"Hast Du Dich gesehen, Du Affe?" - Rumble in the Jungle in Calais

Afghanen-Shop im Jungle. Foto: B. Schmid

Die informellen Flüchtlingscamps an der Küste des Ärmelkanals werden zu einem europäischen Problem

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Frankreich, Großbritannien, Belgien: Die Sache scheint dabei, zu einem europäischen Problem zu werden. "Die Sache" - es geht dabei um die Präsenz wachsender informeller Flüchtlingscamps an der Küste des Ärmelkanals. Der so genannte "Jungle" in Calais ist nur das mit Abstand bekannteste davon. Ein Problem, das erst durch die Politik der Grenzschließung für "Unerwünschte", deren menschliche Präsenz sich jedoch nicht wegzaubern lässt, überhaupt entstanden ist.

Ein paar Schlaglichter: Der belgische Premierminister Charles Michel, der am Montag dieser Woche in Brüssel mit seinem Amtskollegen aus Frankreich, Manuel Valls, zusammentraf, gab im Vorfeld der französischen Presse ein längeres Interview. In dem Interview wie auch bei den bilateralen Gesprächen wird die Flüchtlingsthematik, mit Bezug auf die Migrantencamps am Ärmelkanal, munter mit der Terrorismusproblematik vermischt.

Die französische Staatsspitze kritisierte Belgien für den in der Vergangenheit eher laxen Umgang mit Dschihadisten im Brüsseler Stadtteil Molenbeek, der ein echtes Problem darstellte - und Charles Michel forderte die Franzosen im Gegenzug dazu auf, ihm die Flüchtlingscamps am Kanal vom Leib zu halten.

Auch sonst gab es zwischenstaatliche Verwicklungen. Ein britischer Staatsbürger, Rob Lawrie, der ein vierjähriges afghanisches Mädchen aus dem Calaiser "Jungle" zu Familienangehörigen nach England zu bringen versuchte, wurde dafür in Frankreich Strafverfolgungsmaßnahmen unterzogen. Ihm drohten theoretisch bis zu vier Jahre Haft, wegen "Beihilfe zu illegaler Migration". Im Dezember unternahm er vor diesem Hintergrund einen Suizidversuch.

Unterdessen kursierten Petitionen für den 49-jährigen früheren Soldaten auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Bei seinem Prozess Mitte Januar dieses Jahres, der unter dann doch breiter Anteilnahme der Öffentlichkeit stattfand, wurde er in Boulogne-sur-Mer zu einer milden Strafe in Form einer Geldbuße auf Bewährung verurteilt.

Am 21. Januar wurde ferner ein britisches Gerichtsurteil bekannt, das es erstmals vier in Calais festsitzenden Minderjährigen erlaubt, zu ihren in England lebenden Familien einzureisen. Diese Entscheidung hat bislang einen Ausnahmestatus, doch hängen noch viele Teenager und junge Heranwachsende am Ärmelkanal fest, obwohl sie derzeit nur ein Ziel im Kopf haben: diesen irgendwie zu überqueren. An Bord einer Fähre, im Bauch eines Schiffes, in einem LKW versteckt oder auch durch einen Fußmarsch im "Eurotunnel", durch den der Hochgeschwindigkeitszug von Paris nach London braust. Einzelne schafften es, doch wurde seitdem der Eingangsbereich zum Tunnel auf französischer Seite unter Wasser gesetzt.

Was ist der "Jungle"?

Menschen aus Syrien und dem Irak, aus Afghanistan, aus dem Sudan oder zum Teil aus Eritrea träumen eher von einem neuen Leben in England, als dass sie in Festlandeuropa Zuflucht suchen würden. Auch in Frankreich wären sie selbst aus Sicht des herrschenden Rechtsverständnisses in aller Regel asylberechtigt.

Doch aus verschiedenen Gründen sehen sie ihre Zukunft viel eher auf britischem Boden: Weil sie aus Kolonien der Krone kommen und Englisch sprechen, aufgrund der Präsenz von Familienmitgliedern dort oder aufgrund eines relativ durchlässigen Arbeitsmarkts - auch wenn Lohnabhängige dort vergleichsweise rechtlos sind, schaffen auch "illegale" Migranten es dort immerhin leichter, überhaupt einen Job zu bekommen.

Zwei junge Männer im Jungle erklären mir etwa auf Arabisch, sie seien Kuwait bidoun, also Staatenlose aus dem Emirat Kuwait, denen in dem extrem elitär aufgebauten Rechtssystem der Golfmonarchie die Staatsangehörigkeit verweigert wird, obwohl ihre Familien seit Generationen dort ansässig waren. Eine Zukunft sehen sie für sich nur in England: Aus Frankreich haben sie Negatives vom Anerkennungsverfahren gehört, und als Abkömmlinge einer früheren britischen Kolonie haben sie Kenntnisse von der Sprache Shakespeares - nicht von jener Molières.

