Westlich von Spießern, Besitzstandswahrern und besorgten Bürgern

Wagon Master

Wagon Master von John Ford

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Fremd ist der Fremde nur unter Fremden.

Karl Valentin

Ende 1949 drehte John Ford einen "kleinen" (also billigen) und unprätentiösen Western ohne große Stars und ohne spektakuläre Schießereien. Erzählt wird die Geschichte eines Mormonentrecks, der sich durch Wüsten und Indianergebiet ins Gelobte Land durchschlägt. Im Vergleich zu Fords Kavallerie-Trilogie mit John Wayne blieben die Einspielergebnisse sehr bescheiden. In den Augen der Kritiker hatte der mit mehreren Oscars ausgezeichnete Regisseur einen jener intellektuell anspruchslosen und auch sonst nicht weiter erwähnenswerten Cowboyfilme inszeniert, wie sie Hollywood jedes Jahr zu Dutzenden hervorbrachte. Mittlerweile beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass Wagon Master eines von Fords Meisterwerken ist. Und weil große Kunstwerke nicht nur wichtige Zeitzeugen, sondern auf eine stets neue Weise aktuell sind, wirkt der Film heute wie sein Kommentar zur Flüchtlingskrise.

Western noir

Gleich die ersten Bilder nähren den Verdacht, dass das kein Durchschnittswestern für Eskapismusfans ist, die nach dem Kauf einer Kinokarte anderthalb Stunden unbeschwerter Unterhaltung genießen wollen. Wagon Master stellt sich uns als Film noir mit Banditen vor. Die wegen Mordes gesuchten Cleggs rauben - per Doppelbelichtung - unter ihrem vom Wind zerzausten Steckbrief die Wingate Express Company in Crystal City aus. Das geschieht ganz ohne Dialog, man hört nur die Sporen an den Stiefeln der Verbrecher und das Peitschenknallen des Bandenchefs. Aus Untersicht ist etwas zu erkennen, das uns üblicherweise nicht gezeigt wird, weil da im Atelier die Scheinwerfer, Mikrophone und andere Gerätschaften hängen: die Zimmerdecke im Expressbüro.

Solche beengende, Räume in Unheil verheißende Gehäuse verwandelnde Plafonds waren auch schon in Fords Stagecoach zu sehen gewesen, der Orson Welles so beeindruckte, dass er ihn intensiv studierte, bevor er Citizen Kane drehte. Mit diesen ersten Einstellungen gibt Bert Glennon seine Visitenkarte als einer der führenden Kameraleute von Hollywood ab. Wagon Master gehört zu den am besten photographierten Filme der Nachkriegszeit. Das fällt nur nicht immer gleich so auf, weil Glennon seine Kunst in den Dienst der Geschichte stellt. Vielleicht wäre er für einen Oscar nominiert worden, wenn Ford und er mehr Innenräume in die Handlung eingebaut hätten, und damit mehr Gelegenheiten zu auftrumpfender Kameravirtuosität (und wenn sie ein großes Studio im Rücken gehabt hätten, das die für einen Oscargewinn nötige Lobbyarbeit leisten konnte). In jedem Fall gab es im Western selten so viele schöne Bilder von Siedlern, Pferden und Planwagen in spektakulärer Landschaft wie in diesem.

Dem wortlosen Überfall der ersten Einstellungen verdanken wir wahrscheinlich den grandiosen stummen Anfang von Rio Bravo (vom Ende des Vorspanns mit einem von Ward Bond geführten Wagentreck bis zum ersten Dialogsatz vergehen da mehr als drei Minuten). Zwischen John Ford und Howard Hawks herrschte eine ebenso freundliche wie kreative Rivalität. Der eine versuchte zu zeigen, dass er es besser konnte als der andere. Nachdem John Wayne in Hawks’ Red River bewiesen hatte, dass er in der Lage war, einen älteren Mann zu spielen, ließ ihn Ford als verwitweten Kavallerieoffizier im Pensionsalter durch Monument Valley reiten (She Wore a Yellow Ribbon). Mag sein, dass die Rivalität der Regisseure auch der Grund war, aus dem Joanne Dru zu ihrer Rolle in Wagon Master kam. Hawks wilderte gewissermaßen in Fords Revier, als er Dru in Red River besetzte, denn sie war eine Freundin von dessen Tochter Barbara. Ford ließ so etwas nicht unbeantwortet, engagierte Joanne für Yellow Ribbon, wusste da aber noch nichts Rechtes mit ihr anzustellen. Der zweite Versuch war ein voller Erfolg. In Red River ist Joanne Dru sehr gut, in Wagon Master ist sie noch besser. Doch ich greife vor. Zurück zu den Cleggs.

