"Aber ORDNUNG hat da geherrscht!"

Zur Rolle von Unsicherheit und Ordnung in Computergesellschaften

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Erfahrungen technischer Unsicherheit

Dass Technik nicht immer erwartungsgemäß funktioniert, ist eine Alltagserfahrung. Auch die Entwickler von Technik wissen, dass es nicht möglich ist, hundertprozentige Sicherheit zu gewährleisten. Oft verdrängt man jedoch dieses Wissen und regt sich stattdessen über unfähige Entwickler, Handbuchschreiber oder Anwender auf. Kommt es zu großen Störungen oder Katastrophen, werden diese in Medienereignissen ausführlich dargestellt und diskutiert. Dabei wird das in den jeweiligen Einzelfällen zweifellos vorhandene Gefahrenpotenzial in der medialen Rezeption zu allgemeineren Bedrohungsszenarien ausgeweitet.

Berichten, Kommentaren und Leseräußerungen sind Ratlosigkeit, das Hinterfragen der Rolle des Menschen bei den jeweiligen Störungen sowie der Wunsch oder die Illusion vermeintlich einfacher Lösungen zu entnehmen. Beispiele der letzten Jahre, an deren medialer Aufbereitung diese Beobachtungen gemacht werden können, sind etwa die Heartbleed-Lücke (2014), der Malaysia Airlines-Flug MH370 (2014), das Zugunglück in Bad Aibling oder der Trojaner Locky (beide 2016).

In Bezug auf Edward Snowden, Überwachung und Heartbleed hat 2014 der taz-Autor Daniel Kretschmar einen Kommentar veröffentlicht, der die emotionale Seite dieser technisch-politischen Gemengelage eindringlich darstellt. Er benennt zunächst sein Problem:

[M]it jeder neuen Enthüllung aus den Snowden-Papieren, jedem neuen Sicherheitsleck […] werden wir daran erinnert, dass es eine Vielzahl an Wegen gibt, unsere private Kommunikation zu überwachen.

Daniel Kretschmar: "Heartbleed" und der Kontrollverlust

Dann weitet Kretschmar seine Beobachtung aus. Er zeigt, dass die von ihm festgestellte Unsicherheit nicht nur aus seinem möglichen Überwacht-werden selbst herrührt, sondern vor allem daraus, dass er nicht nachvollziehen kann, wie die von ihm genutzte Technik funktioniert (und damit eben auch gar einschätzen, ob und wie er überwacht werden kann):

Die wissen alle viel besser als ich, was auf meinen Endgeräten so passiert. […] Die Software […] ist ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln. Keine Ahnung, was da drin steht, einfach keine Ahnung. […] Und dann diese ganzen Leaks, die Bugs […] zuletzt eben Heartbleed […] Was genau macht dieser Fehler?

Daniel Kretschmar

Schließlich nennt er fast verzweifelt Versuche, diese Unsicherheit unter Kontrolle zu bringen - Versuche, die scheitern:

Lesen, Erklärcartoons anschauen, wenigstens ungefähr verstehen, was da geschieht. Keine Chance - ich brauche Hilfe.

Daniel Kretschmar

Der im letzten Satz angedeutete Wechsel ins Soziale, wenn man "die Technik" nicht mehr versteht, kann auch in weniger dramatischen Kontexten nachgewiesen werden. Guten Gewissens lässt sich unterstellen, dass viele Menschen auch bei anderen Fällen ein ähnliches Gefühl der Überforderung empfinden. Schon bei eher trivialen Problemen, die sich im technischen Kundendienst oder bei Nutzerschulungen zeigen, sind solche Beobachtungen möglich.

Der Kern solcher Darstellungen ist der Wunsch nach Einfachheit, nach Zuverlässigkeit, nach Sicherheit - oder allgemeiner: Nach einer Ordnung zwischen Mensch und Technik, die wir einfach verstehen und sicherstellen können, ohne uns in ihre Tiefen einarbeiten zu müssen.

Ordnung

Im Alltag verbinden wir mit "Ordnung" geregelte Abläufe und kontrollierbare Zustände, insbesondere in Bezug auf das Zusammenleben von Menschen. Aufgrund der aktuellen Flüchtlingsproblematik bietet sich hierzu ein anekdotisches Beispiel an.

