Polen: Geschichtspolizeiliche Maßnahmen

Dokumente im Institut für Nationales Gedenken. Bild: Adrian Grycuk/CC-BY-SA-3.0

Das "Institut für Nationales Gedenken" geht nicht nur gegen Lech Walesa vor, der neue Generalstaatsanwalt kündigt hartes Vorgehen an

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Auf dem Warschauer Chopin-Flughafen herrschte am Freitag vor einer Woche Verwirrung unter den vielen Journalisten. Fernsehkameras wurden auf die Stative auf und wieder abmontiert: Kommt nun Lech Walesa hier von seiner langen Amerikareise an - oder nicht?

In seiner Abwesenheit wurde der Solidarnosc-Begründer mit einem Aktenfund belastet, der ihm Spitzeltätigkeit in den 1970er Jahren zugunsten des Inlandgeheimdienst SB vorwirft.

Meldungen machen die Runde, dass er doch in Danzig landen solle, ein paar Busse mit seinen Fans haben darum schon abgedreht. Schließlich die Enttäuschung - die Solidarnosc-Legende war gelandet, hat sich durch einen Hinterausgang herausgeschlichen, um den Medienvertretern vorerst auszuweichen.

Grazyna Zajeczkowska, Mitte Fünfzig, die auf dem Flughafen ihre Unterstützung kundtun wollte, ist empört: "Er hat die politische Freiheit in Polen erkämpft, jetzt will sich Kaczynski an ihm rächen." Wie viele liberale Polen glaubt sie, dass die Akten jetzt auftauchen, da die Premierministerin Beata Szydlo ihren Rechenschaftsbericht zu hundert Tagen Regierung ablegt - als Ablenkungsmanöver. Der Chef der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) Jaroslaw Kaczynski übt Rache oder er stellt Gerechtigkeit her - bei dieser Frage teilt sich Polen.

War die Zeit nach der Wahl im Oktober bis Januar vor allem durch die Veränderungen in der Gewaltenteilung und in den öffentlichen Medien geprägt (Wagenburgstimmung in Polen), stehen seit Mitte Februar staatsanwaltliche Aktivitäten im Vordergrund.

Das "Institut für Nationales Gedenken" (IPN), welches über staatsanwaltliche Vollmachten verfügt, hat bei der Witwe von General Czeslaw Kiszczak angeblich belastendes Material mit Hilfe der Polizei sicher gestellt. Kiszczak, der im Herbst vergangenen Jahres verstarb, war von 1981 bis 1990 Innenminister und verantwortlich für den SB, den Gegenspieler der Bewegung "Solidarnosc".

Nach Angaben des IPN hatte die Witwe Maryja Kiszczaka zuvor versucht, das Material für 90.000 Zloty (20.500 Euro) zu verkaufen. Lech Walesa wird dort unter dem Decknamen "Bolek" geführt, ein Name, der seit den frühen Neunziger Jahren in Polen die Runde macht. Der ehemalige Präsident Polens hat immer verneint, jemals "Bolek" gewesen zu sein, Kontakte Anfang der 70er Jahre zum SB gab er zu. Als er 1980 den Arbeiterprotest auf der Danziger Werft anführte, sei der Kontakt schon lange abgebrochen gewesen.

Ein sogenanntes "Durchleuchtungsgericht" hat ihn im Jahre 2000 von diesem Verdacht befreit, der SB habe seine Akte gefälscht, um Walesa zu belasten. Historiker des IPN behaupten, Walesa habe in seiner Zeit als Staatspräsident Anfang der Neunziger Jahre seine Akten holen lassen und wichtige Dokumente entfernt. In den Dokumenten finden sich unter anderem eine Einverständniserklärung zur Mitarbeit, Zahlungsbelege sowie Berichte Walesas über Arbeiter auf der Werft in Danzig.

Ist das "Institut für Nationales Gedenken" eine "Geschichtspolizei"?

In Polen hat das "Institut für Nationales Gedenken" (IPN) 21 Würdenträger der vergangenen Volksrepublik Polen ausgemacht, die vielleicht interessante Akten in den eigenen vier Wänden gelagert haben könnten.

Kürzlich wurde eine weitere Witwe von den polnischen Behörden aufgescheucht - die des 2014 verstorbenen General Wojciech Jaruzelski. 17 Kartons mit Material trugen Angestellte der Staatsanwaltschaft zur näheren Inspektion davon. Hierbei soll nach Beweisen gesucht werden, die belegen, dass Jaruzelski nach dem Krieg bis in die 50er Jahre als aufstrebender Offizier unter dem Decknamen "Wolski" andere Offiziere bespitzelt haben soll.

Die Hausdurchsuchung bei Jaruzelski geschah symbolisch zum passenden Zeitpunkt. Am ersten März feiert das Land die antikommunistischen Kämpfer in der Nachkriegszeit mit dem Tag der "verstoßenen Soldaten". "Geschichtspolizei" nennt die oppositionelle Gazeta Wyborcza dieses Phänomen der Akteneinholung.

Die staatsanwaltlichen Maßnahmen werden nun seit dem vierten März von Justizminister Zbigniew Ziobro koordiniert, der seit Freitag als Generalstaatsanwalt in seinem Doppelamt über großen rechtlichen Spielraum verfügt. "Die Polen sollen sich sicher fühlen, die Verbrecher sollen einen fähigen und erfolgreichen Staat fürchten", erklärte Ziobro, der somit ausschloss, dass Verbrecher noch der polnischen Staatsangehörigkeit würdig seien. Ähnliches meinte er schon in der PiS-Regierungszeit 2005 bis 2007, als er auch über die Doppelfunktion verfügte und politische Gegner vorverurteilte, indem er sie an den Pranger stellte.

