Die Katholische Kirche und Missbrauch: Es nicht genau wissen wollen

Seminarkirche Hildesheim. Bild: Toksave/CC BY-SA 3.0

Sechs Jahre nach der Aufdeckung massenhaften Missbrauchs in der Kirche zeigt das Beispiel Bistum Hildesheim, wie stark bestimmte Muster vorherrschen

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Sechs Jahre nach der Aufdeckung massenhaften Missbrauchs durch Geistliche in der katholischen Kirche ist das Ausmaß der Taten noch immer nicht absehbar - und der Umgang der Kirchenleitungen mit den Überlebenden des Missbrauchs wirft weiter Fragen auf. Aktuell steht das Bistum Hildesheim im Fokus und der dort ab den achtziger Jahren arbeitende Priester Peter R., der erst als Jesuitenpater dort eingesetzt war und nach seiner Entlassung aus dem Jesuitenorden vom Bistum Hildesheim übernommen wurde.

Dass Peter R. bzw. die Kirchenleitung, die für ihn zuständig ist, noch Schlagzeilen produziert, ist erstaunlich: Denn bei Peter R. handelt es sich um einen der Haupttäter des Canisius-Kollegs, er war also einer der Geistlichen, die von Beginn des Jahres 2010 an im Visier der Medien waren. (Link auf 32039)

Außerdem haben die Jesuiten als erste Institution in der katholischen Kirche in Deutschland relativ umfassende Berichte zu den Übergriffen ihrer Patres vorgelegt; man sollte also meinen, dass wenigstens hier einiges geklärt wäre.

"Kein Missbrauch!"

Aber in einer ARD-Dokumentation vom 30.November 2015 berichtete eine junge Frau, dass sie im März 2010 zusammen mit ihrer Religionslehrerin einen Übergriff durch Peter R. beim Personalchef des Bistums Hildesheim gemeldet hat. Obwohl die Tat damals noch nicht verjährt war, hat das Bistum erst Ende 2010 Peter R. bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, nachdem die Großeltern der jungen Frau noch einmal beim Bistum vorgesprochen haben.

Die Erklärung des Personalchefs und damaligen Missbrauchsbeauftragten, Heinz-Günter Bongartz: Was das Mädchen im März beschrieben habe, sei kein sexueller Übergriff gewesen und deswegen hätte er es nicht als Missbrauch einstufen können.

Und der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle sprang Bongartz bei, indem er meinte, Wangenküsse zur Begrüßung seien doch unter Jugendlichen heute gang und gäbe. Von Wangenküssen zur Begrüßung war freilich nicht die Rede.

Selbst in dem stark zusammenfassende Protokoll, das der Personalchef gegen die eigenen Richtlinien nicht von den beiden Anwesenden unterschreiben ließ, kann man lesen: Das damals 14-jährige Mädchen habe berichtet, dass es vor eineinhalb Jahren bei Peter R., einem Freund ihrer Großeltern, übernachtet habe. Bei der Übernachtung im selben Raum sei ihr R. nahe gekommen und habe sie auf die Wange geküsst. Außerdem habe R. immer wieder Situationen herbeigeführt, in denen er mit ihr allein gewesen und aufdringlich geworden sei. Und er habe ihr wiederholt große Geschenke gemacht (Spiegelreflexkamera).

Bongartz, der inzwischen Weihbischof in Hildesheim ist, musste sich belehren lassen, dass selbst die beschriebenen Handlungen schon Formen sexualisierter Gewalt seien. Ursula Enders, Leiterin von Zartbitter Köln, einer Kontaktstelle gegen sexuellen Missbrauch an Kindern, erklärte:

Das Protokoll enthält ganz klar klassische Hinweise auf Täterstrategien. Jeder Täter steigert seine Handlungen und bereitet massivere vor.