An einem Februar-Nachmittag wurde ich in einem Café in Magdeburg Zeuge einer Unterhaltung mehrerer älterer Damen. Zunächst wurde behauptet, dass syrische Flüchtlinge wohl kaum traumatisiert sein können, denn immerhin habe damals bei der eigenen Flucht von der Ostfront am Ende des 2. Weltkriegs auch nie jemand etwas gesagt. Direkt im Anschluss folgte die gegenseitige Versicherung, dass sich Flüchtlinge keine Fahrscheine für den öffentlichen Personennahverkehr kaufen würden. Schließlich kam man auf Syriens Präsident Assad zu sprechen. Der sei ja ein schlimmer Diktator - aber ORDNUNG habe unter ihm geherrscht, vor dem Krieg.

Das Wort "Ordnung" wurde besonders laut geäußert, was den offensichtlich großen Stellenwert dieses Konzepts deutlich machte. Das Flüchtlingen zugeschriebene Schwarzfahren lieferte sogleich einen scheinbaren Beleg dafür, dass sich Flüchtlinge nicht an die hierzulande übliche Ordnung halten würden, während der Verweis auf eigene Fluchterfahrungen zeigen sollte, dass man als Deutsche in so einer Situation keine Unsicherheit, also kein Zeichen potenzieller Unordnung, gezeigt habe.

Ähnliche Aussagen sind in letzter Zeit häufig zu beobachten. Hoffnungen und Ängste zur Stabilität und Wandlung gesellschaftlicher Ordnungen rücken im Zuge der Flüchtlingsproblematik in den Vordergrund. Ob man sich Politiker-Statements anschaut, an Stammtisch-, Kantinen oder Cafégesprächen teilnimmt, Zeitungsberichte liest, politische Facebook-Gruppen untersucht oder User-Kommentare auf Nachrichtenwebsites durchscrollt: Manchmal explizit, oft nur implizit wird von den Menschen die Frage aufgeworfen, welche Ordnungen gewollt sind, welche abgelehnt werden und wie das jeweils durchzusetzen sei.

Je nach eigener Situation, Rolle und Erfahrungen kommt es da zu ganz verschiedenen Referenzen auf gesellschaftliche Teilsysteme. In manchen Diskursen geht es um die Gesellschaft insgesamt: Die einen befürchten, Deutschland sei durch muslimische Flüchtlinge in seinen Grundfesten bedroht; andere weisen darauf hin, dass rechtspopulistische Parteien eine Bedrohung der demokratischen Ordnung darstellen. Damit verknüpft sind Diskurse zum religiösen Teilsystem: Die einen wollen das "christlich-europäische Abendland" verteidigen (und schränken dabei z.B. das Gebot der Nächstenliebe auf die eigene Familie ein); die anderen halten dagegen, dass bedingungslose Nächstenliebe gerade auch zu Fremden wichtiges Merkmal des Christentums sei.

Andere Diskurse kreisen um das System der Massenmedien: Die eine Seite bezeichnet die etablierten Medien als "Lügenpresse" oder kritisiert zumindest, dass es zu viel Meinung und zu wenig "objektive" Berichterstattung gebe; die andere Seite versucht, sich selbst als nach wie vor relevantes und verlässliches Medium zu präsentieren oder weist darauf hin, dass Journalismus noch nie "objektiv" war, weil er es gar nicht sein kann. Und schließlich gibt es Diskurse, die um das individuelle Wohl kreisen: Die einen sehen die eigene ökonomische Situation zumindest mittelfristig als gefährdet an, wenn noch mehr Flüchtlinge in das Land kommen; die anderen weisen darauf hin, dass einzelne Personen wirtschaftlich kaum unter den Flüchtlingen zu leiden haben.

Unabhängig von den jeweils konkret referenzierten Systemen (Gesellschaft insgesamt, Religion, Medien, Wirtschaft u.a.): Immer sind es Fragen nach Ordnung, die in den Diskursen anklingen - die Ordnung, die der Gesellschaft zugrunde liegt; die Ordnungsleistungen, die von Medien, Politik oder Religion erwartet werden; die Ordnung, die das eigene individuelle Leben sicherstellt. Mit der Frage nach Ordnung ist jedoch auch die Frage verbunden, wie viel Unsicherheit eine Ordnung aushalten kann, bis sie gefährdet ist.