Raum mit Eigenschaften

Lindau und Hinterland. Bild: Memorino. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Von Eigenheimen, zersiedelten Landschaften und der verblassten Vision einer "Bodenseestadt"

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Urbanität ist ein Begriff, der, um mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zu reden, sich erst durch die alltägliche Lebenspraxis mit Bedeutung füllt, und sich also ebenso schnell verändert. Gleichwohl sind nahezu alle zeitgenössischen Leitbilder der Stadtplanung auf die Überlieferung, auf die baulich-räumliche Plausibilität von einprägsamer City, geschlossenen Hausblöcken und rue corridores abonniert: Als urban gilt nur, was in der Tradition von historischer Stadt sich bewegt. Dass dies nicht an jedem Ort, in jeder Situation der Weisheit letzter Schluss sein kann, ist namentlich im trinationalen Bodensee-Raum augenscheinlich. Eher dünn besiedelt und arm an größeren Zentren, doch gut vernetzt und wirtschaftlich prosperierend, braucht es hier andere Ansätze.

Das größte Binnengewässer nördlich der Alpen stellt zwar eine große Attraktion dar, doch mangelt es der Region, die innerhalb der so genannten ‚blauen Banane" zwischen London, Paris und Mailand und zugleich im Spannungsfeld der Städte Stuttgart, München und Zürich liegt, an einem natürlichen Gravitationszentrum. Eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von lokalen Aktivisten hat vor einiger Zeit einen recht anschaulichen Befund vorgelegt und ihn mit einem konzeptionellen Vorschlag versehen.1

Die Schlagworte, die das anhaltende Wachstum städtischer Agglomerationen orchestrieren - Sprawl, Zersiedelung, Landschaftsverbrauch -, sind auch für die Autoren entschieden negativ konnotiert. Was sie indes vorrangig interessiert, ist ein gewisser Perspektivwechsel: Sind die Räume jenseits der Metropolen zwangsläufig Verlierer im Prozess der Globalisierung? Wie können Regionen zwischen den Großstädten kreativ mit den sich verändernden Rahmenbedingungen umgehen? Und welche Perspektive ergibt sich daraus für die Region rund um den Bodensee?

Den Autoren ist es nicht um einen allumfassenden Plan zu tun. Ihnen ist bewusst, dass eine urbane Aktionsstrategie heute nur in einem ständigen Wechsel von großmaßstäblichem Beobachten, örtlich begrenzten Eingriffen an geeigneten Stellen und einem erneuten großmaßstäblichen Beobachten möglicher Auswirkungen dieser Effekte bestehen kann. Vor diesem Hintergrund, und in ideeller Anlehnung an den Netzstadt-Gedanken von Franz Oswald, versuchen sie, für die Bodensee-Region einen konzeptionellen Zugang und ökonomischen Ausweg zu formulieren. Der lässt sich auf drei zentrale Aussagen komprimieren:

  1. Vernetzung: Der Raum wird nicht gewichtet nach dem Schema Zentrum-Peripherie, sondern als Netz mit gleichberechtigten Knoten verstanden, die jeweils bestimmte zentrale Aufgaben komplementär übernehmen. "Die Vernetzung der Städte am See zu einer gut erschlossenen und arbeitsteilig vorgehenden Einheit kann die Mängel der Einzelstandorte aufheben und die Region gegenüber anderen Stadtregionen konkurrenzfähig machen."
  2. Urbanität: Gemeint ist damit eine gewisse Konzentration an bestimmten Knotenpunkten, d.h. eine Art "innere Stadterweiterung", um die freie Landschaft zu schützen. Ermöglicht werde dies durch die "Jahrhundertchance", die im Rückzug der Eisenbahn und deren Umwandlung in eine Stadtbahn liege. Die bisher extensiv genutzten Flächen von Bahngesellschaften und bahnnahen Gewerbebetrieben, die den Zugang zum See behindern, werden frei, wären nun ‚städtisch" nutzbar und könnten eine neue Gelenkfunktion zwischen heutigen Siedlungsflächen und See ausfüllen.
  3. Mobilität: Das öffentliche Nahverkehrssystem soll durch Stadtbahn und Schnellbootlinien verbessert werden; der See als wichtigstes Kapital der Region wird stärker ins Bewusstsein der Bürger gerückt, zudem sollen Haltepunkte und Anlegestellen eine neue Identität stiften.