Dem Hildesheimer Bistum wirft sie Versagen vor:

Ein Bistum, dass so eindeutige Hinweise nicht wahrnimmt und bagatellisiert, vertuscht die Gewalt, die ein Priester gegenüber einem Mädchen verübt hat.

Fehlte dem Missbrauchsbeauftragten nur die Kompetenz zu erkennen, wo Missbrauch beginnt? Wohl kaum: Peter R. war ja für Bongartz kein Unbekannter, außerdem ist das Protokoll mit "Ablage: Missbrauch 2010" überschrieben. Wenn man sich anschaut, wie in Hildesheim mit Missbrauchsvorwürfen umgegangen wurde, dann erkennt man: Die Verteidigung, von Missbrauch sei keine Rede gewesen, ist ein wiederkehrendes Muster.

Ein Muster, das nicht zuletzt deswegen problematisch ist, weil es diejenigen, die Missbrauch anzeigen, verantwortlich macht für das Nicht-Handeln der Institution: Hättet Ihr deutlicher gesagt, was Sache ist, dann hätten wir ja gehandelt. Statt eigenes Versagen zuzugeben, werden die Opfer des Missbrauchs erneut gedemütigt.

Peter R. und das Bistum Hildesheim

Die Zeit von Peter R. als Jesuitenpater ist in dem Bericht der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer über Missbrauch durch Jesuiten aufbereitet: Danach arbeitete der Jesuitenpater Peter R. seit 1982 als Dekanatsjugendseelsorger in Göttingen, also im Bereich des Bistums Hildesheim. Vom Berliner Canisius-Kolleg war er zuvor versetzt worden, weil es dort Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe gab.

Damals dachte noch niemand der Ordensverantwortlichen daran, dass man Peter R. besser nicht mit Jugendlichen arbeiten lässt. Als der damalige Jesuitenprovinzial Alfons Höfer im Jahr 1989 auch aus Göttingen Vorwürfe über "unangemessene Annäherungen" erhielt - so die Formulierung im Fischer-Bericht - bestand er auf einer Versetzung von Peter R.. Zudem erkundigte sich Höfer in Berlin, was dort gegen R. vorlag und hörte von "massiven homosexuellen Kontakte mit ihm anbefohlenen minderjährigen Jungen".

Peter R., der alle Vorwürfe bestritt und von seinem Vorgesetzten enttäuscht war, wünschte eine Auszeit vom Orden, die ihm gewährt wurde. Parallel hat das Bistum Hildesheim sich bereit erklärt, R. in seinen Dienst zu nehmen. Nun schreibt Andrea Fischer:

Bischof Homeyer war über die Vorwürfe gegen Pater Anton informiert und untersagte ihm ausdrücklich die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, er wurde als Pfarrer in einer Gemeinde in Hildesheim eingesetzt.

Interessant ist, dass Alfons Höfer in einer Erklärung aus dem Jahr 2010 schreibt:

Die Diözese Hildesheim wurde von mir darauf hingewiesen, dass ich einen Einsatz von Peter R. in der Jugendarbeit für unverantwortbar hielt.

Diese Formulierung besagt nicht, dass er den damaligen Hildesheimer Bischof Josef Homeyer über die Vorwürfe gegen R. informierte. Die Formulierung deckt sich aber mit einem Schreiben, das Höfer im Juli 1989 an Bischof Homeyer geschickt hat:

Herrn Prälat Holst habe ich die Gründe für die Ablösung von P. R. angedeutet. Die Fakten, die zu dieser Entscheidung führten, haben weder P. R. noch die betroffenen Jugendlichen geleugnet. Gleich welche Interpretation man diesen Fakten unterlegt, halte ich es für nicht verantwortlich, P. R. weiter in der Jugendarbeit einzusetzen. Es ist möglich, dass P. R. aufgrund meiner Entscheidung um Exklaustration aus dem Orden und zeitweilige Aufnahme in Ihr Bistum bitten wird. Einer pastoralen Tätigkeit in einer Pfarrei oder in anderen Bereichen - ausgenommen Jugendarbeit - würde ich durchaus befürworten.

