtiggestellt, gehen die Einwanderer aus den 1990er Jahren davon aus, dass neue Ausländer Mädchen vergewaltigen. Nach Köln scheint alles möglich. Und da meinen denn die Russlanddeutschen, sie müssten gegen Einwanderungspolitik und gegen "nicht integrierbare" Muslime protestieren.

Vorangegangen war am Samstag eine Demonstration von 700 Menschen in Berlin vor dem Kanzleramt. Auch RTDeutsch berichtete und spielte auf der Klaviatur der Ressentiments: "Spätestens seit der Silvesternacht in Köln herrscht eine zunehmende Besorgnis und Unsicherheit darüber, ob die Polizei ihrer Schutzaufgabe wirklich noch gerecht werden kann und ob unter den vielen Flüchtlingen, die Deutschland aufgenommen hat, potenzielle Kriminelle oder Vergewaltiger sind, die als "tickende Zeitbomben" hier frei herumlaufen. Unter den Demonstranten waren viele Russlanddeutsche, aber auch Deutsche. Auf den Plakaten waren Slogans wie 'Lisa wir sind mit dir' und 'Wir sagen Nein zu Gewalt' zu lesen."

Angeblich sei ein deutsch-russisches 13jähriges Mädchen aus Berlin-Mahlsdorf am 11. Januar von drei Männern südländischen Aussehens entführt und 30 Stunden lang vergewaltigt worden, hatte ein russischer Sender berichtet - mit einem Interview mit einer Verwandten. Besorgte Bürger, mitsamt Anonymous, greifen die Geschichte auf: "Nur durch Zufall kommt die Geschichte ans Tageslicht. Die Polizei weigert sich beharrlich die Täter strafrechtlich zu belangen. Das BKA bestreitet sogar, dass die Straftat überhaupten stattgefunden hat und die deutsche Lügenpresse beginnt jetzt auch noch damit, die aus Russland stammenden Eltern des Opfers als Nazis zu diffamieren, statt über den Fall zu berichten."

Screenshot aus dem Video

Tatsächlich ist die Geschichte nach der Berliner Polizei erfunden. Sie kursiert schon einige Zeit, die erste Demo hatte es schon am 16. Januar von der NPD gegeben. In rechten und Gida-Kreisen stieß die Geschichte auf Resonanz. Die Berliner Polizei am 18. Januar:

In den letzten Tagen ist uns aufgefallen, dass das Interesse der Netzgemeinde an dem Fall eines 13-jährigen kurzfristig vermisst gemeldeten Mädchens aus Marzahn-Hellersdorf und die Umstände Ihrer Abwesenheit groß sind.

Ja, es ist richtig - das Mädchen war kurzzeitig vermisst gemeldet und ist inzwischen wieder zurück. Uns ist bekannt, dass verschiedene Aussagen zu dem Sachverhalt in den sozialen Medien diskutiert werden. Fakt ist - nach den Ermittlungen unseres LKA gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung. Wir bitten ausdrücklich um Ihr Verständnis, dass wir nähere Angaben insbesondere zum Schutz der Persönlichkeit des Mädchens und Ihrer Familie nicht machen werden. Wir appellieren auch an Ihren sensiblen Umgang mit dem Thema in den sozialen Netzwerken.

Polizei Berlin

Aber da gibt es die Lügenpresse und den staatlichen Organen vertraut man nicht unter den völkisch orientierten Ausländer- und Flüchtlingsgegnern mehr. Kurios ist in dem Fall, dass Russlanddeutsche offenbar eine vermutliche Falschmeldung eines russischen Mediums benutzen, um gegen Einwanderer zu protestiere. Die Landsmannschaft will zwar nichts damit zu tun haben, so die Augsburger Allgemeine. Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft, Waldemar Eisenbraun, fordert, so berichtet die Augsburger Allgemeine, dass man "zwischen Vertriebenen, Spätaussiedlern, Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten" unterscheiden müsse. Das wird schon schwierig. Die Einwanderung der Russlanddeutschen oder Spätaussiedler aus der Ex-Sowjetunion sei schließlich eine Einreise in deren "historische Heimat" gewesen. Sie hätten sich auch "vorbildlich integriert". In der badischen Stadt Lahr protestierten 350 der Spätaussiedler. Als der Oberbürgermeister erwähnte, dass sie auch Migranten gewesen seien, stieß er auf Empörung.

Zwischen 1950 und 2013 sind immerhin 4,5 Millionen Aussiedler nach Deutschland gekommen, 1,2 Millionen Deutsche aus Polen und Osteuropa und ab 1990 2 Millionen so genannte Russlanddeutsche, von denen viele allerdings nicht Deutsch sprechen konnten. Nach einer Studie des BAMF aus dem Jahr 2013 sind sie politisch nicht sonderlich interessiert und neigen zu konservativen und christlichen Parteien: "Obwohl sie einen deutschen Pass haben, fühlen sich viele junge Spätaussiedler nicht als vollwertige deutsche Staatsbürger angenommen. Das führt wiederum zu einer starken Identifizierung mit der Eigengruppe: Sie werde leidenschaftlich idealisiert, während andere 'Fremdgruppen' tendenziell als minderwertig angesehen werden."

Es wird allerdings auch überlegt, ob die russische Staatsmedien "die Situation bewusst aufheizen". Tatsächlich gibt es eine enge Beziehung zwischen Moskau und den EU- und ausländerfeindlichen rechtspopulistischen und rechten Parteien und Bewegungen in Europa. Die staatlichen Medien suchen systematisch, das Vertrauen in die "Mainstreammedien" zu untergraben und gehen damit vereint mit NPD, Pegida, AfD und Co. Die Regierung in Berlin zu destabilisieren, könnte ein Interesse sein, allerdings ist die deutsche Regierung keineswegs antirussisch eingestellt, sondern hat eine Mittlerposition eingenommen.

Gleich wohl titelt auch der Bayerische Rundfunk: "Russlanddeutsche als Putins Fünfte Kolonne". Die verbreitete Version:

Der russische Präsident Putin nutzt das russische Staatsfernsehen, um in Deutschland Druck zu machen. Opfer seiner Propaganda sind dabei Tausende Russischstämmige. Die demonstrierten etwa wegen der angeblichen Vergewaltigung eines Mädchens in Berlin. Die Tat hat laut Polizei aber gar nicht stattgefunden.

BR

Nach dem Bayerischem Rundfunk, der auch gerne mal verdächtigt wird, der CSU-Regierung hörig zu sein, liegt das Interesse Moskaus, das auch mit Falschmeldungen verbreitet wird, auf der Hand:

Die propagandistische Botschaft der vom Kreml gesteuerten Medien: Europa ist schwach, ein unsicherer Ort, überrannt von Fremden. Verglichen damit scheint Russland unter Präsident Wladimir Putin glänzend dazustehen - auch wenn der Rubel abstürzt, die Einkommen sinken und das Land Krieg führt in Syrien und verdeckt in der Ukraine.

BR