"Ich bin gegen jede Art von militärischem Eingreifen in Syrien"

Die syrische Oppositionspolitikerin Mouna Ghanem über die Lage in Syrien, den Kriegseintritt Russlands und Deutschlands sowie die politischen Perspektiven des Landes

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mouna Ghanem ist Expertin für Public Health (WHO/John Hopkins University) und Vize-Präsidentin der syrischen oppositionellen Bewegung "Building the Syrian State". Sie arbeitete mehr als zehn Jahre lang als stellvertretende Geschäftsführerin beim Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen in Syrien und stand der syrischen Kommission für Familienangelegenheiten vor. Außerdem war sie Regionaldirektorin des Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen (UNIFEM) in Amman, Jordanien. Im -Interview benennt sie die Terrororganisation "Islamischer Staat" abwechselnd mit dem Akronym IS und mit der in der arabischen Welt geläufigen Bezeichnung "Daesh", gemeint ist dieselbe Gruppierung.

Frau Ghanem, am heutigen Freitag wird der Deutsche Bundestag voraussichtlich mit der Parlamentsmehrheit der Regierungsparteien den Einstieg in den Krieg in Syrien beschließen. Was halten Sie davon?

Mouna Ghanem: Ich glaube, dass der militärische Kampf gegen den Daesh (gemeint ist die Terrororganisation "Islamischer Staat") sehr wichtig ist. Es darf aber eben nicht dabei bleiben. Diese Gruppierung nur aus der Luft zu bombardieren, wäre sinnlos. Zumal solche Angriffe bei dem Betroffenen zu einer Radikalisierung führen werden.

Die militärische Strategie muss also mit politischen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und sozialen Elementen ergänzt werden. In diesem Zusammenhang wird es nicht zu vermeiden sein, den Druck auf Länder zu erhöhen, die den "Islamischen Staat" finanzieren oder seine Finanzierung begünstigen. Es liegt also an den Deutschen zu entscheiden, welchen Ansatz sie im Kampf gegen den IS verfolgen wollen. Wichtig ist mir nur, dass der Kampf gegen den IS nicht den Syrern überlassen wird. Denn das ist kein syrisches Problem, es ist ein internationales Problem.

Aus Syrien erreichen uns täglich Meldungen über Bombenangriffe in städtischen Gebieten, über Gräueltaten islamistischer Milizen und Kollateralschäden ausländischer Angriffe. Wie ist die Lage vor Ort, über welche Informationen verfügen Sie?

Mouna Ghanem: Natürlich leidet die Zivilbevölkerung in diesem seit Jahren tobenden Krieg. Wir müssen dabei aber zwischen den verschiedenen Regionen unterscheiden. Wer in den Gegenden unter Kontrolle des Regimes lebt, leidet unter Warenmangel, Stromausfällen und dem Zwang, zur Armee eingezogen zu werden. Junge Männer in diesen Gegenden verstecken sich zu Hause oder verlassen das Land, um zu verhindern, dass sie in den Kampf geschickt werden. Hinzu kommt die Inflation: Ein US-Dollar wird derzeit mit rund 400 Syrischen Lira gehandelt, vor dem Krieg im Jahr 2011 bekam man für einen US-Dollar rund 45 Lira. Der Krieg ist dort auch deutlich zu spüren, weil es immer wieder Mörsereinschläge aus den oppositionell kontrollierten Gebieten gibt.

In den von der Opposition kontrollierten Gebieten leiden die Menschen indes unter Luftangriffen, auch mit den Fassbomben, Kampfhandlungen am Boden und einem allgemeinen Mangel an Basisdienstleistungen. Es gibt einzelne Orte, die unter Belagerung stehen, so etwa Al-Zabadani. Dort werden alle Warenlieferungen in den Ort aufgehalten, während intensive Verhandlungen laufen, um die Menschen dazu zu bewegen, die Kämpfe gegen das Regime einzustellen.

