Wie die Fracking-Industrie entstand

"Halliburton Fracturing Operation in the Bakken Formation, North Dakota". Bild: Joshua Doubek/CC BY-SA 3.0

Kein Boom, keine Revolution - nur Planung. Der Fracking-Schock, Teil 1

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Der Ölpreisabsturz treibt internationale Ölunternehmen und Förderstaaten in die Krise. Bisher fehlt eine umfassende Einordnung der Entwicklung. Wer treibt, und wer wird getrieben? Und was wurde aus Peak-Oil? Geht die Fracking-Industrie nun pleite oder nicht?

Am gestrigen Mittwoch traf an der Südküste Norwegens eine große Lieferung verflüssigten Schiefergases aus den USA ein - per Schiff. Der Tanker mit der LNG-Ladung ist die erste Lieferung dieser Art nach Europa. Dem ging jedoch ein erstes ebenso bedeutendes Ereignis voraus.

Ende Januar liefen zwei Ölfrachter aus Houston/Texas in französische Häfen ein. Die "Seaqueen" und "Theo T" stellen wichtige Schritte in einem epochalen Umbruch der weltweiten Energiemärkte dar. Seit dem Energy Policy and Conservation Act von 1975 durften amerikanische Energieunternehmen kein unverarbeitetes Erdöl oder Erdgas aus den USA exportieren. Mit den radikal ansteigenden Förderzahlen auf dem nordamerikanischen Kontinent hatten die Ölmultis begonnen, in Washington hartnäckig dafür zu werben, dass der Export-Ban aufgehoben wird. (Link auf 46464)

Was viele Beobachter erst als Folge des Freihandelsvertrags TTIP erwarteten, beginnt bereits jetzt: Die US-Unternehmen bringen mithilfe von Fracking gefördertes Öl und Gas auf den europäischen Energiemarkt, der bisher stark von Anbietern aus der Russischen Föderation dominiert ist. Bereits im vergangenen Herbst begann Saudi-Arabien Erdöl nach Polen zu liefern. Auch hier war Russland bis dahin der einzige Anbieter.

"Sie betreiben eine aktive Dumping-Strategie", erklärte der Chef des Unternehmens Rosneft, Igor Sechin, mit Blick auf das plötzliche Auftauchen der Saudis an der russischen Westgrenze.

Ohne jeden Zweifel ist der Kampf um Marktanteile ein Schlüsselfaktor der gegenwärtigen Phase.

Gekennzeichnet ist diese Phase vor allem durch einen historischen Preissturz für Rohöl seit Juni 2014, der inzwischen die gesamte Energiewirtschaft durchschüttelt und weltweit erhebliche volkswirtschaftliche Konsequenzen hat. Die unmittelbar politischen Folgen, nämlich ernste Konsequenzen für eine Reihe von Förderstaaten, allen voran die Russische Föderation, werden in der öffentlichen Debatte bisher einhellig als Kollateralschäden behandelt.

Der niedrige Ölpreis, ein Ergebnis entschlossener Politik?

Gerade erst in dieser Woche markierte die New York Times alle Überlegungen, die den Einfluss politischer Interessen auf die Energiewirtschaft betreffen, als "Verschwörungstheorien". Die Erzählung, dass die aktuellen Umbrüche in der Energielandschaft von einer "unsichtbaren Hand des Marktes" abhängen, illustrierte das Blatt mit Zahlenwerk, das zwar aufwändig gestaltet, aber fast vorsätzlich zusammenhangslos ist.

Diese lächerlich naive Erzählung für das Laienpublikum hat zwar in den Wirtschaftsredaktionen der Mainstreammedien zahllose Anhänger. Aber bereits auf der Ebene der öffentlich ausgetragenen Politik finden sich andere Ansagen. Als sich etwa auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 ein Teil der Europäer weigerte, eine weitere Eskalation im Ukraine-Konflikt mitzutragen, griff Vizepräsident Joe Biden zu folgendem Argument:

Kritiker der Sanktionspolitik gegen Moskau sollten bedenken, dass auch sie vom derzeit niedrigen Ölpreis profitierten, und nachdenken, ob dieser nicht im Zusammenhang mit dieser entschlossenen Politik steht.

Der niedrige Ölpreis, ein Ergebnis entschlossener Politik? Diese Vorstellung mag manchen Wirtschaftsredakteur überfordern. Unter Fachpolitikern, und dazu gehört Joe Biden an prominenter Stelle, gelten zwei Zusammenhänge jedoch unumstritten: a) Die durch Fracking ansteigende Fördermenge in Nordamerika hatte einen Einfluss auf den Ölpreisabsturz. b) Die durch Fracking ansteigende Förderung war das Ergebnis konsequenter wirtschaftspolitischer Planung. Aber ist damit auch der Ölpreisabsturz selbst das Ergebnis konsequenter Planung?

Die amerikanische Ölreserve

Die Annahme, Preise und Handel von fossilen Energieträgern unterliegen politikfernen Marktdynamiken, findet bereits in den grundsätzlichen Bedingungen von Rohstoffen und Transportnetzwerken ihre Beschränkung. Fossile Energieträger sind an den Boden gebunden, aus dem sie gefördert werden. Ihr Wert entsteht aus "einer monopolisierbaren Naturkraft, die wie der Wasserfall nur denen zur Verfügung steht, die über besondere Stücke des Erdbodens verfügen", erläuterte bereits Karl Marx im dritten Band des "Kapital". Ähnliches gilt für die Infrastrukturen, mit deren Hilfe gefördertes Öl und Gas transportiert werden.

