Das Geheimnis des Bösen

Der italienische Philosoph Agamben diagnostiziert einen todbringenden Leerlauf der Kirche, aber seine Kritik reicht weiter

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Wer sich von der heutigen Kirche einen Begriff machen will, muss erkennen, dass sie in allen Bereichen den entfesselten Tendenzen [der] profanen Welt folgt (…).

Giorgio Agamben

Giorgio Agamben, italienischer Philosoph (Jg. 1942) und kontrovers diskutierter intellektueller Provokateur, geht in einer aktuellen philosophisch-kritischen Bilanz auf das unterbrochene Pontifikat Benedikts im Jahre 2013 ein und stellt dessen Amtszeit in einen interessanten Bezug.

Dabei öffnet er zunächst unser Blickfeld: Unter die prägnanten Geschichtsmächte, die den Weg des Abendlandes gelenkt haben, so Agamben, sei neben der Politik, der Kunst und Philosophie auch die Religion zu rechnen. Alle diese Kräfte seien spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr imstande gewesen, die Völker Europas für bestimmte Ziele zu mobilisieren. Die kapitalistische Ideologie sieht Agamben im Todeskampf begriffen, die Kirche geistig erschöpft, den Westen insgesamt in einer "epochalen Situation".

Was nun die Rolle der Kirche angeht, so bilanziert Agamben eine interessante "Denkschule der Zweigeteiltheit", die er aus der Theologie herleitet. Agamben beruft sich dabei auf den Kirchenschriftsteller Tyconius, der in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts in Nordafrika lehrte. Tyconius unterscheide zwischen einer nichtswürdigen "schwarzen Kirche" und einer ehrbaren Kirche, deren beiden Leiber "unentwirrbar vermischt" seien (laut Agamben "das Paradox der Kirche"). Die beiden Kirchen-Leiber würden sich jedoch am Ende der Zeiten voneinander trennen.

Ratzinger alias Benedikt XVI. hatte sich als Theologe der frühen Jahre mit Tyconius’ Kirchenbegriff befasst, kannte dessen Kommentar zur Johannes-Offenbarung, worauf Agamben ausdrücklich hinweist.1

Eine pervertierte Kirche

Die zweigeteilte Kirche nun amtet in einer "eschatologischen Zeit", verdrängt diese Tatsache aber um des eigenen Machtanspruchs willen. Hier bezieht Agamben den Apostel Paulus in seine Überlegungen ein. Es geht um das Drama des Endes, das "Ende der Welt und der Zeit". Gekennzeichnet ist diese Zeit durch eine binäre Struktur, diese zeigt sich in dem Konflikt eines aufschiebenden und eines auf Entscheidung drängenden Elementes.

Paulus spricht in seinem 2. Brief an die Thessalonicher von dem, "was aufhält" (das "katechon", das das Ende aufhält), Agamben nennt es auch den "Aufhalter". Und genau in dieser Rolle erkennt er die pervertierte Kirche (a.a.O. 22), die mit ihrer fatalen Institutionalisierung zur "aufhaltenden" - und damit zur antichristlichen - Macht geworden sei.

Somit sei das "katechon", das das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi aufschiebt, in der Kirche selbst zu suchen. Agamben stellt den Amtsverzicht Benedikts vor drei Jahren in diesen eschatologischen Kontext, markiert ihn als einen Vorgang, der sehr konkret die "historische Zeit, die auch die unsere ist" (a.a.O. 27), betreffe - mit weitreichender Bedeutung: Benedikt habe mitten in der Legitimitätskrise einer unempfänglich gewordenen Kurie den Verrat an der Eschatologie erkannt und mit dem historischen Entschluss, sein Pontifikat aufzugeben, die Legitimität der Institution selbst infrage gestellt. Ein radikaler Schritt, der für Agamben Signalfunktion hat.

Wir: Akteure im Drama

Paulus spricht an der Stelle 2. Thessalonicher 2:8 auch von der "Gegenwart des Gesetzlosen", vom Offenbarwerden seiner Gegenwart ("Geheimnis der Anomie"). In der modernen demokratischen Wirklichkeit, so Agambens Resümee, ist Gerechtigkeit ebenso im Verfall begriffen wie die Legitimität im Raum der Kirche. Es offenbart sich die Anomie (griech. anomos).

Staaten handeln ganz unverhohlen "wie Gesetzlose", und das vor unseren Augen. Die Grenzen zwischen Staatsgewalt und Terrorismus verschwimmen. Die herrschenden Mächte, Kirche wie Staaten, sind zu Hütern einer kraftlosen Legalität verkommen, fragen jedoch nicht mehr nach der eigentlichen Grundlage der Legitimität.

Nach Agamben ist mit dem Fall Ratzinger daher zugleich ein genuin politisches Problem beleuchtet, nämlich das Problem schwindender Werte, fokussiert im Paradigma der Gerechtigkeit. Im "Drama der Endzeit" sei jedermann aufgerufen, an diesem Punkt persönlich Verantwortung zu übernehmen. Das gelte für die Kirche, aber auch für jede profane Institution, die sich im "todbringenden Leerlauf" befindet.