Sachbücher des Monats: April 2014

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung

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Jeden Monat neu präsentiert von der Süddeutschen Zeitung, dem Norddeutschen Rundfunk, Buchjournal, Börsenblatt und Telepolis. (Die Jury )

Ulrich Greiner

Schamverlust

Vom Wandel der Gefühlskultur

Ein Erfolgsroman, in dem die Erzählerin genüsslich ihren Analverkehr schildert; eine Pop-Diva, die in einem Kleid aus Rindfleisch ins Rampenlicht tritt; eine knapp dem Tod entronnene Moderatorin, die vor laufender Kamera einen Heiratsantrag stammelt: Leben wir in einer Kultur der Schamlosigkeit? Der Vorwurf moralischer Verwahrlosung gehört zum Repertoire jeglicher Kulturkritik. Aber hat sich nicht doch etwas verändert? Ulrich Greiner spürt Scham- und Peinlichkeitsgefühlen nach, wie sie uns im Alltag und in literarischen Texten begegnen. Denn die Literatur ist ein Archiv der Schamgeschichte. So öffnet dieses Buch den Blick für den Wandel der Zeit und die Gesellschaft, in der wir leben.

Rowohlt Verlag, 352 Seiten, € 22,95

Ursula Pia Jauch

Friedrichs Tafelrunde & Kants Tischgesellschaft. Ein Versuch über Preußen zwischen Eros

Philosophie und Propaganda

Ursula Pia Jauch nimmt in ihrem Essay Friedrich den Großen und das mit ihm verbundene Sonderschicksal der deutschen Aufklärung ins Visier. Damit dringt sie in den Kern der Frage nach den Ereignissen der letzten 280 Jahre deutscher Geschichte. Rheinsberg und Sanssouci waren hoffnungsvolle Knotenpunkte eines freien und kosmopolitischen Denkens. Aber in Deutschland heimisch geworden ist das "Selber-Denken" (Kant) nur in der Theorie, in der Praxis herrschen Untertanengeist und Obrigkeitsmentalität. Jauch bringt die beiden deutschen Symposien, Friedrichs philosophische "Tafelrunde" zu Sanssouci und Kants "Tischgesellschaft" in Königsberg, in ein produktives Gespräch und kommt zum Schluss: "Friedrich ist durchaus kein Philosoph; der Machtpolitiker spielt den Philosophen: Das ist gut für die Propaganda. Für das Dahinter gelten die Regeln des strikten Gehorsams." Doch das Spiel, die Gespräche und die Ironie der Geschichte gehen über die philosophischen Männerrunden hinaus; die damaligen Debatten reichen bis in die Gegenwart hinein.

Verlag Matthes & Seitz, 280 Seiten, € 24,90

Helmut Lethen

Der Schatten des Fotografen

Bilder und ihre Wirklichkeit

Die Bilder flüchtender Kinder führen die Schrecken des Krieges geradezu schmerzhaft vor Augen. Wie kommt es, dass Fotos eine so ungeheure Wirkung auf uns haben? Wie viel Wirklichkeit steckt in oder hinter den Bildern? Helmut Lethen geht diesen Fragen auf einem Streifzug durch die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nach: Er zeigt am Beispiel der berühmten Fotografien Robert Capas von der Landung in der Normandie, wie aus Bildern Geschichtszeichen werden; er folgt gebannt den Performances von Marina Abramovic, in denen Kunst und Wirklichkeit verschmelzen; er vertieft sich in das ironische Zeichenspiel des Konzeptkünstlers Bruce Nauman, das jede Realität dahinter verschwinden lässt; er entdeckt in idyllisch anmutenden Bildern jene totale Verlassenheit, die ihn bereits als Kind erschreckte. Lethen erläutert, was Bilder sind und was sie vermögen, ohne dabei die Wirklichkeit hinter ihnen preiszugeben.

