Welche Toten erhalten in den Terrorkriegen eine Geschichte, ein Gesicht und einen Namen und welche nicht?

Die Opfer des Drohnenkriegs werden meist ebenso ausgeblendet wie die des Krieges, den der westliche Verbündete Saudi-Arabien gegen den Jemen führt

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In den Tagen nach den Anschlägen von Brüssel lag die Aufmerksamkeit der Presse ein weiteres Mal auf Europa und dem Westen. Konstant wurde über die Terrorangriffe berichtet, es gab - wie immer - zahlreiche Sondersendungen und anderweitige Formate in diese Richtung. Vor allem den Opfern der Anschläge widmete man sich. Man erzählte ihre Geschichten und gab ihnen Gesichter. Zum gleichen Zeitpunkt wurden jedoch andere Terroropfer - wie gewohnt - ignoriert und übergangen. Da dies jedoch stets mit den Opfern westlicher Gewalt, die gerne auch als "Krieg gegen den Terror" umgeschrieben wird, geschieht, ist dies nicht verwunderlich.

Allein in jener Woche, in der Brüssel von den Anschlägen erschüttert wurde, fanden im ostafghanischen Nangarhar mindestens vierundzwanzig Menschen durch US-amerikanische Drohnenangriffe den Tod. Selbiges Szenario spielte sich in Mukalla im Südosten Jemens ab, wo mindestens vierzig weitere Menschen durch Drohnenangriffe getötet wurden. In allen Fällen fand lediglich eine oberflächliche Berichterstattung statt, meist in Form von kurzen und nüchternen Agenturmeldungen, die obendrein alle Opfer als "IS-Kämpfer", "Al-Qaida-Mitglieder" oder anderweitige "Terrorverdächtige" - ein Begriff, der sich in den letzten Jahren in vielen Redaktionen festgesetzt hat - bezeichnet. Beweise für derartige Behauptungen wurden wie gewohnt nicht geliefert.

Zum gleichen Zeitpunkt stellt man sich in vielen westlichen Ländern folgende Fragen: Wie kann es sein, dass sich junge Männer mitten in Brüssel oder Paris in die Luft sprengen? Warum handeln diese Menschen auf solch eine Art und Weise? Woher kommen all der Hass und die Verachtung für menschliches Leben?

Derartige Fragen sind in diesen Tagen sicherlich mehr als berechtigt und müssen beantwortet werden. Selbiges gilt allerdings auch für andere fundamentale Fragen, welche sich die westliche Gesellschaft stellen muss: Wie kann es sein, dass ein junger Mann oder eine junge Frau, womöglich in Langley, irgendwo in der Wüste Nevadas oder in Stuttgart bei AFRICOM, per Knopfdruck Menschen wie in einem Computerspiel in die Luft jagt? Wie ist es möglich, dass solche Menschen zwischen dem Morden auch noch Kaffeepausen haben und am Ende des Tages, nach getaner Arbeit, ihr Feierabendbier genießen?

Und die womöglich wichtigste Frage: Wie kann es sein, dass man in einem solchen System, welches sich selbst immer wieder als aufgeklärt, demokratisch und fortgeschritten preist, ein derartiges Massenmorden tagtäglich fördert, lebt, es kaum hinterfragt und sich hingebungsvoll seiner Deutungshoheit unterwirft?

Das man sich diesen Fragen nicht stellt, hat viele Gründe. Einer davon ist die tagtägliche Berichterstattung führender Medien und Nachrichtenagenturen, die vor allem interessengebunden ist und vor Oberflächlichkeit und Einseitigkeit trieft.

Während im Fall von stattgefundenen Drohnenangriffen lediglich kurze Randmeldungen produziert werden, bleibt in anderen Fällen die Berichterstattung über ganze Konflikte vollständig aus. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist das beste Beispiel hierfür der Krieg im Jemen.

Auch die Kriegsopfer des Jemen bleiben namenlos und haben kein Gesicht

Seit rund einem Jahr wird das ärmste arabische Land von den reichsten Staaten in der Region, angeführt von Saudi-Arabien, bombardiert. Regelmäßig werden nicht nur aufständische Houthi-Rebellen bombardiert, sondern auch Krankenhäuser, Hochzeitsgesellschaften und andere zivile Ziele. Wenige Tage vor den Brüsseler Anschlägen wurde in Mastaba im Norden des Landes ein ganzer Marktplatz bombardiert. Mindestens 120 Menschen wurden dabei getötet. Unter den Toten befanden sich über zwanzig Kinder. Der Angriff wird zu den tödlichsten seit Beginn des Konflikts gezählt.

Laut einem kürzlich erschienenen Bericht von UNICEF wurden in den vergangenen zwölf Monaten im Durchschnitt täglich sechs jemenitische Kinder getötet oder verletzt. "Sogar schlafen oder spielen ist für die Kinder im Jemen gefährlich geworden", meint Julien Harneis, ein UNICEF-Vertreter im Jemen. "Kinder bezahlen den höchsten Preis für den Konflikt. Landesweit werden sie getötet oder verstümmelt. Sie sind nirgends im Jemen sicher", führt Harneis fort.

Mindestens neunhundert Kinder wurden im letzten Jahr im Jemen getötet. Der UNICEF-Bericht wird nur als Spitze des Eisbergs betrachtet. Die Zählung erfolgte konservativ, die Dunkelziffern sind wohl um einiges höher.

Insgesamt fanden über 6.000 Menschen seit Beginn des Krieges den Tod. Laut UN ist die von Saudi-Arabien geführte Allianz für zwei Drittel der zivilen Opfer verantwortlich. Berichtet wird allerdings kaum über diese Menschen. Es gibt weder Schlagzeilen noch aufwendige Titelseiten. Auch die Kriegsopfer des Jemen sind namenlos und haben kein Gesicht.

Warum das so ist, liegt auf der Hand. Der Krieg im Jemen wird von führenden westlichen Staaten unterstützt. Allen voran die Vereinigten Staaten legen Wert darauf, Saudi-Arabien, ihren wichtigsten Verbündeten in der Region, in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Doch die Saudis sind nicht nur dem Weißen Haus wichtig, sondern auch den Polit-Eliten in Berlin, London oder Paris.

Da man diesen wichtigen Freund und Partner nicht verärgern will, werden die Toten im Jemen vollkommen ausgeblendet. Dabei sind sie das Ergebnis einer Gewalt, die vom Westen unnachgiebig unterstützt wird, hauptsächlich in Form von Waffenexporten in Milliardenhöhe. Auch Deutschland sticht weiterhin in seiner Rolle als Waffenexporteur der Saudis heraus. Dabei ist mehr als offensichtlich, dass gerade eine weitere große Flüchtlingswelle aus dem Jemen produziert wird. Doch davon will man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts wissen. Die eigenen Machtinteressen überschatten jegliche Realitäten. Und diese Interessen werden auch weiterhin in vielen westlichen Medienhäusern vertreten, wo menschliches Leid kontinuierlich selektiert und gegeneinander aufgewogen - und wo letztendlich entschieden wird, welcher Tote eine Geschichte, ein Gesicht und einen Namen verdient und welcher nicht.