Kritik unerwünscht?

Zeitungsredaktionen schränken Kommentarfunktion ein, was auch auf den Kampf um die Deutungshoheit hinweist

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Das Verhältnis zwischen Redaktionen und Mediennutzern ist gestört. Die Kanäle, über die miteinander kommuniziert werden kann, werden zugeschüttet. Von 66 befragten Zeitungsredaktionen haben 27 die Kommentarfunktion eingeschränkt. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Branchenmagazin journalist.

Damit wird untermauert, was schon seit geraumer Zeit zu beobachten ist: So manche Redaktion kommt mit ihren Lesern nicht klar. Dabei ist der Weg der Kommunikationsverweigerung genau der Falsche, um sich in der zerrütteten Beziehung wieder anzunähern.

"Allein in den vergangenen zwölf Monaten", so heißt es auf der Webseite von journalist, "haben 27 von 66 befragten Zeitungsredaktionen die Kommentarfunktion auf ihren Webseiten eingeschränkt." Insgesamt 119 Tageszeitungen mit Vollredaktion hat journalist kontaktiert, etwas mehr als die Hälfte hat sich an der Umfrage beteiligt.

Als Begründung für die Einschränkungen im Kommentarbereich nannten die Zeitungen einen aggressiven, bis hin zur strafrechtlichen Relevanz reichenden Ton in den Foren und einen sich daraus ergebenden kaum noch zu bewältigenden Aufwand bei der Moderation. Doch geht es bei der Schließung oder der Einschränkung von Foren tatsächlich nur um den scheinbar hohen Anteil an Hass-Kommentaren?

Wer sich die Foren in den großen Medien zu bestimmten gesellschaftlichen und politischen Themen anschaut, wird schnell feststellen: Mediennutzer üben immer wieder Grundsatzkritik an der gebotenen Berichterstattung. Die Kritik des Publikums dreht sich oft um die Kernkompetenzen journalistischer Arbeit. Es geht um die Art und Weise, wie Redaktionen Nachrichten und Informationen auswählen, wie sie diese aufbereiten und auch, mit welcher Gewichtung bestimmte Ereignisse im Land und auf der Welt Eingang in die Berichterstattung finden. Auch die Auswahl der von den Medien angeführten legitimen Sprecher, die die Ereignisse, die Gegenstand der Berichterstattung sind, kommentieren, steht im Zentrum der Kritik.

Anders gesagt: In den Kommentarbereichen findet sich eine Auseinandersetzung der Leser mit den Medien, die nicht einfach nur auf Fehler und Unzulänglichkeiten in der Berichterstattung abzielt, zu denen es immer mal kommen kann. Eine Medienkritik ist zu beobachten, die mitten ins Zentrum der journalistischen Arbeit zielt.

Mit dieser Kritik haben viele Redaktionen zu kämpfen.

Es scheint, als sei bei einigen Medienakteuren noch nicht angekommen, dass eine Art Perspektivenerweiterung stattgefunden hat und der Mediennutzer mittlerweile einen ganz anderen Anspruch an die Berichterstattung stellen kann, als es noch zu Zeiten der Fall war, in denen es noch kein Internet gab.

Längst ist der Leser nicht mehr nur auf die Informationen angewiesen, die ihm die großen Medien Tag für Tag aufbereiten und servieren. Durch das Internet hat er selbst einen "Zugang zur Welt", und wenn er sieht, wie breit das Informationsangebot (im Guten wie im Schlechten) im Internet ist, und dieses dann mit dem vergleicht, was ihm die Qualitätsmedien zeigen, muss er feststellen: Vom immer wieder beschworenen Meinungspluralismus, von der gerne angeführten pluralistischen Berichterstattung, ist bei vielen Themen in den Medien nichts zu sehen.

Stattdessen reihen sich altbekannte Experten aneinander, die zum x-ten Male das sagen, was sie immer sagen. Präsentierte Meinungsbilder verändern bestenfalls ein wenig ihre Farbe, wenn man sie ins Licht hält. Aber grundsätzlich unterschiedliche Ansichten und Lesarten sind, was die großen Themen angeht, selten zu entdecken.

Man muss schon über ein sehr eigenes Realitätsverständnis verfügen, wenn die Flut der Medienkritik als die Äußerungen einer Leserschaft abgetan werden, die von Journalismus keine Ahnung hat und die darüber hinaus nicht in der Lage ist, politisch aufgeladene Themen selbst analysestark einzuordnen.

Gewiss: Die Möglichkeit für jedermann Kommentare zur Berichterstattung in den Foren der großen Medien zu hinterlassen, bringt Probleme mit sich. Wut, Hass, eine Sprache, die vor allem auf Beleidigung setzt, Menschen verletzt und von Rassismus geprägt ist, kann sich leicht ihren Weg in die Medienöffentlichkeit bahnen, wenn es keine Kontrolle gibt. Dass solche Formen der "Kommunikation" nicht gerne gesehen sind und von Redaktionen als Belastung empfunden werden, ist nachzuvollziehen. Wer möchte sich schon beleidigen lassen?