Leben mit Entscheidungsmaschinen

Vom Trend der freiwilligen Selbstüberwachung in der Kontrollgesellschaft

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Als öffentlicher Soziologe, der sich gerne auch kritisch mit Phänomenen des gesellschaftlichen Wandels beschäftigt, ist es mir eine große Ehre, anlässlich der Verleihung des Surveillance Preises 2015 hier in Hamburg über das Thema Lifelogging, - also den Trend der digitalen Selbstvermessung - zu sprechen.

BND-Abhörstation Schöningen. Aus dem Film "Land unter Kontrolle", der mit dem Surveillance Studies Preis 2015 ausgezeichnet wurde.

Ich selbst beschäftige mich hauptsächlich mit Phänomenen des schleichenden gesellschaftlichen Wandels, mit sog. "shifting baselines". Darunter verstehe ich gleitende Referenzrahmen. Dieses Phänomen lässt sich wie folgt beschreiben: Das, was wir kollektiv für "Wirklichkeit" oder für "normal" halten, ändert sich unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle. Die größte Gefahr von "shifting baselines" ist die kaum spürbare Veränderung unseres Denkens, Fühlens und Handelns. Und die Tatsache, dass wir meist zu spät wahrnehmen, was genau sich ändert und welche Folgen dies hat. Mit meinem Vortrag über Lifelogging möchte ich daher - komplementär zu dem heute ausgezeichneten Film - eine "shifting baseline" markieren und damit ein wenig sichtbarer machen. Kurz gefasst werde ich dabei die These vertreten, dass sich zwei Prozesse auf eine durchaus problematische Art und Weise verstärken:

Das "doppelte Kontrollregime" einerseits und die "halbierte Debatte" über Überwachung und Kontrolle andererseits erzeugen eine immer größere Leerstelle in der Gesellschaft, die sich als stille Resignation bemerkbar macht. Dem gilt es entgegen zu wirken.

Unter dem "doppelten Kontrollregime" verstehe ich den Trend zur Gleichzeitigkeit unfreiwilliger "Kontrolle von oben" und freiwilliger "Selbstkontrolle von unten". Wie wir sehen werden, verbindet sich beides auf eine unheilvolle Art und Weise.

Die diesjährigen Preisträger(innen) Katja und Clemens Riha haben in ihrer Fernsehdokumentation "Land unter Kontrolle" eindrucksvoll einen Teil des Kontrollregimes - die "Kontrolle von oben" - analysiert. Der Film macht deutlich, dass omnipräsente und omnipotente Formen der Überwachung nicht vom Himmel fallen. Es ist, in den Worten eines der Interviewpartner, "kein singuläres Ereignis". Das aber ist nur eine andere Formulierung für "shifting baseline". Das Überwachungsregime von oben, ist das Ergebnis eines langfristigen und schleichenden Wandels.

Ich kann und will hier nicht den Inhalt und die Botschaft des Filmes wiedergeben. Vielmehr möchte ich eine gedankliche Brücke von der im Film gezeigten "verdoppelten Überwachung" zum "doppelten Kontrollregime" bauen.

Die Verdopplung der Überwachung im Film bezieht sich darauf, dass zunächst die alliierten Geheimdienste deutsche Bürgerinnen und Bürger überwachten. Später überwachen dann zusätzlich auch noch die deutschen Geheimdienste die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Gegenwärtig wird die Überwachung noch auf eine weitere Art und Weise "verdoppelt": Mittels digitaler Selbstvermessung, in meiner Nomenklatur Lifelogging.

"Überwachung von oben" und "Selbstvermessung von unten" ähneln sich auf den ersten Blick nicht besonders. Die einen haben die größeren und besseren Überwachungsspielzeuge und handeln im Verborgenen. Die anderen spielen lediglich mit preiswerten Gadgets und Apps und tun dies auch noch in aller Öffentlichkeit. Strukturell aber sind sich die beiden Hälften des "doppelten Kontrollregimes" äußert ähnlich.

Sehnsucht nach Geheimnissen

Der Leitspruch der NSA lautete: "Alle Signale, immer!" Der Traum aller Geheimdienste ist es, aus dieser totalen Überwachung Wissen über Geheimnisse zu ziehen und "Feinde" zu enttarnen.

