Polizistenmord in Frankreich: Der Faktor IS und die Suche nach dem Fehler im System

Der nächste Anschlag, den der IS als Erfolg vermittelt, der Täter hat gar live über Facebook vom Tatort berichtet, alte Fragen und keine neuen Antworten

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In Maganville, etwa 60 Kilometer von Paris entfernt, hat ein Angreifer einen Polizisten und dessen Ehefrau getötet. Französische Anti-Terroreinheiten erschossen den Mann, nachdem sie Verhandlungen mit ihm als gescheitert ansahen. Staatspräsident Hollande bezeichnete die Tat als Terrorakt. Der IS brüstete sich später mit den Morden.

Wieder ein Anschlag, den sich der IS auf seine Fahnen schreibt, ohne dafür Organisatorisches einsetzen zu müssen, es genügt ein Fanatiker (vgl. Orlando und der neue Terrorismus).

Auf Facebook-live hat der 25-jährige Mörder aus der französischen Provinz vom Tatort berichtet, ab 20Uhr52 "en direct". Das Video hat eine Länge von 13 Minuten und 15 Sekunden. Auf seinem Facebook-Account "Mohamed Ali" fanden sich auch Fotos der Opfer. Mittlerweile ist der Account gelöscht.

Zu sehen waren nach Angaben des französischen Journalisten, David Thomson einmal das kleine Kind auf dem Sofa in der Wohnung des ermordeten Paares. Der Mörder spricht in die Kamera, dass er noch nicht wisse, was er mit dem Kind machen werde, zum anderen Proklamationen für den IS.

"Man (!) habe die Erklärungen von Adnani (Sprecher des IS, der vor dem Ramadan zu Morden aufgerufen hat) positiv beantwortet." Dessen Aufruf wird dann noch weiter verstärkt. Noch mehr Polizisten, Gefängniswärter und Journalisten sollen getötet werden, Namen werden genannt. Dann gibt es noch einen Satz für die Medien: "Die EM wird zum Friedhof."

Die Botschaft der Gefährlichkeit forcieren

Schon haben die ersten Medien, vom deutschen und englischen Boulevard, ihre Anfragen auf dem Tweet losgeschickt, ob Thomson nicht eine Sicherungskopie habe. Gut möglich, dass auf dem Video viel mehr zu sehen ist. Aufmerksamkeit ist jedenfalls garantiert.

Dem Facebook-Fanboy die Gunst erweisen, ihn als Hauptdarsteller zu bestätigen? Mitspielen bei einer Inszenierung, die das Grundanliegen des IS transportiert: Relevanz bestätigen, mithelfen beim Gruseln, für die größtmögliche Aufmerksamkeit sorgen, die Botschaft, dass der IS die gefährlichste Bande der Welt ist, die überall zuschlagen kann, forcieren?

Wegen Mitgliedschaft zu einer terroristischen Gruppe verurteilt

Nicht die einzigen altbekannten Fragen, die der Fall wieder aufstellt. Der 25-jährige Täter tötete gestern Abend in einem Provinzort im Département Yvelines einen Polizisten und dessen Frau angeblich durch Stichverletzungen (genauerer Ablauf des Geschehens für Interessierte, die französisch können, hier).

Er war wegen Verbindungen zu terroristischen Gruppen nicht nur der Polizei und dem Geheimdienst, sondern auch der Öffentlichkeit bekannt. Mit vollem Namen wird Larossi Abballa in einem Artikel von 2013 über einen Prozess gegen eine Gruppe von Dschihadisten genannt. Sie sollen in Frankreich und Pakistan (Ausbildungslager) agiert und rekrutiert haben. Der Gruppe wurde die "Vorbereitung terroristischer Akte vorgeworfen. Keine Anklage also wegen Gewalttätigkeiten, Diebstahl oder kleinerer Vergehen, die schon in der Polizeiakte des in Frankreich Geborenen standen.

Larossi Abballa. Screenshot

Für seine Mittäterschaft wurde Abballa Ende September 2013 zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt, sechs Monate davon auf Bewährung. Wie mit Verdächtigen umzugehen ist, die bereits sehr aktiv in Dschihadistenkreisen tätig waren, gehört ebenfalls zu den altbekannten und ungelösten Fragen. Die Gefängnisstrafe für den Mann mit Hang zur irrational motivierten Gewalt war in diesem Fall aus Sicht seiner Opfer zu kurz.