Rowohlt Berlin Verlag, 272 Seiten, € 19,95

Roger Willemsen

Das Hohe Haus

Ein Jahr im Parlament

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag - nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und "mündiger Bürger" mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert - aber anders als gedacht.

S. Fischer Verlag, 396 Seiten, € 19,99

Andreas Bernard

Kinder machen

Samenspender, Leihmütter, Künstliche Befruchtung. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie

Immer mehr Babys werden mit medizinischer Unterstützung gezeugt. Diese Kinder, Samenspender und Leihmütter sind die neuen Akteure der Reproduktionsmedizin - doch was bedeutet das für unser Verständnis von Familie? Was passiert, wenn biologische Elternschaft sich von sozialer entfernt? Von der Ukraine über Deutschland bis nach Kalifornien hat Andreas Bernard die maßgeblichen Orte, u.a. Samenbanken und Labore, aufgesucht, Eltern, Spender und Mediziner nach ihren Motiven befragt, die Schicksale der Kinder recherchiert. Gleichzeitig hat er die Geschichte des Wissens um die Reproduktion aufgearbeitet und Erstaunliches zutage gefördert. In Verbindung aus Reportage und Wissenschaftsgeschichte gelingt ihm eine Bestandsaufnahme aller Aspekte der künstlichen Zeugung von Menschen - und was das für die Ordnung der Familie bedeutet.

S. Fischer Verlag, 544 S., € 21,99

Roland Reuß

FORS

Der Preis des Buches und sein Wert

Ruskins experimenteller, über Jahre in monatlichen Lieferungen erschienener Text "Fors clavigera" gewidmet den "Workmen and Labourers of Great Britain" (1871-1884), betrat nicht nur sprachlich Neuland. Kühn war an diesem work in progress auch, daß es sich programmatisch jeder Art von Werbung verweigerte. Und "Fors clavigera" war zugleich das erste Druckerzeugnis, für das ein Autor zusammen mit seinem Verlag eine strikte Buchpreisbindung durchsetzte - zunächst gegen den Widerstand des Buchhandels und in Kämpfen mit diesem. Die Gedanken, die Ruskin dabei leiteten, und die in England schließlich in das berühmte Net Book Arrangement (1900) einmündeten, sind von aktuellem Interesse. Gekoppelt sind Ruskins Vorstellungen vom Wert des Buchs an eine bestimmte Konzeption von Arbeit ("labour"), der über Schüler Ruskins in die Gründungsurkunden der Labour-Party einerseits und andererseits über William Morris und Ezra Pound vermittelt in die Quellgründe der modernen Dichtung Eingang gefunden haben.

Stroemfeld Verlag, 304 Seiten, € 24,80

Barbara Beuys

Die neuen Frauen

Revolution im Kaiserreich 1900 - 1914

Sexismus und Emanzipation - die Wurzeln der heutigen Diskussion liegen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im deutschen Kaiserreich gewinnen die Frauen an Einfluss und werden allmählich zu einem wichtigen Teil des öffentlichen Lebens. Sie sind erstmals berufstätig, sind Ärztinnen und Künstlerinnen, arbeiten in Büros und Postämtern und setzen sich für das Wahlrecht ein. Frauenvereine bringen Themen wie Sexualität und Scheidung zur Sprache. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs findet die soziale Revolution ihr vorläufiges Ende. Barbara Beuys beschreibt anhand vieler Lebensbilder den Ausbruch der Frauen aus dem alten Geschlechtermodell. Eine Erzählung von der Gesellschaft vor hundert Jahren.