"Haus Kuweit". Foto: B. Schmid

Auch die harte französische Anerkennungspraxis im Asylverfahren, die noch niedriger liegt als in Deutschland, schreckt viele von einem Antrag auf Anerkennung als Flüchtling in Frankreich ab. Die globale Anerkennungsquote des OFPRA, des Pendants zum deutschen Bundesamt für Migration, lag bis vor kurzem bei rund 18 Prozent, aufgrund der syrischen Flüchtlinge stieg sie um etwa fünf Prozentpunkte. Der "Nationale Asyl-Gerichtshof" (die CNDA) als einzige Berufungsinstanz rettet seinerseits noch ein paar weitere Prozent unter den Flüchtlingen, doch insgesamt kommt die Quote nicht über dreißig Prozent hinaus.

Vor fünfzehn Jahren unterhielt das Rote Kreuz ein großes, fast 2.000 Menschen umfassendes Camp mit sanitären Einrichtungen in Sangatte, einige Kilometer westlich von Calais, um das Stadtgebiet zu entlasten.

Denn zuvor waren innerstädtische Flächen rund um das Rathaus von der, an solch zentralen Orten besonders sichtbaren Präsenz von Flüchtlingen - damals eher Kurden - geprägt gewesen. Damals war es auch noch relativ einfach möglich, in einem LKW oder auf einem Schiff bis nach England mitgenommen zu werden. Die damaligen Innenminister auf französischer und britischer Seite, Nicolas Sarkozy und Jack Straw, ordneten im November 2002 die ersatzlose Schließung des Lagers an. Es ging darum, einen Autoritätsbeweis durchzuführen und Flüchtlingen zu signalisieren, dass unkontrollierte Durchreise nicht akzeptiert wird.

Daraufhin bildeten sich bereits damals als Jungles (im Plural) bezeichnete, "illegale" Camps in den Wäldern rund um Calais. In den letzten Jahren wurden auch sie nacheinander geräumt. Und so entstand aus vielen kleinen "Dschungeln" ein größerer, mit derzeit rund 5.500 Einwohnerinnen und Einwohner. Auch in La Grande-Synthe in der Nähe von Dunkerque, rund dreißig Kilometer weiter östlich, leben nochmals rund 2.000 Menschen in einem ähnlichen Camp. Unterdessen wird das Übersetzen über den Ärmelkanal immer schwieriger und unwahrscheinlicher, etwa aufgrund von Infrarotkameras und Detektoren, mit denen eine menschliche Präsenz in den Fahrzeugen aufgespürt wird, bevor sie auf die Autofähren auffahren dürfen.

"Früher schafften es vielleicht 150 Menschen pro Nacht, nach England durchzukommen. Heute sollen es noch vier oder fünf sein", meint Jean-Pierre, der als freiwilliger Aktivist seit bald zwanzig Jahren die Situation vor Ort verfolgt und oft aus Paris hierherfährt. Entsprechend wächst und wächst der "Dschungel" von Calais. Hin und wieder versuchen es die Betreffenden dann mit Massenanstürmen auf LKWs, wie am 17. Dezember vergangenen Jahres mit über 1 000 beteiligten Menschen .

Mehrere Einkaufsstraßen mit Dutzenden von Läden: So stellt sich der "Jungle" dem Besucher dar. Es gibt Restaurants, meist mit afghanischer Küche, und Brotbackstuben. Es existiert auch mindestens eine Kirche, gut erkennbar, mit zwei Kuppeldächern aus Wellblech und Kreuzen obendrauf, ein riesiges Schild mit äthiopischer Schrift steht davor.

Neubauten. Foto: B. Schmid

Soeben wurden jedoch eine weitere - evangelikal ausgerichtete - Kirche sowie eine Moschee durch Bulldozer, die die französische Staatsmacht zur "Eindämmung" des Camps geschickt hatte, plattgemacht. Dies führt zu empörten Reaktionen etwa auf muslimischen Webseiten wegen der zerstörten Moschee - aber auch auf rechtsextremen christlichen wegen des geschändeten Kirchenbaus.

Es gibt auch eine Schule mit Sprachkursen für Englisch und Französisch, ein Handwerksatelier mit Ausbildungsstätte, ein Theater und eine Künstlerecke. Dazwischen Zelte in grünen, blauen und schwarzen Plastikplanen, zwischendrin auch einzelne befestigte Holzhäuser. Geteerte Straßen, Hausnummern oder offizielle Adressen, das würde man hier vergeblich suchen. Die meisten Menschen betrachten ihre Behausung hier ohnehin nur als Provisorium, denn ihre wichtigste Hoffnung besteht darin, in naher Zukunft schon wieder weg zu sein. Drüben zu sein: drüben auf den britischen Inseln.