Zwar bringen die Autoren implizit eine gewisse Skepsis gegenüber dem Begriff ‚Stadt" zum Ausdruck, da er in Bezug auf die Beschreibung aktueller gesellschaftlich-räumlicher Zusammenhänge viele Ungereimtheiten in sich birgt. Doch weil er fraglos auch eine mobilisierende und identitätsstärkende Komponente aufweist, leiht er auch ihrer Vision seinen Namen: "Bodenseestadt". Als Katalysator und Entwicklungsmotor sollte eine Internationale Gartenbauausstellung dienen, zu der sich 19 Städte und Gemeinden gemeinsam bewarben.

Friedrichshafen vom Zeppelin D-LZZR aus. Bild: Hansueli Krapf. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Autoren hätten gerne kombiniert und verstärkt mit einer IBA, die - wie seinerzeit an der Emscher - nicht nur auf Neubauten setzt, sondern "auch hinsichtlich wünschbarer politischer, wirtschaftlicher und anderer gesellschaftlicher Konstellationen und Mechanismen beispielgebend" wirkt. Auch technische und logistische Innovationen sollten, eingebettet in und befördert durch das Event, machbar werden. So wäre die bereits zu touristischen Zwecken eingesetzte Zeppelin-NT-Technologie "als ergänzendes regionales Verkehrsmittel für den Bodenseeraum in Erwägung zu ziehen", etwa zwischen Schaffhausen und Lindau oder zwischen Ravensburg und St. Gallen. Das Ziel besteht darin, "einerseits kurzfristig und konzentriert Potentiale zu aktivieren, auf die sonst der Zugriff fehlt, andererseits Impulse für längerfristige Umbauprozesse zu generieren".

Doch trotz dieses Enthusiasmus' und viel gedanklicher Vorleistung konnte das Unternehmen leider nicht reüssieren. Den Zuschlag für die Internationale Gartenbauausstellung 2017 bekam nicht das trinationale Konzept rund um den Bodensee, sondern Berlin: Zunächst für sein Areal auf dem ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof; dann aber, nach diversen Querelen, wurde der Standort in den Erholungspark Marzahn verlegt.

Wunsch nach neuen Kollektivitäten

Ungeachtet dessen: Die Aufgabe, neue Strategien zum kreativen Umgang mit gestalterisch vernachlässigten Räumen zu suchen, anstatt sich einer romantisierenden Retrospektive hinzugeben, ist auch an anderen Orten und auf anderen Maßstabsebenen virulent. So bleibt etwa die Frage nach den Präferenzen des Wohnens und deren Wirkungen auf die gebaute Umwelt ungelöst: Der Einzelne, sein Eigenheim und die Stadt - das ist alles andere als ein friktionsfreier Zusammenhang. Fünf Autoren haben hierzu eine so profunde wie lesenswerte Analyse verfasst.2 Obgleich städtische Lebensmuster heute sowohl in suburbanen Regionen als auch in den entlegensten Landstrichen repräsentiert sind, entsprechen die Bilder des Gebauten dem ja in keiner Weise.

Manch' empirischer Befund ist, gemessen an der gängigen Urbanitätsdiskussion, durchaus überraschend:

Gerade bei den Innenstadtbewohnern findet sich in Bezug auf die soziale Wohnumwelt eine Orientierung, die sich stark von traditionellen Definitionen städtischen Lebens unterscheidet. Es wird hier gerade nicht die scheinbar typisch städtische Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit gewünscht, sondern vielmehr die Aufhebung derselben in der Gestalt von Haus- und Siedlungsgemeinschaften.

Im gleichen Maße, wie der Anteil von Alleinlebenden zu- und die Bedeutung familiärer Lebensformen in innerstädtischen Bereichen abnimmt, scheint der Wunsch nach neuen Kollektivitäten zu wachsen. "Gesucht wird allerdings nicht die Gemeinschaft mit irgendwem, sondern mit Menschen in der gleichen oder kompatiblen Lebensphasen bzw. aus einem adäquaten kompatiblen Milieu."

