Lob der Filterblase

Konsequente Abgrenzung gegen die apokalyptischen Reiter des Internets - digitales Biedermeier oder notwendiger Selbstschutz?

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Früher wurde öfter mal empfohlen, man solle doch bitte seine gewohnten Komfortzonen verlassen. Die "Magie" sei irgendwo da draußen.

Was immer daran gestimmt haben mag - im Netz gelten andere Spielregeln. Wenn außerhalb meiner Filterblase der ganz normale Wahnsinn tobt, warum sollte ich sie dann nicht nach Kräften verteidigen?

Neulich fragte mich ein Leser auf Twitter, warum es eigentlich bei all den Angeboten an "sozialen Medien" noch so etwas wie Ello brauche.Meine auf zwei Tweets verteilte Antwort lautete:

Ich umgeb mich gern mit interessanten, freundlichen Leuten, die ihre kreative Arbeit ernst nehmen. Das Versprechen der Werbefreiheit wird bis jetzt eingehalten, auch ein Plus.

Das stimmt, aber die einfachere Wahrheit lautet: Auf Ello wird so wenig geschrien. Das tut gut, denn das Geschrei hat andernorts die Lautstärke eines Presslufthammers erreicht. Oder, wie es Sascha Lobo neulich ausgedrückt hat:

Mit den sozialen Medien ist dabei eine nationale Größenordnung erreicht: Hättet ihr geschwiegen, wäret ihr weiter für potenziell zurechnungsfähig gehalten worden. Vielen Leuten bekommt das Internet einfach nicht.

Es war ja im Grunde abzusehen. 2003 sagte ich in einem Interview mit dem Webmagazin Malmoe: "Das Usenet ist mittlerweile in Teilen unbenutzbar geworden; ein düsterer, mit Glasscherben und Hundescheiße übersäter Spielplatz für Kontroll- und Hassmaniker, deren Neurosen sich gegenseitig ergänzen."

Von den "sozialen Medien" kann heute gesagt werden, dass sie in weiten Teilen Medien für Asoziale geworden sind; dass die Kontrolle weggefallen und nur noch der Hass übriggeblieben ist.

Wenn all die Judenhasser, Moslemverächter, Islamisten und Islamversteher, Durchdreher, besorgten Bürger, all die Altbackenen für Deutschland, die Esoteriker, Chemtrail-Kokainisten, CSU-National-Asozialen, grünen Bürgermeister, Hinterbänkler, Männerrechtler, Spezialdemokraten, Verschwörungsbeschwörer, SS-tätowierten Frauenbeschützer (ach, und demnächst auch wieder die Fußballteutonen); wenn all diese Stützen der Gesellschaft ihren außerhalb des Netzes schon tobenden Wahn im Netz noch einmal mit mehr Schaum vorm Mund von der Leine lassen - warum sollte ich mir so was antun?

Es gibt da das liberale Missverständnis, man solle sich dem Geschrei der Schreihälse stellen; auch mit denen, die nur brüllen könnten, sei zu reden, von Mensch zu Mensch. Das ist eine in mehrerlei Hinsicht blöde Idee. Erstens zeugt sie von einer krassen Überschätzung der Kraft des Arguments im Kontakt mit Leuten, denen Argumente egal sind. Zweitens ist der Appell an das Menschliche unattraktiv für Zeitgenossen, die lieber Orks sein wollen.

Wie heißt es so schön? "Lächle, du kannst sie nicht alle töten". Aber du kannst sie entfreunden, blocken, melden, und ihren Unfug überall dort löschen, wo du die Macht dazu hast. Ihnen ein Stück des Echoraums nehmen, den sie als Bühne brauchen. Ja, das Lob der Filterblase ist auch ein Lob der Repression. Der Autor und Netzaktivist Thorsten Küper zum Beispiel bezeichnet die "Entnazifizierung" seiner Facebook-Timeline als wichtige Routinearbeit - ich denke, man kann sich daran ein Beispiel nehmen.

Wenn nun Facebook und Twitter tatsächlich mal deutlicher gegen das Hassgestöhne vorgehen würden, wäre das die Übertragung dieser förderlichen Haltung auf ganze Netzwerke.

Natürlich muss die Filterblase erschütterbar bleiben. Auf Nachrichten aus Gagaland ganz zu verzichten und in einer goldenen Glückskugel durch all den Unrat zu rollen, wäre ja bloß eine andere Form der Verleugnungsneurose, die das Hauptangebot der Esoterik selbst ausmacht. Aber der Wunsch nach Ruhe vor den Bürgerberserkern, die derzeit verbal und tatsächlich um sich schlagen, ist vollkommen berechtigt. Das wahre Leben ist hart genug, und wir sollten möglichst viele Internet-Oasen erschaffen, wo die Dumpfbacken ihre Krakeleien nicht hinterlassen können.