Erdogans Traum

Der türkische Präsident sieht sich als Weltvertreter aller Muslime, aber sein Geltungsanspruch stößt an Grenzen

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Während sich an den europäischen Grenzen das Dilemma des Nationalstaats wiederholt, fragen sich viele derzeit besorgt: Was ist los mit Erdoğan? Dabei geht es nicht nur um das Verhältnis zwischen Türkei und Europäischer Gemeinschaft, sondern auch um Fragen der politischen und kulturellen Identität in Zeiten rasch fortschreitender Globalisierung.

Erdoğan, der in der Innenpolitik auf eine Generation orthodox-sunnitischer Gläubiger zurückgreifen kann - die türkische Journalistin Amberin Zaman nannte diese Riege seiner Anhänger mal die "Neo-Proletarier Erdoğan'scher Gesinnung" -, gebärdet sich außenpolitisch immer deutlicher schlicht dichotom: Da sind die Muslime - und die Feinde der Muslime.

Klar erkennbar geht Erdoğans Führungsanspruch inzwischen weit über sein Land hinaus, stößt aber international auch an Grenzen. Frustriert kehrte der Präsident Ende der Woche vorzeitig von der Trauerfeier für Muhammad Ali aus Amerika zurück, wo es ihm nicht gelang, sich als Weltvertreter aller Muslime zu profilieren.

Recep Tayyip Erdoğan (2013). Bild: Michał Józefaciuk/CC BY-SA 3.0 PL

Die "Faust des Islam" - das Wunschbild vom starken Land

Man muss dazu sagen, der verstorbene Boxer wird in der Türkei auch als "Faust des Islam" gerühmt, und Erdoğan wurde in der regierungsfreundlichen heimischen Presse mehrfach mit dem Idol verglichen. Doch in Louisville legte man offenbar keinen gesteigerten Wert auf Erdoğans weitreichende Ambitionen: Sein Wunsch, am Sarg des verblichenen Kraftmenschen ein Stück vom Stoff der Kaba - des höchsten islamischen Heiligtums in Mekka - abzulegen und dazu aus dem Koran zu rezitieren, wurde abgewiesen. Von der Rednerliste der Trauerfeierlichkeiten war der Angereiste auch schon gestrichen worden. Verärgert flog der türkische Präsident ab, den islamischen Führungsanspruch mit im Rückreisegepäck.

Die religiös-politische Weltanschauung Erdoğans ist auch für seine Außenpolitik maßgeblich geworden, wie es scheint. Im eigenen Land setzt der Chef auf einen "autoritären Präsidentialismus", eine Regierungsform, die nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib verfassungsmäßig vielfach gestaltet werden kann und nach ihrer Meinung durchaus mit den Verhältnissen in Ungarn, Singapur oder Russland vergleichbar ist. Im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger erläutert Benhabib (Jg. 1950), die seit 2001 an der Yale-University in New Haven lehrt, das Wunschbild vom "starken Land":

Die Türken wollen ein größeres Einflussgebiet schaffen und haben es auch langsam erreicht. In ehemaligen russischen Republiken oder in arabischen Ländern. Die Türkei ist ein starkes Land, und Erdoğan pflegt seine Illusion von einer Großmacht. Er redet fast permanent von Auferstehung, vom Aufwachen. Es ist fürchterlich.

Seyla Benhabib, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 13. Juni 2013: "Keiner traut sich, etwas zu sagen": Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib über den autoritären Präsidentialismus in der Türkei

Für Erdoğan, so resümiert die Dozentin, die einer sephardisch-jüdischen Istanbuler Familie entstammt, ist der Islam eine willkommene Staatsideologie; die fromme Bevölkerungsmasse werde von ihm gezielt auf die Weise angesprochen. Währenddessen rückten die türkischen Intellektuellen jedoch in eine "innere Emigration", die liberale Demokratie und die Legalität würden unterminiert: "Das Parlament ist kraftlos. Erdoğan ist ein Meisterdenker, was die Entmachtung der Institutionen angeht." Er habe, so Benhabib, "das Parlament zwar noch nicht abgeschafft, aber über allem liegt eine Scheinlegalität".

Der Meisterdenker, ein Diplom und mehr als ein Fragezeichen

Kritiker setzen Erdoğan gerade unter Druck, ihr Argument: Erdoğans Studienabschluss aus dem Jahr 1981 genüge nicht den Kriterien, die die türkische Verfassung anlegt, wenn es um das Staatsoberhaupt geht. Einige Stimmen gehen sogar so weit, eine Fälschung zu vermuten. Präsidentensprecher Ibrahim Kalin reagierte gereizt: "Wollen Sie, dass wir von diesem Diplom zehn Millionen Kopien anfertigen, um es allen zu schicken?" In der amtlichen Biographie Erdoğans wird ein Abschluss nach vier Studienjahren an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften der Marmara-Universität erwähnt, dem ging offenbar eine Art Fachabitur für islamische Geistliche - Imame - voraus.

Zu den Voraussetzungen einer Kandidatur für das Präsidentschaftsamt gehören nach der türkischen Verfassung laut Paragraf 101 einige Punkte, so das vollendete vierzigste Lebensjahr, die türkische Staatsbürgerschaft, ein Parlamentsmandat (oder zumindest eine mögliche Wählbarkeit zum Parlamentsabgeordneten) und eben eine abgeschlossene Hochschulausbildung.

Die neuerliche Debatte dürfte Erdoğan-Anhänger nicht freuen. Nach westlichen Medienberichten hat ihr geliebter Präsident sage und schreibe 44 Ehrendoktortitel eingeheimst, da nervt die Frage umso mehr, ob beim Uni-Diplom des Mannes mit den hochfliegenden Plänen alles mit rechten Dingen zuging.