Mit der am Freitag in Kraft getretenen Gesetzesneuerung kann Ziobro wieder aus laufenden Ermittlungen belastendes Material an die Medien weiter geben. Zudem kann der 44-Jährige seine Staatsanwälte anweisen, gegen jeden Bürger des Landes ein Verfahren zu eröffnen. Bereits 151 Staatsanwälte haben sich frühpensionieren lassen, um einer möglichen Versetzung oder anderen Schikanen zu entgehen.

Auf der anderen Seite können Staatsanwälte, die im "Interesse der Gesellschaft" handeln, so die Bezeichnung, straffrei bleiben, was die Oppositionspartei "Bürgerplattform" (PO) für besonders gefährlich hält.

Seit dem 7. Februar ist zudem die polizeiliche Überwachung in Polen ausgeweitet, Verdächtige können 18 Monate lang abgehört werden, Berufsgeheimnisse gelten nur bei Beichten und Gesprächen mit Verteidigern vor Gericht, nicht jedoch bei sonstigen Anwaltsgesprächen sowie vertraulichen Unterredungen mit Polizisten und Journalisten. Falschaussagen können mit bis zu zehn Jahren Haft geahndet werden. Nach Angaben der liberalen "Gazeta Wyborcza" seien bereits mehrere Verfahren gegen Oppositionspolitiker in der Vorbereitung.

Als wichtigstes Aufgabenfeld gilt jedoch für den Parteichef Jaroslaw Kaczynski- und somit auch für Zbigniew Ziobro - der Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010, bei der sein Bruder Lech mit seiner 95-köpfigen Entourage ums Leben kam. Kaczynski versprach in der Vergangenheit mehrfach, am sechsten Jahrestag Ergebnisse zu präsentieren. Seine Anhänger gehen von einem Anschlag aus, zudem wirft die PiS der damals regierenden PO vor, durch Fahrlässigkeit eine Teilschuld an dem Unglück zu haben.

Allgemein wird der Ton des Regierungslagers immer martialischer. Präsident Andrzej Duda hat kürzlich eine "offensive Geschichtspolitik" angekündigt. Dessen Berater, der rechte Soziologe Andrzej Zybertowicz, nannte die friedliche Solidaritätsdemonstration für Walesa in Warschau und Danzig einen Hybridkrieg Russlands gegen Polen.

Der Gegner wird als nicht-dazu-gehörig gebrandmarkt. "Polen schlimmster Sorte" ist so ein Kaczynski-Spruch, der immer noch die Runden macht. Hinzu kommt das staatliche Fernsehen und Radio, das nun fest auf Linie ist und entsprechend sendet. Dies ist ebenso vertraut wie bitter für liberale Polen.

Die Proteste der Oppositionsbewegung beeindrucken die Regierung nicht

Vertraut ist es, von Seiten des Staates angefeindet zu werden, dies war vor allem in den 80iger Jahren der Fall. Bitter ist es, von ehemaligen Mitstreitern der Solidarnosc zu einem Feind stilisiert zu werden.

So zum Beispiel Frau Zajeczkowska. Sie war in den frühen 80er Jahren in der Solidarnosc-Mazowsze engagiert und dafür interniert. Danach emigrierte sie in die USA. Doch seit zwei Wochen wohnt sie wieder in Polen, um erneut an den Protesten teilzunehmen.

Im "Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) sammeln sich gerade die Oppositionsparteien im Spektrum links, liberal, moderat-konservativ. Die KOD-Protestbewegung sieht sich wie die PiS-Bewegung als wahren Erben der Solidarnosc.

Besonders Ryszard Petru, der Ex-Banker und Gründer der wirtschaftsliberalen Partei "Modernes Polen" versucht ein überparteiliches Bündnis zu schaffen, um Kaczynski zum "Abtreten" zu zwingen. Am 12. März, am Tag, an dem die sogenannte "Venedig-Kommission" ihre Expertise zum Stand der Demokratie in Polen veröffentlicht - es geht um die Eingriffe ins Verfassungsgericht und in die öffentlich-rechtlichen Medien -, soll mittels einer Massendemonstration Druck auf die polnische Regierung ausgeübt werden, sich an die Empfehlungen zu halten und Korrekturen einzuführen.

Das polnische Verfassungsgericht hat am MIttwoch die Gesetzesneuerungen, die das Gericht selbst betreffen, als "verfassungswidrig" abgelehnt. Da das Gericht in einer neunköpfigen Besetzung tagte, sieht sich die Regierung nicht an das Ergebnis gebunden. Ministerpräsidentin Beata Szydzlo hatte bereits im Vorfeld erklärt, dass sie das Urteil nicht einmal publizieren werde. Der stellvertretenden Justizminister Patryk Jaki spielte das Verfahren als eine Art Kaffeekränzchen herunter.

Klein beizugeben gehört nicht zum Repertoire der "Partei Recht und Gerechtigkeit" (PiS). Auch sind die Umfragewerte gerade günstig. Nach jüngsten Erhebungen erhält die PiS eine Zustimmung von 34 Prozent, "Modernes Polen" 22 Prozent, die Oppositionspolitik der ehemaligen Regierungspartei PO halten derzeit gerade mal 17 Prozent der Polen für relevant.

Die Geschicke Polens werden noch eine Zeit von Jaroslaw Kaczynski bestimmt, wahrscheinlich bis zu den nächsten Parlamentswahlen.