Syrien: IS-Offensive mit Unterstützung der Türkei?

Im Grenzort Tal Abjad erheben kurdische Bewohner, die Stadtvertretung und russische Beobachter schwere Vorwürfe gegen die Türkei

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Am vergangenen Freitag griffen zwischen 23:00 und 0:00 Uhr etwa 200 Dschihadisten des IS die Stadt und Umgebung von Gîre Sipî (kurdischer Name, arabisch: Tall Abyad oder Tal Abjad) an. Die Stadt Gîre Sipî liegt direkt an der türkischen Grenze, die sie von der Kleinstadt Akcakale auf der türkischen Seite trennt. Bei dem Angriff wurden nach Angaben der Nachrichtenagentur DIHA mindestens 15 Zivilpersonen aus einer arabischen Familie durch den IS getötet, die abschließenden Zahlen können jedoch noch weit höher liegen. Nach Angaben der YPG starben dabei mindestens 100 IS Mitglieder.

IS operiert "unter den Augen der türkischen Armee"

Zwei Dinge machen diesen Angriff besonders brisant: einerseits das Inkrafttreten der Waffenruhe in Syrien und andererseits das militärische Vorgehen des IS. Sowohl Vertreter der Stadtverwaltung von Tall Abyad als auch die Volksverteidigungseinheiten YPG betonen, dass der IS-Angriff mit fünf Einheiten erfolgte. Dabei griffen zwei Einheiten aus Richtung Raqqa von Süden her an, während drei große IS-Gruppen von Akcakale in der Türkei aus nach Gîre Sipî vorstießen.

Nach Aussagen des Co-Vorsitzenden des Stadtrates von Tall Abyad, Abu Ciwan, seien die Einheiten des IS "unter den Augen der türkischen Armee" von Akcakale aus in die Stadt eingedrungen, wo sie eine Autobombe im Zentrum der Stadt zündeten. Unter anderem wurde das Krankenhaus Al Watanî im Zentrum von Gîre Sipî angegriffen. Ciwan wirft der türkischen Regierung vor, dass ein in der Nähe von Akcakale gelegenes Flüchtlingslager vom IS als Ausbildungslager genutzt werde. Seinem Vorwurf zufolge sei ein neues Camp extra für die Ausbildung der Islamisten in Akcakale aufgebaut worden.

Nach Aussagen der YPG sei die Beleuchtung der stark überwachten Grenze zum Zeitpunkt des Angriffs ausgegangen, damit der IS die Grenze überschreiten konnte. Fest steht: Im Süden drang der IS nur bis in die etwa 50km entfernten Ortschaften Silûk und Ayn Isa vor, während die Einheiten, die aus dem Norden kamen, im Stadtzentrum von Gîre Sipî agierten.

Überraschungseffekt und türkische Bombardements

Die Wahrscheinlichkeit, dass es der IS unbemerkt etwa 70km durch selbstverwaltetes Gebiet schafft, um dann zeitgleich in Gîre Sipî einen Angriff im Stadtzentrum zu starten, ist aufgrund der örtlichen Gegebenheiten denkbar gering. Auch dass dem IS zunächst Einheiten der lokalen Sicherheitskräfte Asayish gegenüberstanden und nicht die YPG, spricht für einen gewissen Überraschungseffekt.

Gîre Sipî, Screenshot aus einem Video

Nach Angaben der YPG konnten sich die IS-Kämpfer offenbar ohne Schwierigkeiten über die türkische Grenze wieder zurückziehen. Das Forum der Zivilgesellschaft von Gîre Sipî beschreibt den Angriff so:

In den frühen Morgenstunden des 27. Februar hat eine Gruppe des IS Gîre Sipî angegriffen. Das Asayish Zentrum, das Watani Krankenhaus, das Islan Gebiet und die Dörfer En Arus und das turkmenische Dorf Hemani wurden zum Ziel der Angriffe. Die Angriffe wurden direkt vom Asayish und der SDF beantwortet. Es kam zu schweren Kämpfen. Nach den IS-Milizen bombardierte die türkische Armee das Dorf Hemani. Die IS-Banden drangen aus der Türkei in die Region ein.

Weiterhin wurde berichtet, dass die türkische Armee den Angriff des IS mit Beschuss von YPG-Stellungen begleitete.

Ein Video der Nachrichtenagentur Hawarnews legt nahe, dass auch Luftstreitkräfte beim Kampf gegen den IS beteiligt waren - ein Hinweis auf die gefährliche Dimension der Sache. Nimmt man an, dass der IS tatsächlich von der Türkei aus in Gire Spi eingedrungen ist - was im Mindesten für ein Gewährenlassen auf türkischer Seite spräche -, dann bedeutet dies, dass Erdogan willens ist, an seinem neoosmanischen Projekt festzuhalten, auch wenn er damit einen Kollisionskurs gegen die USA wie auch Russland steuert.