Obsessionen im Schnee: Tarantinos "The Hateful Eight"

Bild: The Weinstein Company

Eine prächtige Parabel auf Rassenkonflikte und Rassismus

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Ein Sturm kommt auf, ein eisiger Blizzard legt sich über Amerika. Nicht nur die Hölle ist eisig. In epischem Tempo erzählt Quentin Tarantino, er nimmt sich mit fast drei Stunden alle Zeit der Welt.

Beinahe drei Stunden sind vor allem beinahe drei Stunden Vorlauf zum blutig-tödlichen Showdown. "The Hateful Eight" ist aber überraschend kurzweilig, und die Zeit geht viel schneller vorbei als man denken mag.

"Sweetwater wartet auf Dich" - "Irgendeiner wartet immer."

Aus: "Spiel mir das Lied vom Tod" von Sergio Leone

Ganz zart fängt es an: Eine unberührte Schneelandschaft, langsam fährt die Kamera zurück und zeigt eine verschneiten Weg und am Wegesrand ein fast schneebedecktes Holzkruzifix. Da wird es manchen schon dämmern, dass wir es hier mit einer Passionsgeschichte zu tun haben.

Bald ist eine Postkutsche zu sehen, die durch die prachtvolle Landschaft fährt und ein Fahrer mit Cowboyhut, und spätestens jetzt wird jedem klar: Quentin Tarantinos neuer Film ist ein Western, wie vielleicht alle Filme dieses Regisseurs.

Ob das im Frankreich unter deutscher Besatzung angesiedelte Meisterwerk "Inglourious Basterds", ob der in der Gegenwart spielende "Pulp Fiction", mit dem Tarantino, der heute wichtigste Vertreter des amerikanischen Gegenwartskinos, 1994 in Cannes die Goldene Palme gewann, oder der am ehesten aus einem merkwürdigen Kinofantasiereich stammende Zweiteiler "Kill Bill" - eigentlich sind sie alle Italo-Western.

Bild: The Weinstein Company

Alle lassen mit desillusioniertem, aber nichtsdestotrotz liebevollem Blick die Mythologie des Wilden Westens noch einmal aufleben, um sie in einem letzten Abgesang in Form großer Oper und Schmerzensarien zu feiern. Prachtvolle Untergänge und Hohelieder auf das Medium Kino, Ästhetisierung der Wirklichkeit mit politischem Hintersinn, etwa der Kritik an Rassismus und Frauenfeindlichkeit - das machen alle Filme dieses seltsamen Humanisten aus. Das gilt auch für "The Hateful Eight".

Zehn kleine Negerlein

Natürlich kann man jetzt versuchen, die Handlung dieses Epos knapp zusammenzufassen: Ein von Samuel L. Jackson gespielter Kopfgeldjäger und ehemaliger Soldat der Nordstaaten im US-Bürgerkrieg trifft auf einen zweiten Kopfgeldjäger, John "The Hangman" Ruth (Kurt Russell), der in besagter Kutsche Daisy Domergue, eine von Jennifer Jason Leigh gespielte Mörderin und Schwerkriminelle, zur ihrer Hinrichtung begleitet. Gemeinsam mit einem Sherif sucht die Gruppe vor einem Schneesturm in einer Postkutschenstation Schutz.

Bild: The Weinstein Company

Dort hält sich eine Handvoll dubioser Gestalten auf, ein rassistischer Südstaatengeneral, ein Henker, der das gleiche Ziel wie die Fahrgäste hat, weil er das Urteil an der Frau zu vollstrecken hat, und andere Personen. Es scheint ziemlich klar, dass hier alle ihre Geheimnisse haben und mindestens einer von ihnen noch Anderes im Schilde führt. Acht gefährliche Menschen in einem Raum - die Spannung steigt und entlädt sich nach fast drei Stunden dann kalaschnikowartig nach dem "zehn kleine Negerlein"-Prinzip.

Aber irgendwie geht diese Beschreibung auch vollkommen an diesem Film vorbei. Denn zum einen interessiert sich dieser Regisseur platt gesagt für seine Geschichten nur am Rande. Das listige Geschichtsdrama "Inglourious Basterds" und das Sklavenbefreiungsepos "Django Unchained" waren da zuletzt eher Ausnahmen.

Es ist nicht die Geschichte dieses Films, die im Gedächtnis bleibt. Sie interessiert Tarantino nicht, darum hängt hier auch wenig zusammen, sondern vieles in der Luft. Vielleicht ist dieser Film eine Ansammlung von Story-Fragmenten oder Sketchen. Er versucht auch gar nicht, einen Zusammenhang herzustellen.

Bild: The Weinstein Company

Tarantino feiert die Form. Wie es sich für einen anspruchsvollen Autorenfilmer gehört. Dazu gehört das verschachtelte Erzählen, in Rückblicken und Perspektivwechseln, bei denen jeder neue Erzählschritt den Zuschauer der Wahrheit ein Stück näher bringt. Dazu gehören ausgefeilte Dialoge und Satzwechsel voller Schnelligkeit, voller Witz und Doppelsinn.

