Litauen: "Was denkst Du eigentlich, wer Du bist?"

Ruta Vanagaite greift in ihrem Buch die Judenverfolgung in Litauen auf und stellt eine Verbindung zu IS-Teenagern her

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"Unsere" (Mūsiškiai) heißt eine Dokumentation in Litauen, die von sich reden macht, wie seit Jahren kein Buch. Und gerade das Selbstreferentielle des am 26. Januar vorgestellten Buchs macht den Skandal aus.

Das Werk der populären Theaterautorin Ruta Vanagaite berührt nicht nur das dunkle Kapitel der Judenverfolgung in Litauen zwischen 1941 und 1944, sondern es schlägt auch den Bogen in die Jetztzeit und stellt eine provokante Frage.

"Warum sollen wir IS-Teenager verurteilen, wenn vor 75 Jahren unsere Teenager nach der Schule Menschen erschossen haben?", fragt die 56-Jährige.

In der Zeit der deutschen Besatzung wurden fast alle der 215.000 litauischen Juden mit der Hilfe eines Teils der litauischen Bevölkerung ermordet. Die Haupttäter seien junge litauische Männer gewesen, oft im Teenager-Alter, die Juden vor allem 1941 in die Wälder führten und exekutierten. Kurz nach dem deutschen Einmarsch sollen 4.000 Juden durch litauische Hand ermordet worden sein.

Das sozialdemokratisch regierte Litauen nimmt im Rahmen des EU-Abkommens 1.105 Flüchtlinge auf, verweigert sich jedoch Gesprächen über eine Erhöhung der zugesagten Zahl. In der Bevölkerung gibt es große Ängste, dass radikale Islamisten einwandern könnten. Der Vergleich mit den Islamisten kommt darum ungut an.

Meist wird Vanagaite mit Sätzen in den Social Media wie "Was denkst Du eigentlich, wer Du bist?" angegangen. Ihre Antwort: Sie sei typische Litauerin, ohne jüdische Wurzeln, wohl jedoch mit Angehörigen, die vermutlich in Pogromen verstrickt waren.

Wenn auch der Holocaust in Litauen wissenschaftlich bearbeitet ist, so gilt das Bekennen von familiären Verstrickungen in der Öffentlichkeit weiter als Tabubruch. Ein Teil der Verwandtschaft hat darum mit ihr gebrochen. Auch ihre Zusammenarbeit mit Efraim Zuroff, dem als "Nazijäger" bekannten Direktor des Simon Wiesenthal Centers, wird ihr ungünstig ausgelegt.

Allgemein gilt in Litauen die deutsche Besatzung auch heute noch als weniger schlimm als die sowjetische. Da die deutschen Truppen im Sommer 1941 die sowjetische Okkupation beendeten, wurden sie von vielen patriotischen Litauern als Befreier begrüßt. Juden, die sich sprachlich durch ihr Jiddisch unterschieden, standen bei dem Gros der Litauer als Kollaborateure mit den Sowjets unter Generalverdacht. Die jüdische Bevölkerung wurde von deutschen Erschießungskommandos und litauischen Freiwilligen ermordet, ein Teil in Arbeitslager deportiert, nur etwa 10 000 konnten flüchten oder sich verbergen.

Die Sowjetunion wollte nach der Rückeroberung Litauens die Juden nicht als besondere Opfergruppe hervorheben. Nach der Unabhängigkeit 1991 standen die Verbrechen der kommunistischen Herrschaft im Vordergrund, die Pogrome an den Juden widersprachen auch der "historischen Opferrolle, in der sich viele Litauer sahen, unterdrückt von deutschen Ordensrittern, Polen und Russen", schreibt die litauische Wochenzeitung "15 Minuten".

Obwohl heute kaum Juden in Litauen lebten, sei der Antisemitismus, so die Autorin, immer noch weit verbreitet, "Jude" werde zumeist mit "Kommunist" gleich gesetzt. Ihr Buch sei darum als "Antiserum" zu verstehen. Auch sei sie bei ihren Recherchereisen vielen Menschen begegnet, die große Angst vor dem Thema hatten und sich nicht zitieren ließen.

Eine internationale Debatte wolle sie jedoch nicht. "Das Buch ist für Litauen und seine inneren Angelegenheiten. Ich will nicht das eigene Nest beschmutzen." Mit diesen Worten kanzelt sie die vielen Interviewanfragen russischer Journalisten ab.

Litauen gilt im Kreml als Gegner, da das Land sich angesichts der Ukraine-Krise besonders engagiert für Sanktionen gegen Russland einsetzt. Doch die Diskussionen in Russland sowie im weiteren Ausland lassen sich selbstverständlich nicht verhindern - was wiederum in den litauischen Zeitungen kolportiert wird.