"Struktur jenseits des demokratischen Systems"

Jürgen Roth propagiert in seinem neuen Buch einen "tiefen Staat" in Deutschland

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Der Ausdruck "tiefer Staat" entstand in den 1990er Jahren in der Türkei und bezeichnet ein geheimes Netzwerk aus Politik, Verwaltung, Justiz, Militär und Extremisten, das manche Beobachter als Teil der Stay-Behind-Strukturen in den NATO-Staaten einordnen. Der bekannte Enthüllungsjournalist Jürgen Roth wendet diesen Ausdruck in seinem gleichnamigen neuen Buch auch auf Deutschland an.

Herr Roth, welche Anhaltspunkte gibt es für die Existenz eines "tiefen Staates" in Deutschland?

Jürgen Roth: Das hängt davon ab was Sie unter "tiefem Staat" verstehen. Es geht mir nicht um eine der vielen in Deutschland herumschwirrenden Verschwörungstheorien, wonach irgendwelche fremden geheimen Mächte, wechselweise die USA, Israel oder Russland eine unkontrollierbare Herrschaft über uns armen Bürger ausüben. Ich beschreibe den "tiefen Staat", so wie er sich heute in Deutschland wie in Europa präsentiert, als eine Struktur jenseits des demokratischen Systems, ohne demokratische Legitimation und ohne parlamentarische Kontrolle. Dazu zähle ich nicht nur Teile von Geheimdiensten oder privaten Sicherheitsunternehmen, sondern auch multinationale Konzerne und Banken. Daher spreche ich auch vom Staat im Staat.

Dazu zählt die direkte Einflussnahme kapitalstarker Lobbyorganisationen auf parlamentarische Entscheidungen. Innerhalb dieser Strukturen spielten und spielen bis zum heutigen Tag prinzipiell nationalkonservative Politiker und rechtsextreme Parteien und Organisationen eine zentrale Rolle sowie im Hintergrund rechtsradikale Terroristen. Diese Strukturen sind seit den fünfziger Jahren eigentlich bekannt und hatten beziehungsweise haben ein gemeinsames Ziel: die erstarkende demokratische liberale Zivilgesellschaft zu zerschlagen während gleichzeitig der Kapitalismus von seinen politischen sozialen und moralischen Auflagen befreit wird.

Können Sie diese Entwicklung erklären?

Jürgen Roth: Fakt ist, dass in zentralen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates Deutschland bis weit in die Achtzigerjahre hinein ein autoritärer und völkischer, teilweise von der NS-Ideologie durchtränkter Geist herrschte, vor allem innerhalb der Verwaltung, der Justiz und der Sicherheitsbehörden. Das betrifft die alte Bundesrepublik. Und dieser Geist lebt in Krisensituationen wieder auf. Wir verdrängen ja gerne die jüngere Geschichte.

Entsprechend offensichtlich sind auch heute noch die Anhaltspunkte, nach denen Sie eingangs gefragt haben. Zum Beispiel was die Kooperation von Rechtsextremisten und Rechtspopulisten mit Teilen der deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere dem Nachrichtendienst angeht. Ich beschreibe das konkret am Beispiel Thüringen und insbesondere dem Freistaat Sachsen, wo Teile der Sicherheitsbehörden in der jüngeren Vergangenheit rechtsradikale Organisationen gefördert haben und gleichzeitig linke, systemkritische Bewegungen kriminalisierten, beziehungsweise es immer noch tun. Und besonders abwegig ist der Verdacht nicht, dass Terrorwarnungen von Nachrichtendiensten dazu dienen, die Bevölkerung zu verunsichern, Panik auszulösen, um dafür einen starken Sicherheitsstaat zu installieren.

Jürgen Roth. Foto: privat

Wie viele Geheimarmeen könnten hier existieren, beziehungsweise existiert haben?

Jürgen Roth: Von Geheimarmeen heute würde ich nicht reden. Unbestritten ist, dass es eine Geheimorganisation gab, die sich jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen hatte und von nationalen Geheimdiensten, in Zusammenarbeit mit der NATO, geleitet wurde. Die Rede ist von Gladio. Sie bestand aus Militär, Geheimdiensten, klerikal-rechtsnationalen Politikern und rechten Terroristen. Sie wurde mit blutigen Terrorakten in Verbindung gebracht, konnte illegal in das politische Leben demokratischer Staaten eingreifen und könnte es heute noch. Sie operierte außerhalb jeglicher Legalität und entwickelte gefährliche Angriffskapazitäten gegen demokratische Strukturen. Das ist keine Verschwörungstheorie von mir, sondern so steht es in einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22. November 1990.

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