Streit um Shengal

Flüchtende Peshmerga überholen Zivilisten in Shingal. Bild: Ezidi-Press

Kurden, Araber, Türkei und Irak: Konfliktherde nach der Befreiung vom IS

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Die Konflikte eskalieren: Vergangene Woche kam es zu Schießereien zwischen ezidischen (jesidischen) Peshmerga und -Peshmerga, die der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) unterstehen. Die Spannungen zwischen den Eziden und den im Süden der Stadt Shingal verantwortlichen Peshmerga-Kommandeuren dauern schon länger an. Dabei sollte doch nach der Befreiung der Region vom IS ein anderes Klima herrschen...

Am 08. November 2015 begann im Shengal-Gebirge eine Großoffensive gegen die Terrormiliz Islamischer Staat IS. Die politisch sehr unterschiedlichen Kräfte aus Südkurdistan (Irak), Nordkurdistan (Türkei), Rojava (Syrien) und der Shengal-Region (Irak) vertrieben den IS aus der seit 15 Monaten vom IS besetzten Stadt Shengal (Sindschar) und durchtrennten damit eine der Lebensadern des IS, die Verbindung zwischen Raqqa und Mossul (Kurden erobern Sindschar).

Der Einfall des IS in den Shengal und der von ihm angerichtete Genozid und Feminizid an der ezidischen (jesdischen) Bevölkerung ist zum Symbol des Terrors des IS geworden. Dies verleiht der Befreiung der Stadt Shengal eine besondere Dimension. Die Leichen hunderter ermordeter ezidischer Frauen tauchen dieser Tage aus Massengräbern in der Shengal-Region auf. Insbesondere die Kräfte von Barzanis PDK (KDP), welche durch den fluchtartigen Rückzug ihrer 11.000, mit schweren Waffen ausgestatteten, Kämpfer, aus Shengal Anfang August 2014 nicht nur in großen Teilen der ezidischen Bevölkerung für mitverantwortlich für den Genozid gehalten werden, sind auf eine Erfolgsmeldung angewiesen, um ihr Ansehen und ihre Hegemonie in der strategisch wichtigen Region wiederherzustellen.

Der Diskurs um den Sieg und die dort eingesetzten Kräfte spiegelt in diesem Sinne auch die Machtkämpfe und Konflikte zwischen unterschiedlichen Selbstverständnissen in den kurdischen Gesellschaften wieder.

Die Beteiligten an der Befreiung

Am 3. August 2014 überfielen die Terroristen des IS das Shengal-Gebiet und trieben tausende Eziden und Ezidinnen über die Berge in die Flucht, ermordeten die Männer, verschleppten tausende Frauen und Kinder.

Die Glaubensgemeinschaft der Ezidinnen und Eziden gehört zu den ältesten noch bestehenden Glaubensgemeinschaften der Welt. Ein Großteil dieser Gemeinschaft lebte bis zur Vertreibung durch den IS im Shengal-Gebiet (Süd-Kurdistan/Nord-Irak).

Die Operation zur Befreiung des Stadtzentrums von Shengal hatte mit der Befreiung von Geliye Shilo am 08.11. und der darauf folgenden Befreiung der Dörfer westlich des Shengal-Gebirges durch eine etwa 2.500 Personen zählende Truppe aus HPG, YJA-Star, YBȘ, YPJ-Ș und der MLKP (zur Erklärung der Abkürzung siehe unten) aus der Türkei und Nordkurdistan begonnen.

Dazu kamen die verschiedenen Peschmerga Einheiten und die ezidische HPȘ. Am 13. Oktober wurde diese Offensive mit der Befreiung der Stadt Shengal siegreich beendet. Nach Angaben des HPG-Shengal-Kommandos sind seit dem 4.August 2014, 2.680 IS-Terroristen getötet und 823 verletzt worden.

Die Shengal-Offensive wurde begleitet von einem gleichzeitigen Angriff der QSD ("Demokratische Kräfte Syriens", denen u.a. YPG und YPJ angehören) auf das IS-Zentrum Hol im Südosten des Kantons Cizire, nahe der Grenze Syriens zum Irak und damit auch zur Shengal-Region gehörend.

