Wege zu einer anderen Architektur

Bürogebäude "Tripolis 300" in Amsterdam. Bild: Paulbe. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Aldo van Eyck, der weithin vergessene Avantgardist

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Der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel fragte sich einmal, was passieren würde, wenn man Ökonomen die Aufgabe übertrüge, die Arbeit eines Sinfonieorchesters zu optimieren. Seine Antwort: Wahrscheinlich würden sie in Beethovens Konzerten alle Pausen streichen. Denn man könne die Musiker nicht dafür bezahlen, dass sie spielen. Doch heute scheint nicht nur die Wirtschafswissenschaftler vom Leitbild des förmlich besessen - und für das Verstehen menschlicher Handlungen geradezu blind.

Es ist überfällig, die Sphären von Ökonomie und Humanismus neu auszutarieren. Das gilt nicht zuletzt im Bereich der Architektur. Die besorgniserregenden Entwicklungen des zeitgenössischen Planen und Bauens - das unbedachte Oszillieren zwischen den brand names der internationaler Architekturschickeria und ihren iconic buildings einerseits und banaler Massenproduktion andererseits - bietet Anlass genug, den Aldo van Eyck in Erinnerung zu rufen. Obgleich - oder gerade weil - in ihm einen Außenseiter der Architektur im Zeitalter des Funktionalismus sehen muss, gelang es ihm, Weichen in eine Richtung zu stellen, die man erneut ins Visier nehmen sollte. Sie trägt, nicht eben glücklich, den Namen "Strukturalismus".

Wie viele seiner Kollegen ist auch Aldo van Eyck, der vor 16 Jahren verstorbene niederländische Baumeister, mit großem sozialen Impetus in seinen Beruf eingestiegen. Anders als die meisten aber blieb er in all seinem Schaffen diesem Ideal treu. Der vor sechzehn Jahren verstorbene Architekt genießt durchaus internationales Renommee und verharrte doch zeitlebens in einer gewissen Außenseiterrolle.

Aldo van Eyck (1970). Bild: Bert Verhoeff /Anefo. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Was den 1918 im niederländischen Driebergen Geborenen ausmachte, wird selbst im Rückblick nicht immer eindeutig. Zwar sehen ihn viele als "Grand Old Man", als Impulsgeber und Wegbereiter der niederländischen Nachkriegsarchitektur, aber das Phänomen Van Eyck gilt auch als widersprüchlich, ja gespalten: Als Gralshüter eines "Schulmodernismus", einer im Formelhaften erstarrten Moderne wird er von manch einflussreicher Seite bezeichnet.

Van Eyck war, wie das gesamte Redaktionsumfeld der seinerzeit enorm einflussreichen Zeitschrift "Forum" (z.B. Jacob Bakema, Herman Hertzberger), stark beeinflusst von Martin Buber und dessen sozialphilosophischen Schriften. Die zwischenmenschliche Kommunikation, die nach Buber bei der Identitätsfindung und Emanzipation des Menschen eine entscheidende Rolle spielt, wurde zum Präfix seines Schaffens.

Keine Bauten als fertige Lösungen, sondern als Katalysatoren

Im Gegensatz zu den Rationalisten, die die architektonische Form als Resultat der Auseinandersetzung mit objektiven Anforderungen verstehen, misst Van Eyck dem Individuum, dem Nutzer, eine zentrale Rolle zu. Der einzelne soll sich aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzen. So bieten seine Bauten keine fertigen Lösungen an, sondern geben nur den Rahmen vor, der von den Nutzern erst ausgefüllt werden muss. Im Sinne des strukturalistischen Gedankens von immer wieder auf neue Weise interpretierten "Archetypen" wird dieser Rahmen als ein festes Ordnungsprinzip begriffen, das der individuellen Äußerung einen Halt gibt und sie dadurch erst ermöglicht.

Innenhof in Burgerweeshuis. Bild: Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed / Gerard Dukke. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Eines seiner bedeutendsten Bauwerke, das ein- und zweigeschossige, auf der Basis eines Quadratrasters errichtete und um Höfe gruppierte Waisenhaus in Amsterdam (1957-60) veranschaulicht, dass es anhand eines zellularen Prinzips von innen heraus entwickelt wurde. Trotz strikter Orthogonalität kommt es ohne Hierarchie und Axialität aus. Es handelt sich um eine Raumstruktur, die sich durch additive Anordnung kleiner Einheiten konstituiert, die sich ohne endgültige Grenzziehung dreidimensional auszuweiten vermag, ohne dabei die Gestalt wesentlich zu ändern.

Als Mitbegründer des legendären Team Ten spielte Van Eyck eine wichtige Rolle in der CIAM (Congrès Internationaux d'Architecture Moderne). Entsprechend umfangreich ist seine Hinterlassenschaft. Geprägt von einer tiefsitzenden Aversion gegenüber allem, was nach Monumentalität riecht, sah er des Architekten vornehmste Aufgabe darin, durch die Gestaltung des Raums die Kommunikationsbereitschaft zu fördern. Er steht für ein Werk, das gelungen zu nennen ein Understatement wäre - zumal angesichts der heutigen Flut von wahlweise auftrumpfenden oder bloß auftragsheischenden Architektenbiographien.