Nicht minder interessant dürfte ein weiteres Ergebnis sein, demzufolge in Suburbia alle mehr oder minder ein Interesse an urbaner Lebensweise haben: Die Bewohner "gewähren sich diese daher gegenseitig unter dem Motto: ‚Das geht mich nichts an!"" Tatsächlich seien die Suburbaniten eben Städter, die in ländlichen Gebieten wohnen. "Aufgrund ihrer städtischen Sozialisation besteht hier eine starke Abneigung sowohl gegen das Unterworfensein unter eine starke soziale Kontrolle als auch gegen das Ausüben einer solchen."

Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Milieus, Teilöffentlichkeiten und Lebensstile führt indes dazu, dass den Architekten die idealtypischen Referenzen zerbrechen. Denn sie "können nichts mehr entwerfen, planen und bauen, was allgemein als attraktiv empfunden wird. Nicht einmal innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, z.B. bei den jungen Paaren aus der Mittelschicht, kann von einem allgemeinen Konsens über die Attraktivität bestimmter architektonischer und städtebaulicher Strukturen ausgegangen werden."

Der Einzige und sein Eigentum

Insgesamt darf man zweierlei festhalten: Zum einen kommen die verschiedenen (bisher durchgeführten) Untersuchungen zu Wohnorientierungen und Wohnwünschen zu recht unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Zum anderen sollte das Ziel, den Einfamilienhausbewohner zum Wohnen in städtischem Umfeld zu animieren, nicht verworfen, sondern noch stärker gesellschaftlich kommuniziert werden - zumal ideologische Aspekte ("my home is my castle") möglicherweise eine geringere Rolle spielen als vermutet.3 Allerdings bedarf es hierzu offensichtlich doch einiger Anreize und einer gewissen Propaganda. Dass sie es ablehnen, exakte definierte Bilder einer beispielhaften Architektur vorzulegen, ist ebenfalls sinnig. Zwar können gute Lösungen im Einzelfall durchaus als direkte Inspirationsquelle dienen. Aber in der Regel ist eben orts- und milieuspezifische Kreativität vonnöten.

Während die meisten Architekten die dramatische Transformation von Stadt und urbanem Leben weithin unkommentiert lassen, werden ihre international agierenden Stars in der grellen Konjunktur medial aufbereiteter architektonischer Events als geniale Schöpfer gehandelt. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, wenn man sich profund(er) mit der Beziehung von Architekt und Stadt in den Theorie- und Fachdebatten der zurückliegenden Jahrzehnte auseinandersetzt. Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen, denen sich der Berufsstand eigentlich stellen müsste, plädiert ein überaus lesenswertes Buch4 für eine radikal neue Lesart dieses Verhältnisses.

Neubauten bei der Messe Riem (München). Bild: TP

Und der Architekturkritiker Gerhard Matzig beklagt5 in diesem Zusammenhang, dass die zeitgenössische Stadtlandschaft zu einem "Ort der Tristesse" geworden sei, "eine karge, depressiv verstimmende Betonwüste, die nach Maßgabe der Baumarkt-Farbskala nur den Bereich zwischen Mausgrau, Steingrau und Schiefergrau kennt; in der es nur Schachtelhäuser gibt - und Wohnregale. (…) Unsere Städte sind nicht (nur) deshalb so grausam, weil sie von unfähigen Stadtplanern und ignoranten Architekten ruiniert werden - sondern, in weit größerem Maßstab, weil wir unseren Alltag nach Maßgabe der Billigkeit und Pflegeleichtigkeit und Wegwerfbarkeit der Baumärkte ruinieren."

Wenn es stimmt, was mitunter behauptet wurde, dass wir uns nämlich nur allzu gern von den idyllischen Vorstellungen eines pastoralen urbanen Modells vergangener Zeiten ködern lassen, dann stellt sich in der Tat die Frage, wie wir das in Zukunft mit unseren Ansprüchen ans Wohnen und an die Urbanität so handhaben wollen. Natürlich können Planer nicht Sozialingenieure, gar Demiurgen sein. Doch zu glauben, dass Räume und Bauten keine Auswirkungen hätten auf die Gesellschaft, wäre ein fataler Irrtum.

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