Und dazu gehört die Liebe zu Schauspielern, ihren Spezialitäten und Macken und die Freiheit, die dieser Regisseur ihnen gibt, ihr Können zu zeigen. Dazu gehört auch eine hochpräzise Kamerarbeit von Robert Richardson, prachtvolle Schauplätze und in diesem Fall das fast schon ausgestorbene 70 Millimeter Filmmaterial:

"The Hateful Eight" wurde auf Panavision gedreht, das zuletzt in den sechziger Jahren benutzt wurde, und dem Film einen ganz eigenen Flair gibt. Auf Initiative von Tarantino und seinen Kollegen Christopher Nolan und J.J.Abrams stellte Kodak das alte Film-Material zur Verfügung, noch dazu in Form von 600 Meter langen Filmrollen, die längere Aufnahmen am Stück ermöglichten - so ist dieser Film auch der Beleg für die Rückkehr des Analogen.

Obsessionen im Schnee: Tarantinos "The Hateful Eight" (19 Bilder)

Bild: The Weinstein Company

Digital ist nicht besser und so wie in den Musikläden Vinyl eine Wiedergeburt feiert, wird es auch dem Filmmaterial ergehen. Wer das Kino liebt, vor allem jenes Kino, das mehr ist als Inhaltismus und Fortsetzung von Literatur mit anderen Mitteln, wird sich alldem und der Faszination des Filmemachers schwer entziehen können.

Dies ist auch in einer weiteren Hinsicht wieder ein typischer Tarantino-Film: Denn der exzellente Einsatz der Musik, nicht Bilder, nicht Dialoge, ist das wahre Genie und das Geheimnis von Tarantinos Kino.

Denn Musik ist, wie das Kino selbst, Bewegung in der Zeit. Man kann sie nicht anhalten und angucken, man kann Noten stundenlang analysieren, aber ihre Wirkung liegt in dem, was man hört und spürt. Im Hier und Jetzt. "The Hateful Eight" ist wunderschön anzusehen und er ist über weite Strecken großartige Unterhaltung. Dies ist zwar nicht der beste und bestimmt nicht der geistreichste Film dieses Regisseurs. Dies ist kein großer Tarantino. Aber es ist doch ein Diskurs über Gerechtigkeit, Feminismus und den amerikanischen Bürgerkrieg.

Parabel und Obession

"Is that the way, niggers treat their ladys?" - "You ain't no dame."

"The Hateful Eight"

Immer wieder brechen die Frontlinien des Bürgerkriegs hervor, wird Rassismus und rassistische Demütigung allgegenwärtig. Tarantino erzählt Geschichten von Konföderierten, die ganze schwarze Nordstaateneinheiten massakrieren und von Schwarzen Soldaten des Nordens, die ein Haus ansteckten, das voller Südstaatler war. Tarantino eigentliches Thema ist hier der Rassismus.

"According to Yankees, it's a free country."

:ein Konföderiertengeneral, "The Hateful Eight"

Samuel L. Jacksons Figur des Schwarzen in blauer Uniform trägt einen Brief Abraham Lincolns in der Rocktasche. Der Lincoln Letter wird zum Runing Gag, da macht sich Tarantino lustig über die Lincoln-Verehrung, er zeigt zugleich das die Sklavenbefreiung zunächst nicht viel Substanz hat - mit diesen Provokationen hat der Film etwas Substantielles zur Frage der Rassenbeziehungen beizutragen.

Bild: The Weinstein Company

Wieder einmal führt uns Tarantino somit in ästhetisch erlesener Weise an Orte, an denen wir uns vielleicht nicht gern aufhalten, an denen sich aber der innere Aufenthalt auch intellektuell lohnt: "The Hateful Eight" ist in seinem Spiel mit rassistischen Klischees eine Parabel auf Rassenkonflikte und Rassismus in den USA der Gegenwart.

Vergleicht man "The Hateful Eight" mit dem anderen Schnee-Rachewestern dieses zumindest im Kino eisigen Winters, mit Innaritus "The Revenant", dann schneidet er gut ab: Denn dieser Film nimmt sich nicht ernster als nötig, trägt seine Bedeutung nicht prätentiös vor sich her. Man kann wie immer bei Tarantino die Frage stellen, ob er Gewalt verherrlicht, und man kann über unsympathische Obsessionen dieses Regisseurs streiten. Doch immerhin muss man anerkennen, dass Tarantino im Gegensatz zu anderen, seine Obsessionen nie verdrängt oder verleugnet.

Gewalt? In "Für eine Handvoll Dollar" sind am Ende rund 80 Menschen tot und ein ganzes Dorf zerstört. Hier sterben nur acht. Aber natürlich handelt der Film vom Überleben in einer auf Gewalt beruhenden Gesellschaft. Und von der Einsicht, dass dies wenn überhaupt nur mit Gewalt möglich ist - nicht mit Pazifismus. Zynismus ist das nicht, Nihilismus erst recht nicht.

Bild: The Weinstein Company

Blutrausch-Lust und Sadismus sind es aber schon überhaupt nicht. Aber eben auch kein vermeintlich "postmoderner" spielerischer Umgang mit Gewalt. Nein, Gewalt ist ernst. Nicht mehr erträglich. Keine Dialoge über Fußmassagen und Hamburger-Namen. Sondern Gewalt, die auf die Außenwelt verweist: auf das Amerika von heute.

Etwa in einem hübschen kleinen Monolog über Gerechtigkeit:

Thats what a civilized society calls justice. Without it, it's frontier justice. But what's the real difference between these two? It's me. Dispassion is the real difference between justice and murder.

Der das sagt, ist ein Henker.

Auch ein durchschnittlicher Tarantino-Film ist immer noch besser als 90 Prozent von dem, was sonst wöchentlich im Kino schnell wieder in Vergessenheit gerät. Wie alle Filme Tarantinos ist dies träumerisches Kino, voller Schönheit und Poesie, voller Liebe zur Tradition des klassischen Kinos.