Ist der islamistische Terror ein Spiegelbild Europas?

Die Reaktion der Medien auf die Anschläge in Brüssel ist klares Zeichen einer Komplizenschaft in der Aufmerksamkeitsökonomie

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Die Anschläge in Brüssel zeigen wieder einmal, dass eine offene Gesellschaft sich nicht vor solchen Gegnern schützen kann, die gezielt bevölkerte Orte in Städten auswählen, um dort ein Massaker auszurichten. Man kann vor allem deswegen kaum etwas dagegen ausrichten, weil die Täter ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen und so die Menschen selbst die Waffe sind, die sie an ihrem Körper tragen.

Deutlich wurde aber jetzt auch erneut, dass die Terroristen keineswegs irgendwo zuschlagen, sondern genau ihre Ziele aussuchen. Spätestens seit 9/11 ist klar, dass symbolisch aufgeladene Orte bevorzugt werden, die politische und wirtschaftliche Machtzentren sind oder die Zentren der Verkehrsnetze treffen, wodurch Gesellschaften lahmgelegt werden können. Gerade erst wurde im Herzen von Ankara in der Nähe des Regierungsviertels ein Anschlag auf einer belebten Straße auf einen zentralen Bushalteplatz verübt.

Nach IS-Propaganda wurden zur Feier der Anschläge Süßigkeiten in DeirEzzor, Syrien, verteilt.

Die Anschläge in Brüssel wiederholen das Schema der zuerst von al-Qaida eingeführten Terrorstrategie, an verschiedenen Orten oder nacheinander Anschläge auszuführen. Der Anschlag auf den Flughafen in Brüssel und vor allem derjenige auf die Metrostation in der Nähe der EU-Institutionen beanspruchen politische Symbolik und haben diese auch erhalten. Die Demonstration richtet sich wie immer primär auf die Medien, die auch dieses Mal reflexhaft mit Dauerberichterstattung, Live-Blogs, Sonderberichten, Bildern, Äußerungen von Experten und Betroffenen als Lautsprecher und Propagandamittel für die Terroristen wirken. Medien sind Komplizen der Terroristen. Das war seit Beginn der Terrorstrategie nach der Erfindung des Sprengstoffs als Mittel der Massentötung auch die Absicht der anarchistischen "Propaganda der Tat".

Obgleich die Strategie nun über 150 Jahre alt ist, triggert jeder Anschlag, der in den scheinbar sicheren Metropolen stattfindet, die erwartbaren Reaktionen ungebremst. Die Medien im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit überstürzen sich, die meisten und besten und neuesten Informationen und Einschätzungen zu liefern. In Zeiten des Internet hat sich gegenüber den Zeitungen als den Massenmedien, die zu Beginn der "Propaganda der Tat" das Monopol hatten, nur weiter beschleunigt, vervielfältigt und in Echtzeit globalisiert. Im Grunde können nun erst Terroristen die globale Gesellschaft direkt in Erregung versetzen, was natürlich auch immer heißt, dass mit dem Entsetzen, der Angst und den Forderungen nach Verschärfung von Strafen und Überwachen auch der Werther-Effekt stimuliert wird. Jeder derart propagierte Terroranschlag wird, ebenso wie jeder medial gehypte "Amoklauf", die westliche Variante des Selbstmordanschlags, Nachahmer anregen, die mit einer finalen Tat nach Aufmerksamkeit und Ruhm suchen.

Weltweit funktioniert die "Propaganda der Tat", gleichwohl bleibt fraglich, warum die islamistischen Terroristen offenbar einen nicht abzureißenden Strom an Willigen finden, die sich auch unter geringer medialer Aufmerksamkeit in Ländern wie Afghanistan, Syrien oder Irak opfern, um nicht einen symbolischen Ort, sondern nur militärisch eine Offensive zu verstärken oder Angreifer zu treffen. Ihr Ruhm besteht letztlich darin, dass sie in der Gruppe zu den Auserwählten zählen und in Internetbotschaften als fröhliche Märtyrer gewürdigt werden.

