Not und Spiele

Das große Spektakel: Die Europäische Union und die Europameisterschaft

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"Die EM ist nicht nur ein Fest des Fußballs, sondern auch ein Fest der europäischen Idee."

(François Hollande, französischer Staatspräsident)

Wer immer noch glaubt, Fußball habe mit Politik nichts zu tun, der muss in einer anderen Welt leben. Gewiss: Kurzschlüsse sind so wenig erlaubt wie plumpes Gebolze auf dem grünen Rasen. Aber schon der römische Dichter Juvenal, von dem die Formel "Panem et circences" (Brot und Spiele) stammt, wusste, dass die Organisation der Gelüste politische Auswirkungen hat.

Schon ganz konkret: Die Taktung der Gesellschaft funktioniert im kommenden Monat nach der Struktur 15 Uhr, 18 Uhr, 21 Uhr. Über Anspannung und Entspannung der Gesellschaft entscheidet jedes Spiel der nächsten vier Wochen ein klein wenig mit.

Auch unter den Politikern wird es Sieger und Verlierer geben. Wer sich als Anhänger der europäischen Idee und Gegner aller rechtspopulistischen und rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen, antirechtsstaatlichen Tendenzen begreift, der wird den entsprechenden Politikern in den Regierungen Polens, Ungarns, der Slowakei und der Türkei kein Glück wünschen - und damit den das Land repräsentierenden Nationalmannschaften.

Denn Erfahrungen zeigen, dass das Abschneiden bei Fußballturnieren deutliche Auswirkungen auf die politische Zufriedenheit der jeweiligen Bevölkerung haben.

Und noch konkreter: Hätte Frankreich das Eröffnungsspiel gegen Rumänien nicht gewonnen, hätte sich die angespannte Stimmung im Land verschärft.

Grafik: TP

Es stimmt zwar: Fußball ist das Gegenteil zu den herrschenden Verhältnissen. Hier ist Europa grenzenlos, hier ist Migration ausdrücklich erwünscht, Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte wird leicht gemacht und gefördert, ebenso die Integration von neuankommenden Fremden und ihren Angehörigen. Gegen Familiennachzug hat auch keiner etwas einzuwenden.

Hier ist das Publikum klassenlos und noch der kleinste Fußballarbeiter ein Großverdiener. Es herrschen geradezu utopische Gerechtigkeitsmodelle, denn während die Gesellschaft eher nach dem Modell einer ewigen Tabelle funktioniert, kann man im Fußball Punktekonnten nicht vererben, und wie bei jedem Turnier die Nationalmannschaften, fangen jedes Jahr alle Vereine wieder bei null an.

Klassenfragen - Rassenfragen

Andererseits spiegeln natürlich diverse Vorgänge rund um den Fußball die herrschenden Verhältnisse: Die finanzielle Ausstattung der Großvereine wie der Nationen, die fußballerische Stärke bestimmter Städte und Regionen spiegelt Ökonomisches, die soziale Herkunft der Spieler, der Wandel der Stadionarchitektur - von der Erdmulde zur designten Hysterieschüssel, von der Kampfbahn zur Arena, vom distanzerhaltenden Sportfeld zum engen Emotionsklotz - schließlich die mediale Aufbereitung und Präsentation des Fußballs.

Kurz: Fußball ist ein "Realitätsmodell" (Klaus Theweleit). Im Kleinen, Überschaubaren taugt es als Spiegel für die ganze Welt.

Dass sich über Fußball sich auch gesellschaftliche Konflikte austragen und verhandeln, beschwichtigen und zuspitzen lassen, zeigte sich erst gerade bei den rassistischen Anwürfen der AfD-Spitze gegen Spieler der deutschen Nationalmannschaft: Özil und Boateng sollen, wenn es nach den Rechtsextremisten geht, nicht dazugehören - aus Gründen der Hautfarbe und der Religion. Da zählen auch Verfassungsnormen wie Menschenwürde, Gleichheit der Bürger und Religionsfreiheit nicht mehr.

Natürlich benutzen die Rassisten damit nur die Nationalmannschaft als Projektionsfläche und versuchen, sie im Sinne ihrer rassistischen Ideen zu instrumentalisieren.

Bereits 1998 waren Rassenfragen im Fußball zum Thema gemacht worden: Der WM-Sieg der "Équipe Trícolore" wurde auch als Sieg einer "bunten" multikulturellen Gesellschaft begriffen, und als Abbild eines Landes, in dem alle Menschen, alle Herkünfte und Hautfarben zumindest prinzipiell die gleichen Rechte und Chancen haben.

Es geht im Sport, vor allem im Mannschaftssport, für die Massen immer auch um Identitätssuche, Identitätsbestätigung. Das hat der deutsche Erdogan, Alexander Gauland von der AfD, besser erkannt als andere, darum möchte er ja Özil, Boateng und anderen die deutsche Identität verweigern.

Fußball als Ausdruck der europäische Idee, ihrer Realitäten

Es geht aber auch um die europäische Idee. Zwar war die Behauptung, durch das zunehmende Zusammenwachsen der EU würden die Europameisterschaften abgeschafft, hirnrissig. Als ob durch das Zusammenwachsen der Bundesländer die Bundesliga abgeschafft würde. Trotzdem verraten die Europameisterschaften natürlich viel über das Europa der Gegenwart: Das EM-Europa ist nämlich schon mal viel größer als das der EU. Schade zwar, dass die Griechen diesmal nicht dabei sind. Doch das EM-Europa reicht vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer, von Island bis nach Kurdistan. Es reicht aber genau genommen noch weiter: Hier ist der Idealismus längst real geworden, an den Evelyn Roll in ihrem lesenswerten Buch "Wir sind Europa!" etwas verzweifelt appelliert.

Relikte des Nationalismus sind - insbesondere in Deutschland - vor allem die Nationalhymnen und der nationalistische Gesinnungstest, welcher Nationalspieler diese vor dem Spiel mitsingt. Die richtige Antwort hierauf wäre eigentlich, wenn die Mannschaft verkünden würde, bis auf weiteres aufs Mitsingen komplett zu verzichten. Da wäre auch eine symbolische Absage an die allgemeine Amerikanisierung des Sports. Bis in die 80er-Jahre haben deutsche Nationalmannschaften nie mitgesungen. Das deutsche Nationalhymnenmitsingen ist ein junges Verhalten - in einer toleranten, offenen Gesellschaft sollte es jedem selbst überlassen, wie er wann mitsingt.

Viele deutsche Fans haben neben ihren oft zwei, drei oder mehr deutschen Lieblingsvereinen auch Lieblingsclubs im Ausland. Sie schauen im Internet (früher im Teletext am Fernseher) wie der AS Rom oder der OSC Lille, wie Atletco Madrid, Betis Sevilla, Feyenoord Rotterdam und Aston Villa gespielt haben. Trotzdem gilt bei den Europa und Weltmeisterschaften "eine Art Zwang ... mit den deutschen Mannschaften mitzuzittern" (Theweleit).

Auch hier übernehmen Fiktion und Phantasma das Kommando.

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