Man kann nicht behaupten, dass der Jesuit hier klar gesagt hätte, dass es Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegenüber Peter R. gab. Wenn man bei dem nachfragt, demgegenüber "Andeutungen" gemacht wurden, nämlich dem damaligen Personalchef und Missbrauchsbeauftragten Werner Holst, dann sagt der, er und der inzwischen verstorbene Bischof Homeyer hätten von den Jesuiten nichts von den gegen Peter R. vorliegenden Vorwürfen erfahren:

"Hätten wir das gewusst, hätten wir ihn nicht übernommen", ist sich Holst heute sicher. Man kann fragen, ob Höfer, der eine pastorale Arbeit von Peter R. "durchaus befürwortet", auch deswegen nicht deutlicher wurde, weil er den Problem-Bruder gerne loswerden wollte. Freilich kann man sich auch wundern, warum nach dem oben zitierten Brief keiner der Hildesheimer Verantwortlichen auf die Idee gekommen ist, bei Höfer Genaueres zu erfragen.

Keine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?

Ob Peter R. für seine Arbeit in der Hildesheimer Gemeinde wirklich die Auflage erhalten hat, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, wie im Fischer-Bericht gesagt, kann nicht mehr überprüft werden. Holst erinnert sich, dass so eine Anweisung nichts mit Pädophilie zu tun gehabt hätte, Peter R. hätte besser mit Obdachlosen arbeiten können. Dies war ein Teil seiner Arbeit in der Hildesheimer Gemeinde.

Die Pressestelle des Bistums gibt die Auskunft, dass Peter R. vermutlich die Auflage gemacht wurde, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Aber: "Unterlagen darüber liegen in der Personalakte von Peter R. nicht vor." Eine befremdliche Lücke. Oder ist ihm die Auflage, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, eben doch nicht gemacht worden?

Kontinuierliches Wegschauen

Selbst wenn die Hildesheimer Verantwortlichen nichts von den Vorwürfen gegen Peter R. aus Berlin und Göttingen erfahren haben sollten: Ende 1993 beschwerte sich eine Mutter bei Bischof Homeyer, dass Peter R. sich ihrer Tochter und zwei weiteren Mädchen auf einer Freizeit unangemessen genähert habe.

Wenn es eine Auflage gab, nicht mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, wurde die offensichtlich nicht streng überwacht: Wie auch, wenn der Priester in einer normalen Pfarrei arbeitet, wo der Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zum normalen Betrieb eines Pfarrers gehört?

Der ehemalige Personalchef und Missbrauchsbeauftragte Holst berichtet nun, dieser Fall sei an den Jesuitenprovinzial weitergeleitet worden, er habe in der Sache nicht weiter recherchieren können. Peter R.'s Auszeit beim Orden war aufgehoben worden und er war zu dem Zeitpunkt wieder volles Ordensmitglied. Die Pressestelle ergänzt:

Aus den Akten der Personalabteilung geht nicht hervor, wie das Bistum in dieser Sache vorgegangen ist.

Hat man sich dafür gar nicht interessiert? Oder eine Lücke in der Akte? Ein Gespräch mit der briefschreibenden Mutter und ihrer Tochter, so die Pressestelle weiter, sei nicht möglich gewesen, weil die sich Ende 1993 in ihrem Heimatland Mexiko aufgehalten habe.

Die Jesuitenoberen nahmen diesen neuerlichen Vorfall zum Anlass, Peter R. das Verlassen des Ordens nahezulegen; so kam es auch. Das Bistum Hildesheim hat daraufhin R. endgültig als eigenen Priester übernommen. Die Entlassung aus dem Orden, habe er nicht in Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen gesehen, sagt Werner Holst heute. Von Missbrauch war - schon damals - nicht die Rede. Offensichtlich hat man sich für die, die diesbezüglich Vorwürfe erhoben, auch nicht sonderlich interessiert.