Pipelines, aber auch Straßen- und Schiffswege sind Gegenstand öffentlicher, d.h. politischer Planung. Hinzu kommt, dass die Energieversorgung spätestens vor dem 1. Weltkrieg als strategisches Sicherheitsproblem erkannt wurde. In der Folge unterwarfen vor allem die USA und Großbritannien ihre Erdölunternehmen einer engen staatlichen Kontrolle. Aus verteidigungspolitischen Überlegungen kaufte die amerikanische Bundesregierung erhebliche Ölreserven auf. Dazu gehörten im Rahmen der Naval Petroleum and Oil Shale Reserve (NPOSR) auch große Vorkommen an Shale- und Tightöl, die erst 100 Jahre später kommerziell nutzbar werden sollten.

Was heute als "neue Technik" und "Fracking-Revolution" bezeichnet wird, ist weder neu noch revolutionär, sondern seit vielen Jahrzehnten Gegenstand von Forschung und Technologieentwicklung. So schrieb der Spiegel zum 100. Geburtstag von Exxon im Jahr 1981:

In dreißig Jahren, so sagen die neuen Prognosen der Energiepolitiker, wird der Ölbedarf Nordamerikas etwa zur Hälfte aus dem Schiefer der Rocky Mountains gedeckt sein.

Damals hatte der größte unter den Energiemultis gerade das Pilotprojekt Colony Shale Oil für 3,5 Milliarden Dollar aufgekauft.

Heute, 35 Jahre später, wird der Energiebedarf Nordamerikas etwa zur Hälfte mit der Gewinnung aus den besonderen Gesteinsschichten, den Shale- und Tight-Oil-Formationen gedeckt. Dies gilt ebenso für die kanadische Teersandförderung. "Dort, in der Athabasca-Region, ruhen Ölreserven in der Größe der arabischen Vorkommen - neben dem Schiefer der Rocky Mountains ein zweites Reservat, das die Monopolstellung der Opec erschüttern kann", so der Spiegel damals im selben Beitrag.

Dass diese Ressourcen bis zum Jahr 2007 nicht auf den Markt gebracht wurden, lag daran, dass die Erschließungskosten zu hoch bzw. die Rohölpreise viel zu niedrig lagen. Dies führte unter anderem dazu, dass etwa Exxon noch in den 1980er Jahren aus den oben erwähnten Projekten wieder ausstieg. Allerdings behielt die US-Bundesregierung die Ölschiefer-Reserven weiterhin unter Kontrolle. Mit einem Zeitabstand von etwa 10 Jahren starteten die Behörden Untersuchungen zur kommerziellen Nutzbarkeit.

Auf dieses Know-How konnte die Regierung unter George W. Bush zurückgreifen, als sie im Jahr 2001 ihre energiepolitischen Schwerpunkte entwickelte. Anders als unter der Clinton-Regierung richtete die neue republikanische Regierung sich wirtschafts-, außen- und energiepolitisch von Anfang an im Sinne des Project for a New American Century (PNAC) eng an den Interessen der Ölindustrie aus. Dazu gehörte natürlich die Strategie, durch direkte Präsenz im Irak erneut Beteiligungen für die eigenen Energieunternehmen zu sichern.

Die Region galt insbesondere wegen ihres Reichtums an fossilen Brennträgern stärker als in den 1990er Jahren als strategisch "entscheidend für US-Interessen", wie es Dick Cheney später im Energiekonzept der Regierung formulierte. Dieses Papier prognostizierte für die kommenden Jahre eine dramatische Differenz zwischen Energieverbrauch und den Zuwächsen in der Förderung.

Dieses Ungleichgewicht wird, so nichts dagegen unternommen wird, unweigerlich unsere Wirtschaft, unseren Lebensstandard und unsere Nationale Sicherheit unterminieren.

Basierend auf den Zuwächsen in den 1990er Jahren empfahl die Gruppe besonders Erdgas stärker zu fördern und Technologien zu unterstützen, welche die Ausbeutungsrate der vorhandenen Ressourcen in den USA intensiviert, die Infrastrukturen modernisiert und die Energieeffizienz steigert. Dieser Punkt bleibt bis heute stark unterschätzt, da sich die energiepolitische Debatte stark von den folgenden außenpolitischen Problemen, etwa dem Irak-Krieg, fokussieren ließ.

Tatsächlich jedoch muss rückblickend anerkannt werden, dass bereits die Regierung unter George W. Bush eine Doppelstrategie verfolgte und spätestens ab 2004 das vorbereitete, was heute als Fracking-Boom die Energielandschaft verändert. Zwischen 2004 und 2007 ließen führende Akteure der US-Energiepolitik, etwa das Energieministerium, der Kongress und der National Petroleum Council (NPC) eigene Untersuchungen über Öl- und Gasvorkommen in besonderen Gesteinsschichten veröffentlichen, die sich unmittelbar in staatliche Förderprogrammen niederschlugen.