Ein Marshall-Plan für Nordafrika

Die libysche Hauptstadt Tripolis, Al Saaha Alkhadhraa, der "grüne Platz", 2006. Bild: Jaw101ie/gemeinfrei

Europa braucht in seinem eigenen Interesse einen langfristigen Plan zur Entwicklung und Stabilisierung seiner Nachbarregion

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Seit den Ereignissen der Neujahrsnacht in Köln stehen junge Männer aus Nordafrika im Zentrum der gesellschaftlichen Debatte um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Obwohl Asylanträge von Nordafrikanern in der überwiegenden Mehrheit abgelehnt werden, ist der Anteil an Nordafrikanern unter den Antragstellern in den ersten Wochen des Jahres 2016 stark angestiegen.

Um diesen Trend einzudämmen, will die Bundesregierung die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklären. Das ist im neuen Asylgesetz vorgesehen, die Abstimmung im Bundesrat steht noch aus. Mit der Neueinstufung dürfte die Anerkennungsquote noch niedriger ausfallen als bisher.

Nicht anerkannte Asylbewerber sollen zudem schneller in ihre Heimatländer abgeschoben werden können, was sich gerade bei Menschen aus den Maghreb-Staaten aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft der dortigen Regierungen bisher als problematisch erwiesen hat. Auf einer Reise durch die Maghreb-Länder hat Innenminister de Maiziere nun ein stärkeres Entgegenkommen bei der Rücknahme nicht anerkannter Asylbewerber ausgehandelt.

Im Gegenzug arbeitet das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) Ausbildungsprogramme aus, um die Arbeitsmarktsituation in diesen Staaten zu verbessern. In diesen neuen Maßnahmen spiegelt sich wider, dass Nordafrika durch die Flüchtlingskrise mittlerweile im außenpolitischen Fokus der Bundesregierung angekommen ist.

Beobachter haben der deutschen Außenpolitik gegenüber den nordafrikanischen Staaten lange eine Art "freundliches Desinteresse" vorgeworfen, das die Herausforderungen ignoriere, vor denen die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten und damit auch Europa stehe.

Der Maghreb hat das Potential zu einer florierenden Region

Bei einem ersten Blick auf die nordafrikanischen Staaten, und insbesondere die Maghreb-Länder, erschließt sich nicht, warum sich so viele junge Menschen dem Flüchtlingsstrom auf der Balkanroute anschließen. Die klassischen sozio-ökonomischen Indikatoren der Maghreb-Länder sehen deutlich besser aus als in vielen anderen arabischen und afrikanischen Staaten.

Algerien ist die viertgrößte Volkswirtschaft Afrikas und der sechstgrößte Exporteur von Erdgas weltweit. Dies erlaubt der algerischen Regierung einen Fond mit Devisenreserven in Höhe von derzeit etwa 170 Milliarden Euro zu halten - was drei Jahren an Importen entspricht.

Marokko und Tunesien sind zwar rohstoffarm, doch das BIP Marokkos ist immer noch das fünftgrößte des afrikanischen Kontinents. Tunesien zählt zu den Ländern mit dem höchsten Level an Hochschulbildung in der arabischen Welt. Außerdem ist ein sehr großer Teil der Bevölkerung frankophon und hat damit Zugang zum Arbeitsmarkt der frankophonen Länder. Auch die gesellschaftliche Situation der Frauen ist in Tunesien deutlich fortgeschrittener als in anderen arabischen Ländern, was sich in dem hohen Anteil an Frauen unter den Universitätsabsolventen und der relativ niedrigen Geburtenrate widerspiegelt.

Tunesien zählt zudem zu den Ländern der arabischen Welt, in denen das Level an Demokratisierung am weitesten vorangeschritten ist. In Tunesien hat sich bisher keines der Szenarien ereignet, welches die anderen post-revolutionären Staaten Nordafrikas heimgesucht hat. Weder wird das Land von einem Bürgerkrieg zerrissen wie das Nachbarland Libyen, noch ist es dem alten Staatsapparat gelungen in einer Konterrevolution die Errungenschaften des Umsturzes völlig zu ersticken wie in Ägypten.

Der demographische Druck fordert schnellere und tiefer greifende Veränderungen

Doch trotz der auf den ersten Blick vergleichsweise vorteilhaften Rahmenbedingungen stehen die Maghreb-Staaten seit den Umbrüchen des "Arabischen Frühlings" am Scheideweg. Das Bevölkerungswachstum der nordafrikanischen Länder ist immer noch hoch. Trotz sinkender Geburtenraten beträgt der absolute Zuwachs in den 5 Ländern Nordafrikas, den Maghreb-Staaten sowie Libyens und Ägyptens, immer noch ungefähr drei Millionen Menschen jährlich.

Demographen sprechen von einem Youth Bulge - einer Phase, in welcher der Anteil der Bevölkerung im jungen Erwachsenenalter extrem hoch ist. Gesellschaften, welche einen hohen Anteil an jugendlicher Bevölkerung haben, gelten als anfälliger für gewalttätige Konflikte. Für viele Beobachter war der hohe Anteil an Jugendlichen, die ihre Zukunft als perspektivlos wahrnehmen, ein entscheidender Faktor für das Ausbrechen der Aufstände in arabischen Ländern. In welche Richtung sich die jugendliche Energie entlädt, ist offen - und hängt wesentlich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab.

In den Maghreb-Staaten sind die aktuellen Rahmenbedingungen alles andere als vorteilhaft, um der jungen Generation Gestaltungsraum zu geben. Der Staatsapparat ist nach wie vor stark von Vetternwirtschaft und Korruption geprägt, fast alles ist von persönlichen Beziehungen abhängig. In sämtlichen nordafrikanischen Ländern wird die Wirtschaft zudem von einer kleinen Gruppe staatsnaher Großunternehmer dominiert, die Aufstiegschancen der breiten Masse sind entsprechend gering. Die staatliche und wirtschaftliche Struktur der Maghreb-Staaten ist für den Youth Bulge schlecht vorbereitet.