Hanser Verlag, 384 Seiten, € 18,99

Dietrich Diederichsen

Über Pop-Musik

Pop-Musik, sagt Diederichsen, ist gar keine Musik. Musik ist bloß der Hintergrund für die viel tiefer liegenden, viel weiter ausstrahlenden Signale des Pop. Pop ist ein Hybrid aus Vorstellungen, Wünschen, Versprechungen. Er ist ein Feld für Posen und Pakte, für Totems und Tabubrüche. Der Autor bezieht seine Argumente aus Semiotik und Soziologie ebenso wie aus der Geschichte und Gegenwart der Pop-Kultur und aus den angrenzenden Gebieten Jazz, Kino, Oper. Diederichsen greift immer wieder auf die eigenen Erfahrungen zurück, sein Initiationserlebnis war ausgerechnet ein Konzert des bleichen Bluesrockers Johnny Winter. Was er über dessen Auftritt schreibt, gilt für viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind: Pop hat "eingelöst, was wir alle immer schon geahnt hatten, aber als Kinder nie ganz genau wussten: dass es etwas gibt. Nicht, wovon Winter heulte, war wichtig, sondern dass in komischen Geräuschen ein Weg zur Welt war."

Kiepenheuer und Witsch Verlag, 474 Seiten, € 39,99

Jürgen Trabant

Globalesisch, oder was?

Ein Plädoyer für Europas Sprachen

Nachdem Wirtschaft und Wissenschaft sich schon seit längerem sprachlich globalisiert haben, raten nun Sozialwissenschaftler und Philosophen, Bundespräsidenten und ehemalige Bundeskanzler dem Land und Europa dringend, fleißig Englisch zu lernen, um die vielen Sprachen Europas, diese Hindernisse der Verständigung, aus dem Weg zu räumen. Diese Kampagne ist nach Ansicht von Jürgen Trabant völlig überflüssig, weil die Europäer ohnehin fleißig "Globalesisch" lernen. Das sieht er einerseits als erfreuliche Entwicklung, andererseits gefährdet es seiner Meinung nach die anderen Sprachen der europäischen Nationen. Deshalb plädiert er für eine Politik, die deren Bedeutung hervorhebt und für ihre Bewahrung und Entwicklung eintritt. Dazu muss man ihm zufolge aber eine andere Auffassung von Sprache haben als die bloß instrumentell kommunikative.

C. H. Beck Verlag, 235 Seiten, € 18,95

Wilfried Loth

Europas Einigung

Eine unvollendete Geschichte

Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union zählt zu den zentralen Themen der Zeitgeschichte. Wilfried Loth erzählt sie auf der Grundlage interner Quellen der Mitgliedsländer und der Gemeinschaft - von der Lancierung des Europarats und des Schuman-Plans im Kontext der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis zur "Euro-Krise" unserer Tage. Loth will analysieren, welche Antriebskräfte hinter dem europäischen Integrationsprozess stehen und wie dieser Politik und Gesellschaft in Europa verändert hat. Im Mittelpunkt stehen dabei Entscheidungen prominenter Akteure, etwa Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Jean Monnet, Willy Brandt, Valéry Giscard d’Estaing, Jacques Delors, Helmut Kohl oder Angela Merkel. Außerdem zeigt Loth auf, welche Alternativen nicht zum Zuge kamen. Auf der Grundlage dieser historischen Bilanz lässt sich ermessen, vor welchen Möglichkeiten die Europäische Union heute steht.

Campus Verlag, 512 S., € 39,90

Persönliche Empfehlung des Monats April von Jacques Schuster:

Annika Mombauer

Julikrise

Europas Weg in den Ersten Weltkrieg

Warum führte das Attentat serbischer Nationalisten zum Ersten Weltkrieg? Ist Europa in den Krieg "hineingeschlittert", wie es der britische Premier Lloyd George einst formulierte? Oder lassen sich klare Verantwortlichkeiten benennen? Auf der Grundlage einer Auswahl zeitgenössischer Quellen erzählt Annika Mombauer die Geschichte der Julikrise - vom Attentat in Sarajewo am 28. Juni bis zur englischen Kriegserklärung an Deutschland am 4. August 1914. Dabei kommt sie zu anderen Ergebnissen als neuere Forschungen, die die Verantwortung für die Eskalation der Krise nicht nur bei Österreich-Ungarns und dem Deutschen Reich sehen.

C. H. Beck Verlag, 128 Seiten, € 8,95

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