Als "nicht bedrohlich" eingestuft

Laut Le Monde war Larossi Abballa Ermittlern vor kurzer Zeit nochmals aufgefallen, da er Kontakte zu einem Mann hatte, der nach Syrien ausgereist war. Er war allerdings nicht "als bedrohlich" eingestuft worden.

Vonseiten des Innenministeriums, dem der Geheimdienst und der Anti-Terror-Apparat unterstehen, wird auf die alte Frage, was die Überwachung Verdächtiger anhand solcher Fälle taugt, erneut die personellen Nöte entgegengehalten. Eine Rundum-Überwachung sei anhand mehrerer tausend Verdächtiger nicht zu stemmen.

Erfolgszahlen und Überwachung

Den Vorwürfen werden dann, wie üblich, andere (Erfolgs)-Zahlen entgegengehalten , die die Anstrengungen der Anti-Terror-Bemühungen darlegen. Seit dem 14. November seien über 100 Verhaftungen vorgenommen wurden, sagte Innenminister Cazeneuve. 3.579 Durchsuchungen, 420 vorläufige Festnahmen, 404 Hausarreste, daraus erfolgten 67 Gerichtsurteile, 31 davon im Zusammenhang mit dem Terrorismus - in der Hauptsache wegen dessen Rechtfertigung.

Nimmt man ins Bild, dass die französischen Ermittler seit Jahren über größere Überwachungsbefugnisse, darunter die vom deutschen Innenminister so sehr gewünschte Vorratsdatenspeicherung, und seit November über Möglichkeiten des Ausnahmezustands verfügen, so lässt dies banalen Schluss zu: Nämlich, dass die Wirksamkeit von Überwachung bei den neueren terroristischen Anschlägen mit der Wirksamkeit von Anschlägen wie jetzt in Magnanville nicht mithalten. Suche den Fehler, also. Er hat in diesem Fall - und vielleicht auch in Orlando - mit einer Kompetenz zu tun, die altmodisch mit Menschenkenntnis überschrieben wurde und eventuell mit der Vernachlässigung tradierter Ermittlungsmethoden zu tun hat.

Und die "human knowledge"?

Das ist zugegeben Spekulation. Sie unterstellt, dass zu viel Arbeit und Personal an technische Möglichkeiten gebunden wird und damit zusammenhängende Verwaltung von Daten, zu viel Vertrauen in mehr und mehr Informationen gesetzt wird statt in human knowledge. Wie kommt es, dass Journalisten wie der eingangs genannte David Thomson zum Beispiel, mehr über die Dschihadisten-Szene in Erfahrung bringen als vieles, was von offizieller Seite bekannt gegeben wird.

Thomson hatte schon zur Vita des Pariser Attentäters Abdelhamid Abaaoud mehr beigesteuert, als zuvor offiziell bekannt wurde. Seine Kenntnis der "Szene" stützt sich auf Gespräche mit Salafisten und Dschihadisten. Nun kann man entgegengehalten, dass alles, was Szenekenner wie der Genannte wissen, den Fachleuten vom Amt längst bekannt ist.

Dass sie sich aber den Grundsatz halten, den der deutsche Innenminister de Maizière einmal laut ausgesprochen hatte, wonach der Bevölkerung nicht die ganze Wahrheit zuzumuten sei, auch um Ermittlungen nicht zu gefährden. Der Verdacht bleibt, dass sich die Fahnder in den Milieus der Salafisten und Dschihadisten so gut auskennen wie Mitarbeiter des IWF oder der Weltbank in den Ländern, die sie mit ihren Konzepten beglücken. Die Wirklichkeit der Länder ist ihnen hauptsächlich über Zahlen, Bildschirme und Infos aus Besprechungsräumen bekannt.

Es bleibt die Skepsis gegenüber der hergebrachten Reaktion auf Anschläge, die sich meist auf die Befugniserweiterung der Polizei und einer besseren Zusammenarbeit der Dienste beschränken. Bei Anschlägen von Einzeltätern wie sie der Schwulenhasser in Orlando und der Polizistenhasser in Manganville ausgeführt haben, scheint dies nicht die richtige Erfolgsspur zu sein.