Die Floskeln der Macht

Wie wir durch Sprache manipuliert werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Deutschland braucht "Reformen", und für die europäischen Nachbarn gilt das erst recht, denn die haben ihre "Hausaufgaben" nicht gemacht. Dem "Steuerstaat" müssen wir endlich mit "Bürokratieabbau" zu Leibe rücken, um die "Eigeninitiative" zu stärken, was wiederum ganz sicher der "Wettbewerbsfähigkeit" dient - genauso wie die Senkung der "Lohnnebenkosten".

Und so weiter und so fort. So klingt es, wenn die regierenden Politiker, die Lobbyisten und manche Journalisten zu uns sprechen. Sie reden in einer Art Ikea-Sprache: jede Floskel ein vorgefertigter Bausatz. Sie gaukeln uns auf diese Art etwas vor: Wenn Politiker "Reformen" sagen, geht es meistens um Lohnverzicht und Rentenkürzung. Den "Steuerstaat" prangern sie an, wenn sie Spitzenverdiener und Vermögende vor einer angemessenen Beteiligung an der Finanzierung des Gemeinwohls schützen wollen.

"Bürokratieabbau" heißt übersetzt Abbau des Kündigungsschutzes oder Verzicht auf Kontrolle, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und -bedingungen. Die "Eigeninitiative" kommt ins Spiel, wenn die Kosten der Daseinsvorsorge, etwa für Gesundheit und künftige Renten, immer stärker auf uns Bürgerinnen und Bürger abgewälzt werden sollen. "Wettbewerbsfähigkeit" bedeutet, in klares Deutsch übersetzt, einen internationalen Wettlauf um Kostensenkungen für Unternehmen - zum Beispiel bei den "Lohnnebenkosten", deren Senkung zwangsläufig mit dem Abbau sozialer Leistungen verbunden ist.

Sollten Sie den ganzen Politsprech nicht mehr hören wollen, dann ist das verständlich, aber nicht zu empfehlen. Denn hinter der Formelsprache der Regierenden verbergen sich, sorgfältig verklausuliert, sehr konkrete Inhalte, Ideologien und Ziele. Das gilt ganz besonders in den Bereichen Wirtschaft sowie Finanz- und Sozialpolitik - von Börse bis Rente, von Arbeit bis Zins.

Was meinen die Mächtigen, ohne es zu sagen, wenn sie uns ihre "Gute-Macht-Geschichten" erzählen? Wer die Codes der Macht nicht durchschaut, wird sich auch nicht wehren können, wenn es notwendig ist. Es ist nicht immer einfach, die wirkliche Bedeutung zu erkennen, die hinter dem Wörternebel von Politikern, Interessenvertretern und ihren Gefolgsleuten in der Wissenschaft zu verschwinden droht. Und deshalb schalten viele Menschen - verständlicherweise, wie gesagt - auf Durchzug. Sie halten sich an den Soziologen Niklas Luhmann, der für diese Sprache den Begriff "Lingua Blablativa" geprägt hat, und hören einfach nicht mehr zu.

So leicht sollten wir es der herrschenden Politik allerdings nicht machen. Denn was Politiker und ihre ideologischen Stichwortgeber wirklich meinen, das kann jeden und jede von uns direkt und im Zweifel existenziell betreffen. Das tut es zum Teil bereits - siehe nur den stetigen Abbau bei der gesetzlichen Rente, die ungerechte Verteilung des Reichtums oder die einseitige Sparpolitik des Staates. Wenn wir wissen wollen, was die herrschende Politik mit uns vorhat, werden wir nicht daran vorbeikommen, ihre Formeln zu entziffern.

Der Text wurde dem Buch "Gute-Macht-Geschichten" entnommen, das gerade im Westend Verlag erschienen ist. Daniel Baumann, Ressortleiter Wirtschaft der Frankfurter Rundschau, und Stephan Hebel, Leitartikler, Kommentator und politischer Autor und ständiges Mitglied in der Jury für das "Unwort des Jahres", übersetzen die wichtigsten Begriffe aus dem Wörterbuch der Irreführung in leicht verständlichen Klartext und benennen Alternativen.

Was uns da täglich erzählt wird, ist nicht einfach nur Blabla. Es ist die Fassade, hinter der sich ein sehr konkretes Programm verbirgt - ein Programm, das mit etwas Übung auch politische Laien verstehen und durchschauen können. Denn die Macht handelt auch deshalb so ungestört, weil wir ihre Geschichten allzu leicht glauben: "Was ist schließlich ein Papst, ein Präsident oder ein Generalsekretar anderes als jemand, der sich für einen Papst oder einen Generalsekretar oder genauer: für die Kirche, den Staat, die Partei oder die Nation hält?", fragte einst der große Soziologe Pierre Bourdieu. Und er fuhr fort: "Das einzige, was ihn von der Figur in der Komödie oder vom Größenwahnsinnigen unterscheidet, ist, das man ihn im allgemeinen ernst nimmt und ihm damit das Recht auf diese Art von ‚legitimem Schwindel‘ (…) zuerkennt."

