EU: Der Schengen-Raum muss gerettet werden

Stau am Brenner-Grenzübergang, 2007 Bild: MartinPutz/CC BY-SA 3.0

Brüssel rechnet mit jährlichen Kosten von 18 Milliarden Euro bei dauerhaften Grenzkontrollen in Europa

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Bis Ende des Jahres sollten die Grenzkontrollen im Schengen-Raum wieder aufgehoben sein, so die Absicht der EU-Kommission, wie sie in einem Papier formuliert ist, das der SZ nach eigenen Angaben vorliegt.

In Brüssel macht man sich Sorgen um die wirtschaftlichen Konsequenzen der Grenzkontrollen. Laut Schätzungen in besagtem Papier wird mit Kosten von 7 bis 18 Milliarden Euro jährlich gerechnet. Als hauptsächliche Posten werden genannt: die Einschränkungen beim Güterverkehr, beim Pendelverkehr der Arbeitnehmer, beim Tourismus und schließlich auch die Kosten für die Sicherung der Grenzposten.

Güterverkehr, Pendler, Touristen und Grenzanlagen

Eine Zahl für den vermutlich größten wirtschaftlichen Posten, den Güterverkehr, der auf möglichst reibungslose Lieferungen in einem vorgegebenen Zeit/Kosten-Kalkül setzt, wird nicht genannt. Wiedergegeben wird eine Kostenschätzung - "wegen verlorener Wartezeit an den Grenzen" - von 2, 5 bis 4,5 Milliarden Euro an Kosten, die Unternehmen entstehen, die etwa 1,7 Millionen Arbeitnehmer beschäftigen, die täglich innerhalb der EU Grenzen passieren, um zur Arbeit zu fahren.

Die Grenzkontrollen würden wegen der Staus auch die Reiselust der Touristen dämpfen. Die EU-Kommission gehe von 13 Millionen weniger Übernachtungen aus, was ohne weitere Präzisierung als "Milliardenverlust" zu Buche schlagen soll. Als administrative Kosten für die Grenzkontrollen wird die Summe von "mindestens einer Milliarde Euro" genannt. Die Aufstockung des Personals, Polizei und Zoll, Einrichtung von Grenzposten, könnte nach Ansicht der EU-kommission "weitere mehrere Milliarden" kosten.

Wirtschaftsvertreter: "gigantische Dimensionen"

Dem EU-Kommissionspapier gingen mehrere Warnungen vor Milliardenkosten, Kollateralschäden und Folgen für den Arbeitsmarkt durch die Grenzkontrollen voraus. Kommissionspräsident Juncker warnte Mitte Januar davor, dass eine eine "einstündige zusätzliche Wartezeit pro Lkw" bei den damals geltenden Grenzkontrollen Kosten von drei Milliarden Euro bedeuten würde (damals war aber noch nicht die Rede vom ausgeweiteten Grenzmanagement Österreichs, das auch die wichtige Brennergrenze betrifft).

Deutsche Wirtschaftsvertreter machten Ende Januar auf "gigantische Dimensionen" aufmerksam. Man transportiere jedes Jahr Waren für 1200 Milliarden Euro in andere Staaten, die Hälfte aller Produkte und Vorprodukte würden im Ausland eingekauft, die direkten Kosten durch die Kontrollen schätzen Wirtschaftsverbände auf "insgesamt auf drei bis zehn Milliarden Euro" (Grenzkontrollen: Schlecht für die Wirtschaft).

Schengen-Gegner: Bremse für das "soziale Dumping"?

Ein Artikel der Le Monde diplomatique, der sich mit dem Schengener Abkommen beschäftigt, verweist dem gegenüber darauf, dass Politiker in Frankreich auf andere Kosten setzen, wenn sie national gesinnte Wähler auf ihre Seite ziehen wollen. Dort findet Schengen wegen Sicherheitsbedenken bekanntlich wenig Unterstützung. Front National-Chefin Le Pen bezeichnet die Abwesenheit nationaler Grenzen "als kriminellen Wahnsinn".

Die Nationalisten versprechen sich von der Wiedereinführung der Grenzen aber auch wirtschaftliche Vorteile. Auch im genannten Artikel wird eingeräumt, dass das Ende von Schengen eine Bremse für das "soziale Dumping" sein könnte. Das Auslagern von Arbeit an Sub-Unternehmen, die mit billigeren Arbeitskräften kalkulieren, könnte sich weniger lohnen. Unternehmen könnten zurückkehren, das hätte auch ökologische Vorteile, deutet Le Monde diplo an.

Eine Gegenüberstellung der spekulierten wirtschaftlichen Vorteile mit den oben genannten spekulierten Kosten durch Grenzkontrollen wird nicht gemacht. Dem Artikel, der noch einmal in Erinnerung ruft, dass Staus und die aufwendige Grenzabfertigung Mitte der 1980er Jahre den Anstoß für das Schengener Abkommen gegeben haben, geht es um anderes: um eine bessere Flüchtlingspolitik der EU.

Grenzkontrollen, so das zentrale Argument des Artikels, würden den Zuzug von Flüchtlingen oder Immigranten auf Dauer nicht aufhalten. Wie die jüngere Geschichte von Fluchtbewegungen zeige, entwickle sich vor allem ein - kostenintensiver - Wettbewerb zwischen Kontrolle und neuen Fluchtwegen. Menschlich gehe er zu Schaden des Bildes, das in der Öffentlichkeit von Flüchtlingen gezeichnet wird.