Zum Dritten gibt es die Gebiete unter der Kontrolle des Daesh, wo die Menschen unterdrückt werden. Wie kennen ja die entsprechenden Meldungen aus Städten wie Ar-Raqqa, wo Männer exekutiert und Frauen auf den Sklavenmärken der Milizen verkauft wurden.

Die Gefahren, Probleme und Leiden sind unterschiedlich. Aber glauben Sie mir, egal wo die Menschen in Syrien leben, leiden sie, und zwar weit über die menschliche Vorstellungskraft hinaus.

Unter den Sanktionen leiden die Bedürftigen am stärksten

Welche Auswirkungen hatten die westlichen Sanktionen gegen die Assad-Regierung?

Mouna Ghanem: Nun, zunächst haben diese Sanktionen Syrien zu einem sehr armen Land gemacht. Dabei gibt es zahlreiche Untersuchungen aus verschiedenen Ländern, die belegen, dass man durch solche Sanktionen keine Demokratisierung politischer Strukturen erreichen kann. Im Gegenteil sorgen solche Maßnahmen für eine Reihe wirtschaftlicher und sozialer Probleme, weil die ohnehin Bedürftigen am stärksten betroffen sind.

Auf Syrien bezogen heißt das: Menschen, die das Regime unterstützen, die ihm dienen oder Funktionen bekleiden, haben auch jetzt noch über verschiedene Kanäle Zugang zu medizinischer Versorgung und Nahrungsmitteln. Die Sanktionen betreffen also nur die ohnehin armen Menschen in Syrien, vor allem in den oppositionell kontrollierten Gebieten. Zumal das Regime die Gehälter seiner eigenen Staatsbediensteten und Funktionäre mehrfach erhöht hat.

Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben inzwischen in der Türkei. Deren Regierung tritt für sogenannte Schutzzonen in Syrien ein. Sie schlagen indes "Entwicklungszonen" in der Türkei vor. Erläutern Sie diese Idee bitte.

Mouna Ghanem: Was ich damit meine, ist, dass wir nicht nur über die militärische Lage sprechen dürfen, dass wir nicht nur den militärischen Konflikt sehen dürfen. Stattdessen ist es höchste Zeit, über die humanitäre Lage der Flüchtlinge in den Grenzregionen zu sprechen. Sie haben im Moment exakt drei Möglichkeiten: Sie können nach Syrien zurückkehren, sie können nach Europa fliehen oder sie können sich dem Daesh anschließen.

Meiner Meinung nach sollten sie in den Genuss von entwicklungspolitischen Programmen, Gesundheitsversorgung, Bildungsprogrammen, vor allem für Mädchen und Frauen, kommen, damit sie einigermaßen würdevoll in den Grenzregionen Libanons, Jordaniens oder der Türkei leben können. Nur so können sie in die Lage versetzt werden, nach Syrien zurückzukehren, um ein neues Land aufbauen zu helfen.

Vielzahl von Interessen und Einflussnahmen mischen in Syrien mit

Welche Auswirkung hatte die russische Militärintervention Ihrer Meinung nach?

Mouna Ghanem: Ich denke, dass die Russen nach Damaskus gegangen sind, weil sie die volle Kontrolle über das Regime haben wollen. Diesen Einfluss wollen sie bei Verhandlungen auf der internationalen Ebene geltend machen.

Die syrische Bevölkerung ist bei der Beurteilung der russischen Intervention durchaus gespalten. Aber am Ende sind es inzwischen so viele Staaten, die in Syrien mitmischen. Ich kann die Intervention Irans nicht verurteilen und die Einmischung Saudi-Arabiens verschweigen. Wir sollten uns also darüber im Klaren sein, dass alle Mitglieder der internationalen Allianzen - Katar, Saudi-Arabien, die Türkei, die USA, Iran und Russland - eigene Interessen verfolgen. Wir sprechen also über eine Vielzahl von Interessen und Einflussnahmen.