Der Politologe Martin Greiffenhagen druckt es noch prägnanter aus: "Wer die Dinge benennt, beherrscht sie. Definitionen schaffen 'Realitäten'." Und von dem SPD-Politiker Erhard Eppler stammt der Satz, dass in der Politik "das Reden sehr wohl Handeln bedeutet". Das heißt: Die Sprache der Politik beschreibt nicht nur unsere Wirklichkeit aus einer bestimmten Perspektive, sondern verändert und formt sie zugleich. Das Klima einer Gesellschaft, das Denken und Handeln ihrer Bürgerinnen und Bürger, die politische Kultur eines Landes - all das bleibt niemals unberührt von den Begriffen, in denen es wahrgenommen wird.

Ob die Mehrheit der Deutschen die Lage in Griechenland mit dem Wort "Reformbedarf" verbindet oder mit dem Wort "Armut", das verändert die politische Realität auch hier: "Begriffe, in denen wir denken, prägen das Bild von der politisch-sozialen Wirklichkeit und beeinflussen Verhalten. Bei dieser 'konzeptuellen' Funktion der Sprache handelt es sich um strukturelle Macht." Oder, mit den Worten von Friedrich Nietzsche: "Es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue 'Dinge' zu schaffen."

Die Verwendung bestimmter Begriffe wie "Demografie" oder "Arbeitskosten", die mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen werden, dient mehr der Angstmacherei als der treffenden Beschreibung der Realität. Wer das erst einmal erkannt hat, kann befreit und völlig neu über die Zukunft unserer Gesellschaft nachdenken und der Sprache der Macht etwas entgegenhalten. Auch wenn das manchen Interessengruppen nicht gefallen wird. Wir müssen es uns zum Ziel setzen, das erschreckend eindimensionale Denken und Handeln in unserer politischen Öffentlichkeit aufzubrechen.

Die in verschleiernde Worte gekleideten Ansprüche der Mächtigen nicht "ernst zu nehmen" (Bourdieu), bedeutet keineswegs, achselzuckend über sie zu lächeln. Aber dass wir aufhören sollten, ihre Legenden mit der Wahrheit zu verwechseln - das bedeutet es sehr wohl. Der herrschenden Politik die Hegemonie über die Begriffe streitig zu machen, das kann den ersten Schritt zum Besseren bedeuten. Denn einer Gesellschaft, die sich nicht (mehr) belügen lasst, die aber auch nicht abwinkt oder gar resigniert; einer Gesellschaft, die Begriffe wie "Reform" zurückerobert und wieder als Verbesserung des allgemeinen Wohlstands definiert - einer solchen Gesellschaft wird man auch eine Politik nicht länger "verkaufen" können, die vor allem im Interesse mächtiger Minderheiten liegt.

Das ist, zugegeben, ziemlich ehrgeizig gedacht. Wir wissen, dass ein Buch wie dieses die Welt nicht sofort verändert. Aber vielleicht regt es den einen oder die andere an, auf die Worthülsen, mit denen wir Tag für Tag abgespeist werden, mit neuem und kritischem Interesse zu hören. Wenn wir dazu beitragen könnten, hätten wir schon viel erreicht. Die Idee zu diesem Buch ist aus sehr ähnlichen Erfahrungen entstanden, die wir - trotz unserer Herkunft aus unterschiedlichen Generationen und Lebenszusammenhängen - in unserem journalistischen Alltag gesammelt haben.

Uns beiden ist immer deutlicher aufgefallen, wie sehr die Wortprägungen und -erfindungen mächtiger Interessengruppen die Sprache der Politik beherrschen - bis weit in die Medien hinein. Immer wieder mussten wir uns zum Beispiel in der Griechenland-Krise fragen: Was tun, wenn der "Vorschlag", die griechischen Rentnerinnen und Rentner auch weiter für die sündhaft teure "Rettung" ihres Landes bezahlen zu lassen, landauf, landab als "Hilfe" beschrieben wird? Was, wenn selbst kritische Kolleginnen und Kollegen sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als die Sprachregelung von Angela Merkel und Co. zu übernehmen?

