Und wer rettet die Retter?

Bild: Facebookseite von Salam Aldeen

Auf Lesbos landen Rettungsschwimmer im Gefängnis

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Eigentlich kam Salam nach Lesbos, um als freiwilliger Rettungsschwimmer Menschenleben zu retten. Nun braucht er selbst Hilfe. Weil er Flüchtlinge vor dem Ertrinken bewahrte, drohen ihm zehn Jahre Haft.

"Eigentlich" ist ein Wort, das man oft hört an der Nordküste von Lesbos: Eigentlich sollten die Flüchtlinge doch mit der Fähre kommen dürfen. Eigentlich könnte man sie doch einfach über Land einreisen lassen. Eigentlich sollten sich Behörden von EU und Griechenland und nicht ein paar Dutzend Freiwillige um sie kümmern. Eigentlich müsste die Küstenwache die Menschen vor dem Ertrinken bewahren.

Die Geschichte von Salam Aldeen ist auch so eine, die es "eigentlich" nicht geben dürfte. Es dauert eine Weile, bis er Zeit findet, sie zu erzählen. "Ich kann jetzt nicht, wir kommen schon wieder ein Boot herein. Kannst du später nochmal...", sagt er und legt auf. Irgendwann am späten Abend klappt es dann doch mit dem Gespräch über jenen Tag, an dem er wie an jedem Tag hinaus fuhr aufs Meer, um Flüchtlinge zu retten und schließlich selbst aus dem Gefängnis gerettet werden musste.

Salam Aldeen. Bild

Der Vorwurf: Menschenschmuggel

"Wir fuhren wie immer auf das Meer raus und sahen, dass das Boot schon halb mit Wasser vollgelaufen war. 51 Menschen kauerten auf dem Boden. Immer mehr Wasser lief rein. Wir haben die Küstenwache alarmiert. Sie sagten uns, wir sollen die Leute retten. Ich habe erst Frauen und Kinder in unser Boot geholt. Danach einen Mann ohne Bein und vier weitere kranke Männer. Dann haben wir versucht, das Boot mit den restlichen Männern Richtung Insel zu ziehen."

Rund 160 solcher Einsätze habe er und sein "Team Humanity" vor Lesbos schon ausgeführt, rund 10.000 Flüchtlinge dadurch an Land geholfen, viele vor dem Ertrinken bewahrt. Doch als an diesem Tag das Schiff der Küstenwache ankommt, wollten die Beamten nicht nur die Flüchtlinge übernehmen; sie nehmen Salam und die anderen freiwilligen Rettungsschwimmer gleich mit. Der Vorwurf: Menschenschmuggel. Die Rettungsschwimmer sollen das seeuntüchtige Flüchtlingsboot aus türkischen in griechische Gewässer geschleppt haben.

Eigentlich sollten Küstenwache und Frontex das Meer überwachen

Dass es im Norden von Lesbos überhaupt Leute wie Salam braucht, taugt auch zu einem dieser Sätze mit "eigentlich". Nur acht Kilometer trennen hier die Türkei und Europa voneinander. Mit bloßem Auge lassen sich sogar einzelne Häuser im gegenüberliegenden türkischen Dorf erkennen. Schiffe der europäischen Frontex sowie der griechischen und europäischen Küstenwache sollten hier den schmalen Meeresstreifen überwachen. Sie tun es meist nicht. Und deshalb sind es freiwillige Rettungsschwimmer aus Barcelona, Athen oder Kopenhagen, die hier ohne Bezahlung den Job übernehmen, dem sich griechische und europäische Behörden verweigern.

Bevor sie nach Lesbos kamen, hatten die meisten von ihnen mit Flüchtlingen nichts zu tun. Salam versuchte sich in Dänemark erfolglos als Geschäftsmann. Dann sah er die Bilder toter Flüchtlinge und beschloss am 15. September, seinem 32. Geburtstag, loszufahren, um zu helfen. Warum er noch immer da ist? "Weil ich tote Menschen gesehen habe. Seitdem sitze ich hier fest - in einem positiven Sinn. Wenn du ein Kind aus dem Wasser rettest und siehst wie sein Vater und seine Mutter es in die Arme schließen und glücklich sind, dann kannst du nicht einfach wieder gehen."

Die Küstenwache kommt nicht wegen der Flüchtlinge, sondern wegen den Rettungsschwimmern

Es ist gegen 2 Uhr in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, als Salam wieder einen Anruf bekommt: "Sie schrien um Hilfe; sie schrien, dass ihr Boot sinkt." Nach einem Verhör hatte die Küstenwache ihn und die anderen zuvor vorerst wieder freigelassen. Zwölf Stunden ist er wieder auf dem Meer und durchsucht die Nacht nach dem nächsten in Seenot geratenen Flüchtlingsboot. Irgendwann trifft die zu Hilfe gerufene Küstenwache ein, doch sie kommen nicht wegen der Flüchtlinge, sondern wegen den Rettungsschwimmern.

"Ein großes Marineschiff fuhr direkt auf uns zu. Wir konnten gerade noch ausweichen, die Wellen hätten unser Boot fast versenkt. Zehn Minuten später hatten uns drei Schiffe der Küstenwache eingekeilt. Sie befahlen uns, mit ihnen zu kommen. Wir seien verhaftet." Die nächsten drei Tage verbringen die fünf Rettungsschwimmer in einer Zelle in der größten Stadt der Insel Mitilini. Weil sie ein Boot aus türkischen in griechische Gewässer geschleppt haben sollen, drohen ihnen bis zu zehn Jahre Haft

Acht Kinder starben, während Salam im Gefängnis saß

Salam und die anderen bestreiten das: "Es geht einfach um Politik. Alle Dokumente, alle Beweise, die Videos, die Handys zeigen, dass wir nicht in der Türkei waren. Am Morgen nach unserer Verhaftung gab die Küstenwache zu, dass wir nicht in türkischen Gewässern waren. Ich darf nicht zurück nach Dänemark. Ich darf meine Familie nicht sehen. Weshalb? Habe ich jemanden ermordet?"

Am Sonntag, dem 17. Januar, lässt das Gericht Salam und die vier anderen Rettungsschwimmer wieder frei. Gegen 10.000 Euro Kaution, mit der Auflage, das Land nicht verlassen zu dürfen und nur für die Dauer bis zur eigentlichen Gerichtsverhandlung.

Aber das - so wird Salam nicht müde immer wieder zu betonen - ist seine kleinere Sorge. "Acht Kinder starben an unserem Küstenabschnitt, während wir im Gefängnis waren. Kein einziges starb in den anderthalb Monaten zuvor, als wir da waren. Warum? Sag mir, warum! Warum mussten sie sterben? Sie hätten uns die doch retten lassen müssen." Eigentlich.