Aufmerksamkeit und Systemerhaltung

Im endlosen Strom der Selbstmordattentäter gehen diese meist jungen Männer meist nur mit lokaler Aufmerksamkeit in den Tod. Man könnte hier zu der Hypothese kommen, dass sich die jungen Männer, die unzufrieden mit der ihnen gebotenen Lebensperspektive sind und die nach Abenteuer und Thrill suchen, lieber mit einem sicheren explosiven Tod aus dem Leben ausscheiden, als langsam und gefügig abzusterben und ihr Heil im Konsum zu suchen.

Für Menschen, die der Selbsterhaltung, koste es, was es wolle, ergeben sind, ist dieser anarchische, im Religiösen nur versteckte Wille nicht verständlich. Daher geht man davon aus, dass die jungen Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, während man sich selbst frei davon sieht, auch wenn man durch Stillhalten oder Mitwirkung ein System am Laufen hält, das gnadenlos, aber indirekt Menschen in die Armut stürzt oder dort hält, Kriege führt und Machtsysteme unterstützt. Ein Beispiel wären wiederum Medien, in denen auch über Hintergründe und Interessen aufgeklärt wird, aber die eben auch Kriege begleiten, brutale oder auch zufällige Gewinner hofieren, das Aufmerksamkeitskarrieremodell von "Prominenten" feiern oder eben "gelungene" Terroranschläge durch breite Berichterstattung würdigen.

Anarchisten waren Ende des 19. Jahrhunderts keine religiösen Selbstmordattentäter, die auf das Paradies mit Jungfrauen aus waren. Sie begehrten gegen Ungerechtigkeiten auf, zielten in der Regel auf Vertreter des Systems und glaubten, dass ein Anschlag eine Initialzündung zum Aufstand des Volkes sein könnte. Terroristen glauben nicht an die Mühen der Ebene, an langfristige politische Arbeit, sie wollen das Ergebnis schnell und ohne zu warten. Das wiederum macht die Terroristen zum Spiegel einer Gesellschaft, die sofort individualisierte Bedürfnisbefriedung erwartet. Darin sind Terroristen ein Spiegelbild der Gesellschaft, die Nachrichten, Waren und Bedürfnisbefriedung möglichst in Echtzeit erwartet - und daran glaubt, dass Individuen den Hebel in der Hand halten können, globale Veränderungen zu bewirken. Diese Vorstellung wurde in der Chaostheorie gepflegt, wenn ein Flügelschlag eines Schmetterlings einen Sturm auslösen kann, sie wird aber auch im amerikanischen Traum vom Aufstieg eines Tellerwäschers oder von der vielfach propagierten Ideologie verbreitet, dass man alles erreichen kann, wenn man es nur will.

Jetzt wird wieder einmal rituell gepredigt, dass die Terroristen unsere Lebensweise zerstören wollen, dass sie das Andere zu uns seien. Was auf der Seite von Bundeskanzlerin Merkel veröffentlicht wurde, ist nur ein Beispiel für die Darstellungen, dass die Terroristen das ganz Andere sind:

Die Täter seien Feinde aller Werte, für die Europa heute stehe und zu denen wir uns als Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam bekennen, und zwar gerade an diesem Tag und mit großem Stolz: "die Werte der Freiheit, der Demokratie, des friedlichen Zusammenlebens als selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger". "Die Mörder von Brüssel sind Terroristen ohne Rücksicht auf die Gebote der Menschlichkeit", sagte die Bundeskanzlerin. "Der Tatort Brüssel erinnert uns ganz besonders daran: Die Täter sind Feinde aller Werte, für die Europa heute steht."

Die Werte von Europa stellen sich dann auch in einem Deal mit der Türkei dar, deren Regierung Minderheiten brutal unterdrückt, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit unterdrückt und knallharte geopolitische Interessen verfolgt. Die Werte von Europa bestehen auch darin, Länder wie Saudi-Arabien zu unterstützen, in denen Menschen wie beim IS öffentlich geköpft oder gekreuzigt werden, nur weil die Länder reich sind und die heimische Wirtschaft fördern. Islamisten profitieren auch von solcher Doppelmoral und von der damit verbundenen Korruption. Aber es ist immer einfacher, in Schwarz und Weiß zu malen. Auch das haben Regierungen und Medien mit den Terroristen gemeinsam. Man könnte auch einmal fragen, ob die westlichen Demokratien den islamistischen Terrorismus brauchen, um den Status quo zu erhalten? Und ist der islamistische Terror überhaupt religiös motiviert?