Waisenhaus in Amsterdam. Bild: Aviodrome Lelystad. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Aldo van Eyck darf man wohl als führenden Kopf des holländischen Strukturalismus bezeichnen. Dieser Begriff ist zwar nicht eben glücklich gewählt, da er zur Verwechslung mit der gleichnamigen französischen Philosophenschule und Zeichentheorie Anlass gibt. Er hat sich aber mittlerweile als architekturtheoretische Kategorie etabliert, und das nicht ohne Grund. Denn van Eyck folgt einer Konzeption des strukturellen Raumes und begreift ein Gebäude nicht nur als ein - wie auch immer geartetes - Gefüge von euklidischen Räumen, sondern sieht in ihm gewissermaßen einen Katalysator, der das im Raum sich abspielende Leben positiv oder negativ beeinflusst.

Er vertritt dabei die These, dass die Vorgabe von klar artikulierten Räumen die Transparenz und Entwicklungsfähigkeit nicht beeinträchtigt, wenn es gelingt, das Grundelement mit seinen Anordnungsmöglichkeiten auf das zu erwartende Handlungsspektrum abzustimmen. Eine prägnante Formgebung müsse nicht notwendigerweise einengen, sondern könne im Gegenteil wichtige Impulse für das Geschehen im Raum geben.

Silhouette eines Dorfes gegen Skyline von Manhattan

So wie jenes soziologische Architekturverständnis, das als Reaktion auf einen hypertrophen Bauwirtschaftsfunktionalismus entstand, in "postmodernen Zeiten" verächtlich bei Seite gelegt wurde und längst einem abgeklärten Rationalismus gewichen ist, so anachronistisch wirkten in den letzten zwei Jahrzehnten auch Van Eycks konzeptionelle Ansätze.

Wie kein zweiter verkörperte er die Fortexistenz der Ideale der klassischen Moderne. Dessen naiven Fortschrittsoptimismus indes teilte er nicht. Viele seiner inspirierenden Vorlieben lagen im ethnischen Bereich, der kaum oder gar nicht von der westlichen Kultur belangt wurde: Bis zuletzt ließ er sich eher durch die Silhouette eines Dorfes auf der indonesischen Insel Sumba als durch die Skyline von Manhattan beeindrucken.

Aldo van Eyck Pavillion im Skulpturen KMM/Niederlande. Bild: Gerardus. Lizenz: Public Domain

Das markiert unmittelbar den Unterschied zur nächsten Generation, deren eines großes Vorbild Rem Koolhaas darstellt. Zeigt sich dieser fasziniert von den metropolitanen Situationen sowie den städtebaulichen Transformationen einer postindustriellen Gesellschaft, so dienten Van Eyck die ungestörten Siedlungsstrukturen traditionaler Populationen als Vorbilder. Deren vermeintlich intakte Gemeinschaft wollte er durch eine überzeugende strukturelle "Übersetzung" in die Neuzeit transformieren.

Nach dem berühmten Hubertushaus für alleinstehende Mütter in Amsterdam (1976-78) - einem regenbogenfarbigen Gebilde, das eine Baulücke füllt, unkonventionell gestaltet und asymmetrisch erschlossen - lässt sich im Wortsinne eine zunehmende Isolierung des Architekten beobachten. Im ländlichen Brabant entstand in dem kleinen Ort Padua eine geschlossene Psychiatrische Anstalt. Der Estec-Komplex steht in den Dünen von Noordwijk; niemand kann ihn sehen, niemand kommt hinein. Die Maranathakirche steht in voller Schönheit auf einem Hinterhof irgendwo an der Peripherie von Deventer.

Allgemeine Rechenkammer in Den Haag. Bild: Pvt pauline. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Erst das letzte Werk, der im Sommer 1997 fertiggestellte Neubau des Rechnungshofs (Algemene Rekenkamer) in Den Haag, thematisiert erneut das Bauen im städtischen Kontext. Und das mit Verve und ideologischem Nachdruck: Zunächst beurteilte Van Eyck die bestehenden Strukturelemente - düstere Backsteinmassen, ein feinmaschiges Straßennetz, die alte Klosterkirche -, um dann mit ungebrochener Vitalität zu entscheiden, dass eine Erhaltung bzw. Übernahme der alten Baufluchten in dieser Situation keinerlei Gewinn verspricht. Vielmehr pflanzt er eine teils mit dem Bestand korrespondierende, teils kontrastierende Struktur in dieses Altstadtareal.

Das Gebäude selbst wurde vom neu entstandenen Hofraum aus komponiert. Um die Bibliothek, den programmatischen Höhepunkt, gruppieren sich allseitig orientierte Volumen, die an den beiden Straßenseiten beträchtlich Platz lassen. Gerade an der Nahtstelle zur freigelegten Kirche präsentiert sich der Rechnungshof wie durch bunte Glasfenster angestrahlt als gotisches Supplement.

Aldo van Eyck zerlegte in seinen Projekten "das Haus" in seine Bestandteile und setzt sie neu zusammen, die Erosion der bürgerlichen Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit immer im Visier. Er war ein Reformer, der gegen die rigide Autonomie der Baukunst Stellung nahm und die Entfremdung des Architekten von der normalen Gesellschaft überwinden wollte. Er stellte weniger die weltfremde, abstrakte Syntax der modernen Architektur in Frage, vielmehr suchte er nach Wegen, jene Gesellschaftsschichten zu versorgen, mit denen sich die Architekten normalerweise nicht befassten. Wenngleich als Person so streitbar wie in seinem Werk umstritten: das markiert Aldo van Eycks bleibenden Wert.

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