Vorwurf der ethnischen Säuberung gegen türkische Regierung

Mardin. Foto: Nevit Dilmen/CC BY-SA 3.0

Die Strategie der Vertreibung im Südosten des Landes steht im Zentrum der Kritik der IPPNW, die sich auch gegen die EU richtet

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Eine Delegation der Organisation Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW) hielt sich im März für zwei Wochen in Ankara und im Südosten der Türkei auf. Im Gepäck hatten die Delegationsteilnehmer bei ihrer Rückkehr jede Menge Informationen und Augenzeugenberichte aus den besetzten Städten - und vor allem scharfe Kritik am Kriegseinsatz der türkischen Streitkräfte gegen die eigene kurdische Zivilbevölkerung.

Die Gesprächspartner der Delegation in der Türkei kritisierten die EU-Politik, die wegen der Flüchtlingsfrage zum Krieg gegen die Zivilbevölkerung in der Südosttürkei weitgehend schweigt. Besonders wurden die Rüstungsexporte der Bundesrepublik in die Türkei. Sie werde als "Unterstützung dieser Gewaltpolitik wahrgenommen", berichtet die Leiterin der Delegation, Gisela Penteker:

Was wir an Leid erfahren und an Zerstörung ganzer Straßenzüge in Cizre gesehen haben, sprengte unsere Vorstellungskraft.

Strategie der Vertreibung

Die Regierung Erdogan betreibe durch die massive Zerstörung von Stadtvierteln in der Altstadt von Diyarbakir, Cizre und anderen Städten eine gezielte Strategie der Vertreibung, so das Credo der Gesprächspartner in der Region. Es gehe um eine politisch-ethnische Säuberung der Region, um der PKK die Basis zu entziehen wie in den 1990er Jahren, als tausende kurdische Dörfer zerstört wurden und die Bevölkerung vertrieben wurde.

Traditionell genießt die PKK bei ca. 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung in der Region große Sympathien. Das kommt auch immer wieder in den zahlreichen Filmbeiträgen zu Zerstörung und Menschenrechtsverletzungen, die in den sozialen Netzwerken kursieren, zum Ausdruck. Selten aber gelangt ein Beitrag bei uns in die Leitmedien oder hat Einfluss auf die Politik der Bundesregierung.

Durch die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und der geplanten Ansiedlung tausender sunnitischer syrischer Flüchtlinge soll die Demographie in den kurdischen Gebieten massiv verändert werden. Es wird von einer Arabisierung der Kurdengebiete berichtet und einer Islamisierung durch den Bau neuer Moscheen. Es ist die Rede von einer Schaffung eines "sunnitischen Gürtels" entlang der syrischen Grenze.

Dazu passt auch die geplante Städtebaupolitik der Regierung in der Region. Die traditionellen alten Stadtviertel, wo die ärmere Bevölkerung lebt, sollen teilweise abgerissen und durch neue Gebäudekomplexe der staatlichen Wohnungsbaubehörde Toplu Konut İdaresi (TOKİ) ersetzt werden. Das sind mehrstöckige Wohnhäuser, die für sich abgeschottet sind, ähnlich unserer Hochhaussiedlungen, wo sich kaum soziale Strukturen entwickeln können.

Angeblich sollen diese "Sozialwohnungen" für Bevölkerungsteile mit mittlerem oder geringem Einkommen sein. Allerdings kann sich die ärmere Bevölkerung diese Wohnungen nicht leisten, der bisherige Bau dieser Wohnkomplexe ging immer mit einer Gentrifizierung einher. Dies scheint auch so gewünscht, denn schon jetzt werden dafür Fakten geschaffen: In Cizre kamen nach der Belagerung die Bagger und rissen ganze Straßenzüge ab - ohne der Bevölkerung die Chance zu geben, aus den zerstörten Häusern ihre letzte Habe zu bergen, berichtet IPPNW.

Eine eilig am Sonntag beschlossene Regierungsentscheidung sieht nun die Enteignung der Altstadtviertel in Diyarbakir und Silopi vor. Eine im Internet veröffentlichte Karte zeigt, dass von der Enteignung rund 2/3 der Altstadt von Diyarbakir betroffen wären.

Rot markiert: beschlagnahmte Gebiete von Diyarbakirs Altstadt

Nach Auskunft der Co-Bürgermeisterin Gültan Kışanak sind rund 82% des Bezirks von der "Zur-Habe-Nahme" betroffen. Kışanak bezweifelt, dass dies rechtlich möglich ist und kündigte rechtliche Schritte dagegen an. Auch alle noch in der Altstadt vorhandenen Kirchen wie die armenische Kirche Surp Giragos Kilisesi fallen unter die Verstaatlichung.

Die lokalen Kommunalbehörden befürchten, dass die türkische Regierung mit den EU-Geldern zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung vorantreiben wird - unter dem Vorwand, für die syrischen Flüchtlinge Wohnraum zu schaffen. Der Oberbürgermeister von Viransehir wird mit der Mahnung zitiert, die Flüchtlingspolitik dürfe die Rechte der Kurden nicht missachten. Gerade Deutschland dürfe mit dem zugesagten Geld keine solchen staatlichen Umsiedlungsprojekte unterstützen.

"Die AKP ist keine Partei, sie ist der Staat", bringt der Oberbürgermeister von Viransehir, Emrullah Cin, die Situation auf den Punkt. Alle offiziellen Funktionsträger, von der Regierung über die Gouverneure bis zu den Landräten sprächen mit Erdogans Stimme. Diese Funktionsträger werden in der Türkei nicht von der Bevölkerung gewählt, sondern von der Regierung eingesetzt.

Sie seien angewiesen, Gesetze zu ignorieren, wenn die Politik der Kommunen nicht den Interessen der AKP-Regierung entspräche, so der Oberbürgermeister. In seiner Amtszeit stand die Stadtverwaltung unter ständiger Kontrolle des Innenministeriums. Die Kontrolleure des Innenministeriums haben sich z.B. direkt in Fragen wie Tierhaltung oder Nähprojekte von Frauen eingemischt und diese abgelehnt. Sie verfolgten damit das Ziel, die HDP-Verwaltung bei den Bürgern vorzuführen, zu diskreditieren und die Selbstverwaltungsstrukturen zu zerstören. Auch bekämen die HDP-regierten Kommunen weniger Gelder als die von der AKP regierten.