Erdogan darf mit dem Schicksal der Flüchtlinge nicht spielen

Während die türkische Regierung zehntausende syrische Flüchtlinge vor der Grenze warten lässt, nimmt die von Kurden kontrollierte Region Afrin syrische Flüchtlinge auf

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Auch wenn die türkische Regierung bereits 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge ins Land gelassen hat, verhält sich die islamistische Regierung in Ankara gegenüber syrischen Flüchtlingen zurzeit unmenschlich. Für die Aufnahme von hunderttausenden syrischen und anderen Flüchtlingen gilt unser Dank vor allem den Menschen in der Türkei und nicht der Politik des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Denn diese Politik trägt maßgeblich dazu bei, dass keine für alle Parteien des syrischen Bürgerkrieges annehmbare Lösung gefunden werden kann. Indem Erdogan an seinen maximalen Forderungen - Zerschlagung der kurdischen Autonomie in Nordsyrien und die Umsetzung seines islamistischen Projekts durch einen sofortigen Sturz des Assad-Regimes - festhält, beharrt er auf einer militärischen Lösung, die es nicht gibt und nicht geben darf. Denn nur durch einen Konsens kann eine Lösung gefunden werden.

Seit Tagen warten zehntausende syrische Flüchtlinge vor dem syrisch-türkischen Grenzübergang Bab al-Salam. Syrern, die vor den Kämpfen zwischen Assads Truppen und Radikalislamisten fliehen, wird die Einreise in die Türkei mit der Begründung, "das Land hat maximale Aufnahmekapazität erreicht", verweigert. Ankara hat zwar etwa 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen, die Aufnahmekapazität der Türkei ist aber längst nicht erschöpft.

Die meisten Syrer in der Türkei verdienen ihren eigenen Lebensunterhalt, indem sie sich der türkischen Wirtschaft als billige Arbeitskräfte unter oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen anbieten. In der Regel arbeiten Syrer, darunter viele Minderjährige, illegal in der Türkei. Immer wieder erzählen die in Deutschland eingetroffenen syrischen Flüchtlinge von der Kinderarbeit in der Türkei. Ein in Göttingen eingetroffenes syrisches Mädchen gab an, in der Türkei oft 18 Stunden am Tag gearbeitet zu haben. "Wer Arbeit findet und arbeiten kann, muss arbeiten, um die hohen Mieten und die hohen Lebenskosten in der Türkei bezahlen zu können", berichten die Flüchtlinge.

Nach einer Umfrage der Internationalen Überwachungsinstanz zur Unternehmensveranwortung Business and Human Rights Resource Centre (BHRRC) verdienen syrische Flüchtlinge weniger als den landesweiten Mindestlohn von 1.300 türkischen Lire (knapp 400 Euro) pro Monat. Die Zahl der illegal beschäftigten syrischen Flüchtlinge wird auf 250.000 bis 400.000 geschätzt. Erst Mitte Januar dieses Jahres reagierte die Regierung in Ankara auf die internationale Kritik und kündigte an, Arbeitserlaubnisse an Syrer verteilen zu wollen. Nach Angaben des BHRRC hat der schwedische Modekonzern H&M bei einer Überprüfung im Jahr 2015 einen Fall von Kinderarbeit festgestellt. Dabei handelte es sich um ein syrisches Flüchtlingskind, das illegal in einer Fabrik in der Türkei beschäftigt gewesen sein soll, die auch für H&M produzierte.

"Tankstelle" in Afrin, sicherheitshalber außerhalb der Stadt. Bild: K. Sido

Während die türkische Regierung zehntausende syrische Flüchtlinge vor der Grenze im Freien und in der Kälte auf eine Einreise warten lässt, nimmt die benachbarte, von Kurden kontrollierte autonome Region Afrin syrische Flüchtlinge großzügig auf. Allein im Flüchtlingslager Robar, nicht weit von Afrin, wurden bereits 350 Flüchtlingsfamilien untergebracht. Somit ist die Anzahl der dort beherbergten Familien auf rund 2.000 Familien angestiegen. Insgesamt soll der mehrheitlich kurdische Kanton Afrin seit dem 3. Februar etwa 25.000 arabisch-sunnitische Flüchtlinge aus den umkämpften Ortschaften nördlich von Aleppo aufgenommen haben. Seit 2012 haben mindestens 300.000 Flüchtlinge dort Zuflucht gefunden.

Dennoch hält die türkische Regierung an ihrer inhumanen Politik fest. Die etwa 100 Kilometer lange Grenze zwischen Afrin und der Türkei wird für Zivilisten zunehmend unpassierbarer. Ein Grenzübergang von der Türkei zu Afrin hätte die Versorgung der einheimischen kurdischen Zivilbevölkerung und der dorthin geflüchteten arabisch-sunnitischen Flüchtlinge weitgehend erleichtert. Weil die türkische Regierung die Entstehung einer autonomen Region in Afrin, wie auch in anderen mehrheitlich von Kurden besiedelten Regionen Nordsyriens verhindern will, lässt sie die Menschen, Kurden, Araber, Yeziden, Sunniten und Alawite, in Afrin aushungern.

Am Grenzübergang zur Türkei.Bild: K. Sido

Der Kanton Afrin ist neben den Kantonen Kobani und Cazire einer der drei mehrheitlich von Kurden besiedelten Regionen, die sich 2012 gegen die Widerstände des syrischen Regimes und der islamistischen Opposition für autonom erklärt haben. Afrin liegt im äußersten Nordwesen von Syrien und wird von verschiedenen radikalislamistischen Gruppen ständig bedroht und eingekesselt. Die Einwohnerzahl von Afrin wird auf etwa 800.000 Einwohner geschätzt.

Kamal Sido ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und in Afrin geboren.