Neben den ezidischen Widerstandseinheiten Şengals - YBŞ, der ezidischen Fraueneinheit YJÊ, den Kämpfern der HPG / YJA-Star, der YPG und YPJ aus Rojava/ Nord-Syrien, den ezidischen HPȘ waren auch Peschmerga-Einheiten und ebenfalls Flugzeuge der internationalen Koalition und der irakischen Luftwaffe an der Offensive beteiligt.

Zwei Offensiven, eine Kampagne und ein politisches Kalkül

Während die Kämpfer der PKK-Guerillaorganisationen, der ezidischen HPȘ und YBȘ und viele weitere ein gemeinsames Bündnis und Oberkommando zur Befreiung von Shengal, die sogenannte Shengal-Allianz, aufbauten, verweigerte die südkurdische KDP (Demokratische Partei Kurdistans) unter Führung der Barzani-Familie jegliche Zusammenarbeit. Sie führte aber zeitgleich mit ihren aus dem Westen aufgerüsteten Peschmerga-Einheiten ebenfalls eine Offensive gegen den IS durch.

Dieser Offensive war eine KDP-Kampagne gegen die PKK und ihrem Kampf in der Shengal-Region vorausgegangen. Der ezidische KDP-Vertreter Sheikh Shamo erklärte am 30.10., dass der Shengal der PDK "gehöre", bezeichnete die PKK als "Besatzungsmacht" von Shengal und unterstellte ihr, den IS zu unterstützen.

Schon 2014 hatte er mit verquerer Logik den Rückzug der Peschmerga versucht, damit zu bagatellisieren, dass die Ezidinnen und Eziden des Shengal doch stolz sein sollten, da wegen ihres Leides der Westen jetzt dem kurdischen Volk helfen würde. Damit machte er ebenfalls deutlich, dass hinter dem Rückzug der Peschmerga aus dem Shengal wahrscheinlich nicht die Angst vor dem IS, sondern politisches Kalkül gestanden hat.

Türkische Regierung: "Terrorcocktail aus IS, PKK und PYD"

An seiner argumentativen Verbindung von PKK und IS ist die Ähnlichkeit zu Unterstellungen der türkischen AKP Regierung bemerkenswert: Auch die türkische Regierung spricht bezüglich der IS-Anschläge von Suruç und Ankara von einem "Terrorcocktail" aus "IS, PKK und PYD". Die Gleichartigkeit der Argumentation kommt nicht von ungefähr, da die KDP und die türkische Regierung langjährige enge Verbündete sind und Südkurdistan wirtschaftlich komplett von der Türkei abhängig ist.

Sie zeigt auch den Zynismus der KDP-Politik, welche die Opfer von mindestens 200 gefallenen Kämpfer und Kämpferinnen der HPG, YJA-Star und YBȘ leugnen, die in den letzten 15 Monaten bei der Verteidigung der Shengal-Region gefallen sind.

Dieser Rhetorik folgten Taten, schon seit Anfang November schloss die KDP sämtliche Verbindungen von Rojava in die Shengal-Region und damit wichtige Nachschubwege für den Schutz der ezidischen Bevölkerung und für die Befreiung der Stadt Shengal. Damit zeigt sie, dass sie zur Kenntnis genommen hatte, dass die Kräfteverhältnisse in der Region auf der Kippe standen und das lang verhandelte Oberkommando verschiedenster Kräfte die Befreiung der Stadt Shengal in Kürze in Angriff nehmen würde.

Die KDP sah sich nun in einem Wettlauf darum, wer am Schluss die Befreiung Shengals für sich beanspruchen könne. Die Behinderung von Befreiungsoperationen anderer Kräfte ist in dieser Logik folgerichtig. Konsequent versucht die KDP nun den Sieg im Shengal für sich alleine zu beanspruchen und so die Hegemonie über die Region zu gewinnen. Um die dank sozialer Medien als falsch zu erkennende Version des alleinigen Einsatzes der KDP-Peschmerga aufrecht zu erhalten, verhängte die KDP Einreiseverbote für Journalisten in den Shengal und nahm "illegal" in den Shengal eingereiste Journalisten in Gewahrsam.