"Beginn eines instabileren Zeitalters"

Mit der Hilfe von russischen Luftangriffen haben syrischen Verbände Aleppo weitgehend eingekesselt und den Rebellen die Versorgungverbindungen abgeschnitten. Bild: Russisches Verteidigungsministerium

Der Vorbericht für die Sicherheitskonferenz in München spricht von endlosen Krisen und hilflosen Politikern, was sich gerade in und um Syrien beobachten lässt

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Es naht die Sicherheitskonferenz in München, was wieder auch die Zeit ist, dass die Regierung die Verantwortung im Ausland, die Stärkung der Nato, Bundeswehreinsätze und neue Rüstungsanstrengungen thematisiert. Der Vorsitzende Wolfgang Ischinger gab in einer Pressekonferenz bekannt, dass der Krieg in Syrien und die Lage im Nahen und Mittleren Osten zentrales Thema der Konferenz sein werden. Um für die Konferenz zu werben, schrieb Ischinger mal wieder einen düsteren Text für den Atlantic Council:

Der Nebel der Unordnung verdichtet sich. Konflikte werden zunehmend maß- und grenzenlos. Und die Ordnungswächter sind überwältigt und leisten nicht genug.

Ischinger

Die Bundesregierung hatte sich schon für die Sicherheitskonferenz präpariert, nicht zum ersten Mal: Wir sind die Guten, Bundesregierung preist den "öffentlichkeitswirksamen Charakter" der Sicherheitskonferenz. Gerade wurde beschlossen, die Missionen in Mali und im Nordirak zu verstärken, in Afghanistan wird die Bundeswehr länger bleiben, schon auch deswegen, um auch Flüchtlinge abweisen und abschieben zu können. Erwogen wird von der Bundesverteidigungsministerin ein militärischer Einsatz in Libyen, wo sich der IS ausbreitet und von wo ab dem Frühjahr ein neuer Flüchtlingsstrom Richtung Italien aufbrechen könnte.

Mit der Hilfe von russischen Luftangriffen haben syrischen Verbände Aleppo weitgehend eingekesselt und den Rebellen die Versorgungverbindungen abgeschnitten. Bild: Russisches Verteidigungsministerium

Zudem kracht es zwischen der Türkei und den USA sowie der EU wegen der Kurden (Erdoğan: "Bin ich euer Verbündeter oder die Terroristen von Kobanê?"), während der von russischen Kampfflugzeugen unterstützte Vormarsch der syrischen Armee schon wieder eine neue Flüchtlingswelle verursacht hat, die die EU vor ein Dilemma stellt: Soll sie die Türkei aus humanitären Gründen drängen, die Grenze für weitere zehntausende syrische Flüchtlinge zu öffnen oder darauf dringen, dass sie in Syrien bleiben, um nicht selbst neue Flüchtlinge aufnehmen zu müssen?

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat der türkischen Regierung gestern vorgeworfen, sich nicht nur gegenüber den an der Grenze zu Syrien im Freien und in der Kälte ausharrenden syrischen Flüchtlingen aus Aleppo inhuman zu verhalten: "Auch die syrischen Flüchtlinge, die jetzt in der kurdischen Region Afrin im äußersten Nordwesten Syriens Zuflucht finden, sowie die dort ansässige Bevölkerung kommen in große Schwierigkeiten, weil die Türkei noch immer keinen Grenzübergang für die Versorgung der Menschen dort geöffnet hat." In Afrin sollen sich bis zu 300.000 Flüchtlinge aufhalten.

Offensichtlich wird auch die Ratlosigkeit von Nato/USA/EU gegenüber dem russischen Vorgehen, das offenbar alle syrischen Rebellen mit Ausnahme der Kurden zum Ziel hat. Damit wird vorerst eine Einigung über eine politische Lösung noch schwieriger, Moskau, Damaskus und Iran wollen offenbar für Verhandlungen unhintergehbare Fakten schaffen. Offenbar arbeiten die syrischen und russischen Streitkräfte dabei auch mit den kurdischen YPG zusammen. Angeblich sind bei Aleppo YPG-Kämpfer in Dörfer vorgerückt, die bislang von anderen Rebellengruppen kontrolliert wurden.

Kritisch wird es vor allem dann, wenn die YPG die Gelegenheit nutzt, wie geplant gegen den IS aus Dscharablus vorzugehen, um so das Kurdengebiet entlang der türkischen Grenze zu vergrößern und den Korridor, der es von Afrin trennt, zu schließen. Damit wäre für die Türkei eine "rote Linie" überschritten und die Region könnte mit einem türkischen Eingreifen noch mehr in Flammen aufgehen. Die Nähe zu Moskau besiegelt auch, dass das erste Büro der YPG im Ausland heute in Moskau eröffnet werden soll.

