Gipfel der Desintegration

Die Krise der EU weitet sich aus: Erst platzt die "Koalition der Willigen" zur Flüchtlingskrise. Dann geraten die Verhandlungen mit Großbritannien ins Stocken

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Es war fast schon zur Gewohnheit geworden: Vor dem EU-Gipfel trifft sich Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer "Koalition der Willigen" in der österreichischen EU-Vertretung in Brüssel, um gemeinsam mit der Türkei so genannte "europäische Lösungen" zur Flüchtlingskrise zu suchen. Doch diesmal ging es gründlich schief.

Erst sagte der türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoglu ab - der Terroranschlag in Ankara und die angekündigte massive Vergeltung gegen die Kurden waren ihm wichtiger als ein neuerliches Treffen mit der Kanzlerin. Dann fielen Merkel auch noch die lieb gewonnenen Gastgeber aus Österreich in den Rücken.

Österreich fühlt sich von Deutschland alleingelassen

Die Merkel-Runde mache derzeit keinen Sinn mehr, sagte Vizekanzler Reinhold Mitterlehner: "Es kann jeder ableiten, dass die Koalition der Willigen in der Form offensichtlich nicht mehr besteht", erklärte der konservative Politiker zur allgemeinen Überraschung.

Der österreichische Bundeskanzler Faymann mit seiner deutschen Amtskollegin. Bild: EU

Der Grund: Österreich fühlt sich von Deutschland alleingelassen - und hat im Alleingang tägliche Obergrenzen für Flüchtlinge eingeführt. Die sind zwar nach Auffassung der EU-Kommission nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Doch Wien will sich davon nicht beirren lassen und ab Freitag den Zugang über die Grenzen massiv einschränken (Link auf 47448).

Von der "Koalition der Willigen", die Merkel als Vehikel für ihre im In- und Ausland umstrittene liberale Asylpolitik gegründet hatte, bleibt also wohl nichts mehr übrig. Die Türkei hat angeblich Wichtigeres zu tun, Österreich schert sich nicht mehr um Absprachen mit Berlin. Auch Frankreich hat sich bereits abgesetzt.

Mehr als die EU-weit vereinbarten 30.000 Flüchtlinge, so stellte Premier Manuel Valls schon am Wochenende klar, werde Paris nicht übernehmen. Diese 30.000 könnte man zwar zur Not in eine Kontingent-Lösung mit der Türkei ummünzen. Doch das Thema ist derzeit so strittig, dass Merkel schon selbst nicht mehr von Kontingenten redet.

Das kleine Latinum: Renzi, Italien und Hollande, Frankreich

Auch beim zweiten heißen Eisen dieses EU-Gipfel, dem Verbleib oder Austritt Großbritanniens ("Brexit"), will einfach nichts zusammenpassen. Der "faire Deal", den EU-Ratspräsident Donald Tusk mit dem britischen Premier David Cameron ausgehandelt hat, um das Königreich im europäischen Club zu halten, erweist sich als sperrig.

Camerons Forderungen

Vor allem Camerons Forderung, die Sozialleistungen und das Kindergeld für zugewanderte EU-Arbeitnehmer mit einer "Notbremse" für bis zu vier Jahre auszusetzen, stößt auf Widerstand. Polen und andere Osteuropäer sehen darin eine Diskriminierung ihrer Bürger, die zu Zehntausenden auf der britischen Insel arbeiten.

Streit gibt es aber auch um den Euro. Cameron möchte sich eine Art Vetorecht sichern, damit der Finanzplatz London nicht von Entscheidungen der Eurozone benachteiligt wird. Das will jedoch Frankreich verhindern. Beim Euro habe Paris "rote Linien", warnt Präsident Francois Hollande.

Der Streit kommt Cameron durchaus gelegen, um den Briten zu beweisen, dass er wie ein Löwe gekämpft hat. "Ich werde keinen Deal akzeptieren, der nicht erfüllt, was wir brauchen", sagt er bei seiner Ankunft in Brüssel. "Das ist ein gut inszeniertes Drama", antworten EU-Diplomaten.

Scheitern dürfen die Verhandlungen aber nicht, denn dann wäre die EU blamiert und der "Brexit" ließe sich kaum noch verhindern. "Das ist ein Gipfel des 'Alles oder Nichts’", sagt EU-Ratspräsident Donald Tusk deshalb zu Beginn des Treffens. Am Abend werden die Beratungen unterbrochen, damit Tusk, Cameron und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker knifflige Detailfragen klären können.

Wunsch und "alles tun, was möglich ist". Cameron und Merkel. Bild: EU

Mit einer Einigung wird erst am Freitag gerechnet - doch nicht mehr zum English Breakfast, wie zunächst geplant, sondern wohl eher zum Brunch. Neben den technischen und juristischen Details wird ein Kompromiss auch durch widersprüchliche politische Interessen erschwert.

So sträuben sich die Polen gegen Kürzungen beim Kindergeld, wollen UK aus außenpolitischen Gründen aber unbedingt in der EU halten. Deutschland möchte nach Angaben von Merkel "alles tun", um den Brexit zu verhindern und ihren neoliberalen Lieblingspartner zu halten. Berlin muss jedoch auch Rücksicht auf Frankreich nehmen, das gewichtige Einwände hat.

Schließlich könnte auch Cameron selbst versucht sein, eine Einigung abzulehnen, um Zeit zu gewinnen und die EU-Gegner auf der Insel auf seine Seite zu ziehen. UKIP-Chef Nigel Farage bezeichnete den geplanten Deal bereits als "erbärmlich". Viele Briten dürften beim für Juni geplanten Referendum eher an die Flüchtlingskrise oder ihre eigene Brieftasche denken als an Camerons Manöver im EU-Ratsgebäude.

Der Boomerang-Effekt

Auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU möchte denn auch in Brüssel niemand wetten. Merkel und den meisten anderen Chefs geht es lediglich darum, guten Willen zu zeigen, damit sie nicht für ein Scheitern verantwortlich gemacht werden können. An eine echte Reform der EU, wie sie Cameron ursprünglich einmal gefordert hatte, gar an mehr Demokratie oder Transparenz, denkt hier niemand.

Der slowakische Premier Rober Fico, Merkel und ihr neoliberaler Lieblingspartner. Bild: EU

Es geht einzig und allein darum, den Status Quo zu wahren und einen Domino-Effekt zu verhindern, falls Großbritannien am Ende doch noch aus der EU austreten sollte. Neben dem nach rechts gerückten Polen könnte dann zum Beispiel auch das europamüde Holland versucht sein, Brüssel den Rücken zu kehren. Diese Desintegration gelte es zu verhindern, warnen auch deutsche Diplomaten.

Weniger gern spricht man über einen anderen möglichen Domino-Effekt: Wenn Cameron beim EU-Gipfel wie erwartet Erfolg hat und neue Extrawürste für sein Land durchsetzt, könnten sich andere Politiker daran ein Beispiel nehmen. Die Führerin des rechtsextremen französischen Front National, Marine Le Pen, hat bereits angekündigt, dem konservativen Briten nacheifern zu wollen.