Ein Wendepunkt in dieser Situation war nach meiner Auffassung das Treffen zwischen den Außenministern der USA und Russlands, John Kerry und Sergei Lawrow, in Wien. Ich kann nicht sagen, ob es einen direkten Zusammenhang mit dem militärischen Eingreifen Russlands in Syrien gibt, aber das Treffen fand danach statt. Und dann gab es natürlich noch die Geschehnisse von Paris, nach denen die internationale Gemeinschaft zu verstehen begonnen hat, dass der IS eine ernstere internationale Bedrohung darstellt, als sie gedacht hatte.

Auf Ihre Frage zur Intervention möchte ich also sagen, dass ich gegen jede Art von militärischem Eingreifen in Syrien bin. Deswegen hoffe ich, dass die in Wien getroffenen politischen Vereinbarungen umfassend umgesetzt werden, um eine politische Lösung zu finden, die den Interessen der Mehrheit der syrischen Bevölkerung gerecht wird. Das wäre der wichtigste Schritt, um den IS zu bekämpfen.

Für eine Übergangsphase und Verschiebung der Wahlen

Sie sagen also, dass die russische Intervention die politische Lage beeinflusst haben könnte. Hat sie die militärische Situation in Syrien verändert?

Mouna Ghanem: Wie gesagt, ich kann nicht behaupten, dass es einen direkten Zusammenhang gibt. Ich weiß ja nicht, was Obama und Putin vereinbart haben, als sie sich am Rande der UN-Generalversammlung getroffen haben. Niemand von uns weiß, was sie während dieser 90 Minuten besprochen haben. Aber es ist klar, dass es einfacher ist, nun mit den Russen zu verhandeln, als mit dem Regime in Damaskus verhandeln zu müssen.

Vor einigen Tagen erst haben wir einen Auftritt von Assad erlebt, in dem er bekräftigte, jedwede Opposition solle die Nation verteidigen. Aber wer war denn in den vergangenen Jahren in Syrien und wer wurde gezwungen, das Land zu verlassen?

Militärisch hat die russische Intervention, wie ich glaube, nicht viel verändert. Und dann kennen wir ja beide die Berichte aus US-Medien, denen zufolge militärische Oppositionsgruppen Ziel der russischen Angriffe geworden sind. Wenn andere Berichte zutreffen, nach denen auch der Erdöl-Schmuggel des Daesh Ziel der Angriffe ist, dann würde ich persönlich das begrüßen. Denn wir müssen die Erdölgeschäfte dieser Gruppe in Syrien endlich stoppen.

Ist die Frage eines politischen Systems mit Präsident Baschar Al-Assad oder ohne Assad für Sie wichtig?

Mouna Ghanem: Das Wichtigste ist in diesem Moment, Syrien zu retten und einen politischen Weg zu ebnen. Für mich hat Assad in einem künftigen politischen System in Syrien keine Zukunft, weil er als politischer Akteur seine Legitimation verwirkt hat.

Vor allem aber denke ich, dass die Menschen in Syrien selbst die Kontrolle über die Entwicklung des politischen Prozesses haben sollten. Ob das derzeit über freie und transparente Wahlen geschehen könnte, bezweifle ich. Anstatt die Menschen nun rasch zu den Wahlurnen zu rufen, sollten wir auf eine Übergangsperiode orientieren. Denn Wahlen in der aktuellen Situation würden sicherlich beeinflusst werden.

Die Menschen in den Gebieten würden - ganz unabhängig von ihrer politischen Position - für Assad stimmen, weil sie dazu genötigt werden. Und die Menschen im Einflussgebiet des Daesh hätten ebenso wenig eine freie Wahl. Eine Übergangszeit sollte also dazu genutzt werden, um das Land militärisch, wirtschaftlich und politisch auf einen Übergang vorzubereiten.