Einer der Leitsprüche digitalen Selbstvermesser stammt von Jim Gemmell, der bei Microsoft Research für die Programmierung der Lifelogging-Software MyLifeBits zuständig war. Jim Gemmell behauptet: "It's all about MYself". Und Garry Wolf, einer der Gründer der wohl berühmtesten Selbstvermessungsszene Quantified Self, appelliert in seinem Manifest "The Data-Driven Life" sogar, dass wir auf die Hilfe von Maschinen zurückgreifen sollten, weil wir "blinde Flecken in unserer Wahrnehmung und Lücken in unserer Aufmerksamkeit" hätten. Der Traum aller Selbstvermesser ist es, mit Hilfe von Maschinen verborgene Geheimnisse im Inneren des eigenen Körpers aufzuspüren. Sie gehen zwar nicht von einem externen Feindbild aus, aber von einer Bezugsgruppe, an deren Normalität sie sich ausrichten. Der "Feind" ist vielmehr der eigene Körper der, gemessen an den Normen der Bezugsgruppen, nicht ausreichend perfekt ist.

Wir leben also in einer Kontrollgesellschaft, in der die Motive derer, die uns von oben überwachen und die Motive derer, die sich freiwillig selbst überwachen, im Grunde sehr ähnlich sind: Der Mensch an sich ist nicht perfekt. Weder ist er ein perfekter Bürger (es gibt auch Kriminelle), noch ein perfekter Arbeitnehmer (es gibt auch Faule), noch hat er einen perfekten Körper (es gibt immer etwas zu optimieren). Man könnte auch sagen: Die These vom "Mensch als Mängelwesen" des Anthropologen Arnold Gehlen wird gegenwärtig immer radikaler ausgelegt.

Mit der "halbierten Debatte" ist dann gemeint, dass zwar eine kritische öffentliche Diskussion über NSA & Co. stattfindet - dazu trägt der heute prämierte Film auf brillante Weise bei. Gleichzeitig aber - so meine These - werden die ebenso umfassenden Risiken und Gefahren digitaler Selbstvermessung in öffentlichen und vor allem im politischen Raum (noch) nicht ausreichend gewürdigt.

Diese Debatte ist noch viel zu zaghaft. Auch aus Angst, als technologiefeindlich dazustehen. Denn wer in die Werkzeugkiste kritischer Zeitdiagnose greift, der wird schnell als Kulturpessimist und Technikverweigerer abgetan. Trotz dieser Verdachtsmomente will ich versuchen, ein wenig dazu beizutragen, die "halbierte Debatte" zu komplettieren.

Sogwirkungen

Bevor ich mich aber direkt dem Phänomen Lifelogging zuwende, hole ich ein wenig aus. Diese Rahmung wird zeigen, dass die diskutierten Phänomene nicht gänzlich neu sind. Sie sind vielmehr das Ergebnis eines graduellen Wandels. Ich zeichne daher einige "Sogwirkungen" nach, um zu zeigen, was wir von Vorläufern der digitalen Selbstvermessung lernen können.

Im Sog der Nützlichkeitsnachweise

Schon das Beispiel Robinson Crusoe im gleichnamigen Roman (1719) von Daniel Defoe macht deutlich, wie Menschen in den Sog von Nützlichkeitsnachweisen geraten können: Crusoe bedient sich einer "modernen" Technologie der Selbstvermessung: Durch penibel geführte Listen legt er kalkulatorische Rechenschaft über die Vor- und Nachteile seiner Existenz als einsam Gestrandeter ab. Defoe liefert damit ein frühes Modell eines zielstrebigen Arbeitssubjekts, dessen Maßstab die vermessbare Nützlichkeit des eigenen Tuns ist. Robinson kann trotz seines Schiffbruchs über die Angemessenheit seiner Kalkulation entscheiden, weil Vorstellungen über das Normale durch die immer mitgedachte Bezugsgruppe auch auf der einsamen Insel präsent sind. Eine der zentralen "shifting baselines" ist die schleichende Veränderung dessen, was wir für "normal" halten.

