Erdogan - Pressekontrollwahn

Das fragwürdige Verständnis von (medialer) Meinungsfreiheit im Sultanat

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist schnell verschnupft. Nein, nicht die Anfälligkeit für die gemeine Influenza plagt den Mann, sondern die Vorstellung, dass in seinem "Tayyipistan" (Deniz Yücel, Die Welt) und über sein Tayyipistan nur geschrieben und gesagt werden darf, was ihm beliebt. Wer sich nicht daran hält, wird mit Prozessen überzogen oder bekommt zumindest den Unmut Erdogans zu spüren, dessen Argusaugen offensichtlich überall sind, mindestens aber bis Almanya reichen.

Den Unmut spüren Journalisten, wie z.B. Can Dündar und Erdem Gül, Chefredakteur und Büroleiter des Hauptstadtbüros der links-liberalen Tageszeitung Cumhüriyet, die sich wegen Spionage vor einem Gericht verantworten müssen, dazu die rechts-konservative Tageszeitung Zaman, deren Redaktionsräume die türkische Regierung Anfang März 2016 stürmen ließ, und die mittels Gerichten unter Staatsaufsicht gestellt wurde.

Dazu knapp 2.000 Personen, Journalisten, Blogger, aber auch Jugendliche, gegen die ein Verfahren wegen "Präsidentenbeleidigung" eingeleitet wurde, ausländische Journalistinnen und Journalisten, denen ein Presseausweis verweigert wurde, was einem Berufsverbot gleichkommt, europäische Diplomaten, die den Cumhüriyet-Prozess beobachten wollten, speziell der britische Generalkonsul Leigh Turner und der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, und last, but sicher not least, das NDR-Satire-Magazin extra3.

Das Leben ist die beste Satire

Kein Witz: Erdogan bestellte in der vergangenen Woche den deutschen Botschafter Erdmann ein, um sich bei ihm über einen etwa zwei-minütigen Beitrag des Satire-Magazins vom 17.3.2016 zum Thema "Pressefreiheit und Menschenrechte in der Türkei" zu beschweren. Nach der Melodie von Nenas "Irgendwie, irgendwo, irgendwann" wurde sich in "unser Song für Istanbul" über den in Sachen Pressefreiheit und Menschenrechte diplomatisch ausgedrückt verhaltenskreativen "Erdowie, Erdowo, Erdogan" belustigt.

"Politiker am Rande des Nervenzusammenbruchs" macht extra 3 Werbung für den satirischen Wochen-Rückblick. Zumindest bei Erdogan scheint der Nervenkaschper nicht weit. Die Vorladung Erdmann war kein Scherz, keine Einladung zu einem netten Plausch, sondern eine hochernste Angelegenheit, die nur noch durch die Ausweisung Erdmanns aus der Türkei gesteigert werden könnte.

Medienberichten zufolge beschwerte sich Erdogan nicht nur über den Spot, sondern forderte Erdmann auf, Sorge dafür zu tragen, dass dieser künftig nicht mehr ausgestrahlt werde.

Ein Streisand-Effekt

Das klappt allerdings nicht so ganz. Landauf, landab spielen Radiostationen mittlerweile den Song, der ursprünglich ja tatsächlich nur für eine einmalige Ausstrahlung gedacht war. Erdogan hat also genau das Gegenteil dessen erreicht, was er wollte: einen, diplomatisch ausgedrückt, verhaltenskreativen Streisand-Effekt.

Extra3-Redaktionsleiter Andreas Lange sagte in einem NDR-Interview, die Redaktion sei durch Hörerzuschriften in sozialen Netzwerken darauf aufmerksam geworden und habe es nicht glauben können. Daraufhin habe das ARD-Hauptstadt-Studio recherchiert und festgestellt, dass es sich um keine Ente, sondern bittere Realität handele. Er sei traurig ob des Verständnisses der Meinungsfreiheit in der Türkei, so Lange.

Als Reaktion hat extra 3 Erdogan am vergangenen Dienstagmorgen bei der Redaktionssitzung zum "Mitarbeiter des Monats" gekürt und beschlossen, den Song mit türkischen und englischen Untertiteln zu versehen. Der NDR Chefredakteur Fernsehen, Andreas Cichowicz, und der "Deutsche Journalisten-Verband (DJV), kritisierten die Einmischung Erdogans. Der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen bescheinigte Erdogan in einer mündlichen Stellungnahme im NDR- Radio fehlenden Sinn für Humor.

Zensur und diplomatische Verwicklungen

Über Humor lässt sich streiten, über Zensur nicht. Erdogan demonstriert nicht seine Humorlosigkeit, sondern offenbart seine Vorstellung von Pressefreiheit, die darin besteht, der Regierung genehme Berichte zu drucken und zu senden. Das gilt neuerdings anscheinend nicht nur für die türkische Presse, sondern auch für die deutsche.

Vermutlich fühlt sich Sultan Erdogan durch den Flüchtlings-Deal mit der EU legitimiert, nicht nur in der Türkei, sondern in ganz Europa in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit für Ordnung zu sorgen. Der deutsche Botschafter Erdmann und sein britischer Kollege Turner haben am vergangenen Freitag zudem Erdogans Zorn auf sich gezogen, weil sie sich als Beobachter bei dem Prozess gegen Dündar und Gül eingefunden hatten. Für den Sultan von Tayyipistan stellt das eine eklatante Protokollverletzung und Kompetenzüberschreitung dar.

In dem Prozess müssen sich Dündar und Gül wegen Spionage, Preisgabe von Staatsgeheimnissen, Vorbereitung eines Staatsstreichs und der Beihilfe zur Bildung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Beiden droht eine Haftstrafe von jeweils bis zu 15 Jahren.