Derweil scheinen die irakischen Streitkräfte den lange geplanten Angriff auf Mosul vorzubereiten. Einige tausend Soldaten sollen demnächst in die Nähe von Mosul verlegt werden. Der irakische Verteidigungsminister Khaled al-Obaidi kündigte an, der Angriff werde schneller erfolgen, als dies der IS erwarte, nämlich noch in der ersten Hälfte des Jahres. Man habe auch neue Waffen, die den IS "schockieren" werde. Auch Peschmerga-Einheiten sind vorgesehen, tausende Kämpfer wurden bereits im Stadtkrieg geschult, sind aber nicht so willens, sich in den Kampf hineinziehen zu lassen. Wenn Mosul so ähnlich erobert werden soll wie Ramadi, ist nicht nur mit einer zerstörten Großstadt, sondern auch mit der nächsten Flüchtlingswelle zu rechnen.

Kobane ist noch immer weitgehend zerstört. Bild: YPG

Bei seiner Begegnung mit der deutschen Bundeskanzlerin sagte der türkische Regierungschef Ahmet Davutoğlu mit Blick auf das nahezu eingeschlossene Aleppo: "Wir befinden uns am Abgrund einer neuen menschlichen Tragödie." Merkel bekundete ihren Schrecken über das Leiden für Zehntausende von Menschen, für das sie primär die Russen verantwortlich machte:

Kanzlerin #Merkel: Sind entsetzt über menschliches Leid, das auch durch russische Bombenangriffe in Syrien entstanden ist.Regierungssprecher Seibert

Zur Bekämpfung der Schlepper wird nicht nur der Einsatz der türkischen Küstenwache und von Frontex erwogen, Deutschland denkt offenbar auch an einen Nato-Einsatz. Die türkische und die deutsche Regierungen wollen nun gemeinsam auf die Einhaltung der UN-Resolution dringen, die alle Seiten aufruft, Angriffe auf Zivilisten sofort einzustellen.

Unterdessen gehen die türkische Sicherheitskräfte weiter mit aller Härte gegen die Kurden im eigenen Land und im Nordirak vor. Während Russland ins Visier genommen wird, bleibt Merkel gegenüber der türkischen Regierung hier bei ihrer Linie, jede Kritik zurückzuhalten, um ihr primäres Ziel der Begrenzung der Flüchtlingszahlen mithilfe der Türkei zu bewerkstelligen - auch um den Preis, sehenden Auges neue Instabilität und neue Fluchtursachen zu schaffen. Und wenn der türkische Regierungschef ankündigt, Schlepper als Terroristen zu behandeln, sollte auch eine deutsche Bundeskanzlerin in einem Land aufhorchen, in dem der Rechtsstaat ausgehöhlt wird.

Bekanntlich bezeichnet die türkische Regierung alle von den Sicherheitskräften getöteten Menschen als "PKK-Terroristen". Nach der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) sind bislang mindesten 240 Zivilisten, darunter mehr als 40 Kinder, getötet worden. Civaka Azad berichtete gestern, was allerdings wegen des verhängten Ausnahmezustands, der Mediensperre und dem Fehlen von unabhängigen Beobachtern nicht nachprüfbar ist:

Der HDP-Abgeordnete Faysal Sariyildiz berichtet der Nachrichtenagentur Firat (ANF), dass in einem Keller in Cizîr bis zu 30 völlig ausgebrannte Leichname entdeckt worden seien. 'Aus einem zweiten Gebäude hatten wir die Meldung erhalten, dass eine Vielzahl von Menschen, darunter auch Verletzte, festsitzen. Auch hier erreichen uns Meldungen, dass rund ein Dutzend von ihnen ermordet worden sind', so Sariyildiz. Der HDP-Abgeordnete spricht von einem der größten Massaker der letzten Jahre.

Auf einer aktuellen Presseerklärung (Stand 08. Februar 12 Uhr) erklärte der Co-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Regionen (DBP), Kamuran Yüksek, dass wohl beide Wohnhäuser, in denen die Verletzten sich befunden haben, erstürmt worden seien. Ohne eine genaue Zahl nennen zu können, berichtet Yüksek, dass das Gesundheitspersonal von Dutzenden Toten spricht. Am Sonntagabend berichtete das türkische Staatsfernsehen TRT, dass "60 Terroristen außer Gefecht gesetzt worden sind". Am heutigen Morgen wurde diese Zahl nicht mehr bestätigt.

Civaka Azad