Wagon Master

Der Chef der Bande, Onkel Shiloh, spricht den ersten Satz, als der Überfall eigentlich schon vorbei ist und ihn ein Postangestellter mit einer Pistolenkugel am Arm verletzt: "Ich wünschte, dass du das nicht getan hättest, mein Sohn." Dann schießt er dem fliehenden Mann zweimal in den Rücken. Onkel Shiloh ist ein Psychopath, der aus einer pervertierten Vorstellung von Ehre heraus tötet, und aus Lust an Gewalt und Destruktion. Seine letzten Worte im Film werden ein Echo der letzten Worte seines Opfers sein: "Please … please … don’t shoot!" Dann ist er tot. Wer mit der Waffe lebt, wird durch die Waffe sterben. Ford hatte nach dem Zweiten Weltkrieg - und genau besehen auch schon im Jahrzehnt davor - keinen Spaß mehr daran, Leute in spektakulären Situationen vom Pferd schießen zu lassen. Wagon Master ist ein durch und durch humanistischer Film, ein Aufruf zu Toleranz und Gewaltverzicht. Viele zeitgenössische Kritiker nahmen Ford das übel. Sie hatten die zwischen guter und schlechter Gewalt unterscheidenden, den Shoot-out als bevorzugtes Mittel zur Konfliktlösung präsentierenden Genreregeln des Western (und die damit verbundene Ideologie) so sehr verinnerlicht, dass sie Abweichungen von diesen Regeln als handwerkliches Unvermögen missverstanden.

Traum und Albtraum

Auf den Mord folgt der Vorspann. Der Überfall ist nicht die erste pre-credit sequence im amerikanischen Kino, auch nicht im Western (Destry Rides Again hatte schon 1939 eine, allerdings eine sehr kurze, mit Schwenk über den Friedhof von Bottleneck), aber 1950, als Wagon Master in den USA anlief, war das noch extrem selten. Wir sollten uns also auf einen Film gefasst machen, der anders ist als das übliche Hollywood-Produkt. Lindsay Anderson bezeichnet Wagon Master in seinem Buch About John Ford als Avantgarde-Western. Da ist etwas dran. Man merkt es nur nicht gleich, weil das Avantgardistische so undemonstrativ daherkommt. Ford selbst charakterisierte den Film, den er mehrfach seinen liebsten nannte, als "pure and simple". Damit ist nicht die geistige Schlichtheit gemeint, mit der viele Western aus der Konfektion erzählt sind, sondern die Reinheit der Form, die Reduktion auf das Wesentliche, ohne Zugeständnisse an die Normen der Industrie.

Wagon Master

Die Titelsequenz beginnt mit einem Wagentreck, der einen Fluss überquert. Im Wasser funkeln die Strahlen der Sonne. Als Kontrast zeigt uns Ford die Cleggs, in der Dämmerung über einen Bergrücken reitend. Dann wieder der Treck. Die Planwagen fahren ganz nah an der Kamera vorbei, die ihnen mit einem leichten Schwenk folgt, damit wir mehr Zeit haben, um zu sehen, wer auf dem Kutschbock sitzt. Es sind Frauen, Kinder, Männer, kurzum: Familien. Die von Jane Darwell gespielte Sister Ledeyard bläst anschließend in ihr Signalhorn. Jane Darwell kannten die amerikanischen Kinogänger als die Mutter von Henry Fonda in The Grapes of Wrath, Fords Verfilmung des Romans von John Steinbeck. Diese beiden, Darwell und ihr "Sohn" Fonda, sprachen auch den Kommentar zur Doku The Battle of Midway, einem Meisterwerk der Filmpropaganda, bei dessen Ansicht Eleanor Roosevelt in Tränen ausbrach und ihr Gatte, der US-Präsident, einen berühmten Ausspruch tat: "Ich will, dass jede Mutter in Amerika diesen Film sieht!" Die meisten amerikanischen Mütter machten das dann auch. Im Vorspann von Wagon Master taucht Darwell auf, um uns zu signalisieren, was den Cleggs fehlt: das weibliche Element.

Die Cleggs sind die Nachfolger der ebenfalls frauenlosen und von einem skrupellosen Patriarchen geführten Clantons in My Darling Clementine. Diese Männergruppen erinnern uns daran, dass die Reise nach Westen zwar eine gesellschaftliche Erneuerung verspricht (eine Konstante in der US-amerikanischen Geistesgeschichte), dass dort aber auch die Gewalt und der Wahnsinn lauern, die Utopie schnell zum Albtraum werden kann. Das literarische Vorbild für die Clantons und die Cleggs, allerdings noch mit Frauen, ist die Sippschaft des Ishmael Bush in The Prairie, dem in der Reihenfolge des Erscheinens dritten (und chronologisch letzten) Teil der Lederstrumpf-Tetralogie von James Fenimore Cooper, die der belesene Ford sicher kannte. Die Bushs nehmen sich, was sie haben wollen und ziehen durch das Land wie Figuren aus einem Schauerroman. Sie, die Clantons und die Cleggs verkörpern die dunkle Seite des American Dream.

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