Im Redaktionsalltag mag man sich damit behelfen, so oft wie möglich Anführungszeichen zu setzen oder erklärende Anmerkungen einzufügen, wann immer es geht. Aber die Erfahrung weckte in uns den Wunsch, allen Interessierten eine Dechiffrierhilfe an die Hand zu geben, die die Bedeutung der wichtigsten politischen Schlagwörter zu entschlüsseln und die täglich wiedergekauten "Gute-Macht-Geschichten" zu entlarven hilft.

Alternativlos

al | ter | na | tiv | los: "keine Alternativlösung zulassend, keine andere Möglichkeit bietend, ohne Alternative", schreibt der Duden neutral. Aber in der Politik ist "alternativlos" zu einem gefährlichen Kampfbegriff geworden, mit dem suggeriert wird, das Volk und seine Vertreter im Parlament hätten keine Möglichkeit, anders zu entscheiden als von der Regierung gewünscht.

Damit steht die Rede von der "Alternativlosigkeit" im direkten Gegensatz zu einem Grundelement der Demokratie, nämlich der öffentlichen Debatte über alternative Politikmodelle. Denn, so die Jury, die den Begriff zum "Unwort des Jahres 2010" erklärte: "Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe."

Dieser geradezu antidemokratische Charakter der Formel von der "Alternativlosigkeit" hindert viele Politikerinnen und Politiker nicht daran, sie im Munde zu führen. Das galt zunächst vor allem für die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher. Sie begleitete ihre Politik der Marktliberalisierung und des Sozialabbaus mit der Parole "There is no alternative", die als "TINA" abgekürzt traurigen Kultstatus erreichte.

Als würdige Nachfolgerin Thatchers erweist sich in Deutschland vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und das sogar an jenem Ort, der wie kein anderer der Auseinandersetzung über politische Alternativen dienen sollte: im Deutschen Bundestag. Dort sagte die Kanzlerin am 5. Mai 2010: "Die zu beschließenden Hilfen für Griechenland sind alternativlos, um die Finanzstabilität des Euro-Gebietes zu sichern."

Was sie unter diesen angeblich alternativlose "Hilfen" versteht, war damals so klar wie heute: Das Land erhält Kredite und muss im Gegenzug brutalstmöglich sparen, was sich im Merkel-Deutsch auch damals schon so anhörte: "Wir haben darauf bestanden, dass Griechenland sich zu einer umfassenden Eigenanstrengung verpflichtet. (…) Die Vereinbarung sieht einschneidende Maßnahmen vor." Unter anderem ging es, wie später auch, um Kürzungen bei Beamtengehältern und Renten sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Diese Politik, die sich inzwischen mehrmals als untauglich zur Überwindung der griechischen Krise erwiesen hat, ist selbstverständlich so wenig "alternativlos" wie jede andere politische Entscheidung auch. Sowohl die Verfechter der nachfrageorientierten Wirtschaftswissenschaft als auch Teile der leider ziemlich schwachen Opposition im Bundestag betonten im Rahmen der Euro-Debatte unermüdlich, dass Griechenland die Abwärtsspirale aus Sparauflagen und immer neuen Krediten (also Schulden) nur durch ein "Zukunfts- und Investitionsprogramm" überwinden könne, das etwa mit Hilfe der jahrelang versprochenen, aber nicht realisierten Finanztransaktionssteuer oder durch "die Einführung einer europaweiten Vermögensabgabe für Millionäre" zu finanzieren sei.

Und selbst bei den rechten Parolen national denkender Euro-Ausstiegsbefürworter handelt es sich, so fragwürdig sie auch sind, um Alternativen. Wenn Merkels Politik hier und da tatsächlich "alternativlos" erscheint, dann nur deshalb, weil selbst die realistischsten Alternativen im politischen Diskurs einer breiten Öffentlichkeit kaum noch Raum greifen können. Zumal in einer Zeit, da die zweite größere Partei, eigentlich geborene Trägerin politischer Alternativen, sich als Partnerin in der großen Koalition Merkels Maximen weitgehend unterworfen hat - gerade auch in der Europapolitik.

Und doch bleibt richtig, was Kritiker den Propheten der Alternativlosigkeit entgegenhalten: zum Beispiel "TATA" ("There are thousands of alternatives") oder "TAPAS" ("There are plenty alternative systems"). Oder auf Deutsch und mit den Worten eines Rundfunkkommentators: "Es gibt zu allem eine Alternative, nur zum Sterben nicht." Für die Demokratie sieht es sogar noch besser aus: Sie muss nicht sterben, wenn man sie nur am Leben hält. Am besten, indem man über Alternativen redet statt über die angebliche "Alternativlosigkeit" der eigenen Politik.