Im Sog der Chronometrisierung

Mein zweites Beispiel sind Uhren. Und das nicht allein deshalb, weil ich aus der Uhrmacherstadt Furtwangen im Schwarzwald komme (in der u.a. auch die Kuckucksuhr erfunden wurde). Im Sog der Chronometrisierung entstanden nicht nur immer neue (technische) Mittel (d.h. Instrumente) der Zeitvermessung. Vielmehr entstanden auch neue (soziale) Zwecke. Aus der Zeit wurde eine Diktatur der Zeitmessung, die ganz neue Regeln, Normen und Machtverhältnisse hervorbrachte.

Und genau das lässt sich prototypisch am Beispiel der Uhr-Zeit verstehen: Messen erzeugt immer Normen, wie z.B. die Norm der Pünktlichkeit, des Fleißes, des "Zeitsparens" usf. Die Analogie der Uhrzeit macht deutlich, worum es auch bei der digitalen Selbstvermessung geht: So wie die Zeitmessung eine "mittlere" Uhrzeit erzeugte, an der sich alle Menschen auszurichten hatten und der man sich nur unter großen Mühen und begleitet von Protest der Mitmenschen entziehen kann, so schaffen die Daten eine "mittlere" Lebensform. Daten definieren in immer mehr Bereichen, was als "normal" gilt. Zeitmessung und Selbstvermessung sind daher zwei in sich ähnliche Beispiele für Nivellierung und Standardisierung, für die Taktung und Vereinheitlichung des Lebens. Sie zeigen, wie aus einer Gesellschaft eine Normal- oder Standardgesellschaft wird.

Im Sog des Marktes

Aber es geht noch um mehr. Der moderne Mensch ist ständig als Lebendbewerbung unterwegs. Das ist meine Umschreibung für den Sog des Marktes. Dass der Mensch letztlich selbst zur Ware wird, erkannte schon 1929 der Soziologe Siegfried Kracauer in der Beobachtung der vielen Schönheitssalons in Berlin. In seinem Klassiker "Die Angestellten" (1930) resümiert er, über die Ursachen des Booms - und findet eine bis heute gültige Erklärung:

Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten."

Den Menschen ging es also nicht um Genuss, sondern um den Erhalt der eigenen Marktfähigkeit. Schönheitssalons als Kulisse für Selbstveredelungsprojekte sind eher selten geworden. Heute sprechen wir vom "unternehmerischen Selbst" oder wählen den Begriff "Ich-AG" zum Unwort des Jahres. Das Prinzip - unterwegs als Lebendbewerbung - funktioniert dennoch. Die Angst, "als Altware aus dem Gebrauch zurück gezogen zu werden", dämpfen wir heute eher chemisch oder helfen mit Hilfe der digitalen Selbstvermessungstechnologien nach. Damit sind wir beim Sog der totalen Lebenserfassung angelangt.

Im Sog der totalen Lebenserfassung

Lifelogging bedeutet, dass unsere Vorstellungen darüber, was "normal" ist, an selbst erfasste Datenreihen und softwaregestützte Auswertungssysteme delegiert werden. Stellt man sich eine "Black Box" vor, die alle nur denkbaren Daten über das eigene Leben enthält, so kommt dies einer Definition von Lifelogging recht nahe.

Jim Gemmell, einer der modernen Schamanen der Lifelogging-Bewegung sprach in einem Interview mit mir von der "Black Box des Lebens". Und er meinte wirklich eine Black Box, die ähnlich funktioniert, wie die Black Box, die nach einem Flugzeugabsturz geborgen wird, um die Ursache der Katastrophe zu ergründen. Gemmell will Menschenleben so auslesen, wie Flugsicherheitsinspektoren Flugdatenschreiber auslesen. Erst füllt sich die "Black Box" selbständig im Reiseflug des Lebens und dann liefert ihr Inhalt detaillierte Antworten auf die zentralen W-Fragen des Lebens: Was passiert wo mit wem und wie habe ich darauf reagiert?

Unaufdringliche digitale Technologien in Form von Tracking-Armbändern, Smart-Watches, Apps, Mini-Kameras und anderen Gadgets ermöglichen es, die eigene "Black Box" zu füllen, ohne dabei dem Prozess des Capturing - der Datenerfassung - zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Genau das ist Lifelogging.

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