Unwilliges Gedenken an den Angriffskrieg 1941

Deutsche Soldaten beobachten ein brennendes Dorf im Sommer 1941. Bild: Respek.info

Die Bundesregierung wollte den 75. Jahrestag des "Unternehmens Barbarossa" übergehen. Am Ende debattierte immerhin der Bundestag noch

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Es war ein hilfloser Versuch der Bundesregierung, über den offensichtlich politischen Umgang mit dem Gedenken an den 22. Juni 1941 hinwegzutäuschen: Es entspreche "dem Verständnis der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, dass die Bundesregierung die Aufarbeitung von Geschichte sowie entsprechende Gedenkveranstaltungen nicht in Eigenregie durchführt", hieß es in der Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion zum 75. Jahrestag des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion. So versuchte man in Berlin zu erklären, weshalb die Regierung den Jahrestag des "Unternehmens Barbarossa" ohne einen eigenen Beitrag hätte verstreichen lassen.

Während in Russland und anderen Staaten der damaligen Sowjetunion heute mit Staatsakten der Invasion gedacht wurde, die nach Schätzungen von Historikern alleine in den Staaten der Sowjetunion gut 30 Millionen Menschen das Leben kostete, wurde in Berlin erst auf Drängen der Linken und nach zunehmend kritischen Kommentaren in der Presse eilends eine Stunde in der Tagesordnung des Bundestags freigeschaufelt. Das alles wirkte recht unbeholfen und, wie man im Bundestag dieser Tage öfter feststellte, reichlich peinlich. Es ist aber - und das ist die ernsthaftere Lehre aus dem heutigen Tag - auch ein Zeichen des zunehmenden Geschichtsrevisionismus in Deutschland. Konkret gesagt: Wer wieder Panzer an die russische Grenze schickt, muss das Gedenken an die Folgen des letzten Ostfeldzugs vermeiden.

Kritisiert hatten das ausbleibende Gedenken an den 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion die Linken. In der Kleinen Anfrage wollte die Abgeordnete Sevim Dagdelen wissen, wie und wo die Bundesregierung an den Gedenkveranstaltungen beteiligt sein wird. Erst daraufhin wurde bekannt, dass kein eigenes Event geplant war, auch wenn sich Vertreter von Bund und Ländern an extern ausgerichteten Veranstaltungen beteiligten. Auch sei nicht vorgesehen, an Gedenkveranstaltungen im Ausland teilzunehmen, hieß es in den eher unwillig formulierten und knapp gehaltenen Antworten. Der krasse Unterschied zum Gedenken an den 70. Jahrestag des Kriegsendes in Europa im vergangenen Jahr - damals mit Gedenkstunde im Bundestag - ist offensichtlich.

Widerstand in Ex-Sowjetstaaten bis heute identitätsstiftend

In den betroffenen Ländern sah das Bild komplett anders aus. In Russland haben Regierung und Bevölkerung am Mittwoch im privaten und öffentlichen Raum ihrer Toten gedacht. Schon in der Nacht hatten viele Menschen mit einer brennenden Kerze im Fenster ein Zeichen gesetzt. In der Duma gedachten die Abgeordneten am Mittwoch mit einer Schweigeminute des Krieges und seiner Folgen. Präsident Waldimir Putin legte einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten in Moskau nieder. Zahlreiche Menschen kamen zum Denkmal für den "Großen Vaterländischen Krieg", wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird.

Auch in fast allen anderen ehemaligen Sowjetstaaten wurde des 75. Jahrestages gedacht. In der Ukraine erinnerte Präsident Petro Poroschenko an "jenen traurigen Tag", an dem "der Krieg über unser Land (kam), dem keine Familie entgehen konnte". Poroschenko bezeichnete die Ukraine mit antirussischem Impetus zugleich als Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus gleichermaßen. Gedenkveranstaltungen gab es zudem in vielen anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion - mit Ausnahme des westlich orientierten Baltikums und Georgiens.

Der deutsche Vernichtungskrieg und der Widerstand sind für die osteuropäischen Staaten bis heute identitätsstiftend, was vor allem an der Dimension dieses Feldzugs und der Art des Vorgehens auf deutscher Seite liegt. Rund drei Millionen Wehrmachtssoldaten hatten am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen, unterstützt wurden sie von knapp 700.000 Verbündeten. Nach einem schnellen Vormarsch waren Ende 1941 über die Hälfte der sowjetischen Stahlproduktion und knapp die Hälfte der Getreideernte in deutscher Hand. Das zählte zu Hitlers Kalkül: Von den Deutschen war der Ostfeldzug als Vernichtungskrieg gegen den "jüdischen Bolschewismus" und das "Slawentum" angelegt. Die Folgen waren verheerend: Jeder dritte Bewohner der UdSSR - bis zu 65 Millionen Menschen - litt unter der deutschen Besatzung. 26,6 Millionen Menschen starben, gut zwei Drittel davon Zivilisten. Zudem ließen die Deutschen rund drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene verhungern.

Angriffskrieg 1941 ohne festen Platz in gesamtdeutscher Gedenkkultur

In der gesamtdeutschen Gedenkkultur nach 1990 hat der Angriffskrieg nie seinen adäquaten Platz gefunden. Das zeigt sich nicht nur in der weitgehenden Ignoranz, mit der die Bundesregierung dem 75. Jahrestag des Überfalls begegnete. Die Linken-Abgeordnete Dagdelen verweist auf die jüngste Einladung einer russischen Delegation unter Leitung des Präsidentenberaters Michail Fedotow. Ziel des für Anfang Juli dieses Jahres geplanten Besuchs sei es gewesen, "Lehren der Vergangenheit und Aussöhnung" zu diskutieren, zitiert Dagdelen aus Bundestagsunterlagen.

Doch damit war nicht der deutsche Angriffskrieg gemeint. Einem Schreiben an die Mitglieder der Deutsch-russischen Parlamentariergruppe war zu entnehmen, es ginge darum, sich "im Vorfeld des Gedenkjahres 2017 (Oktoberrevolution, stalinistischer Terror)" dem Andenken der Opfer der politischen Repression zu widmen. "Kein Wort zum deutschen Terror 1941", monierte Dagdelen.

Es gab allerdings auch andere Zwischentöne. Bundespräsident Gauck, der in der Vergangenheit eher durch antirussische und geschichtsrevisionistische Positionen von sich reden gemacht hatte, erklärte zum Jahrestag: "Auch wenn beim Vormarsch der Roten Armee und später im sowjetischen Machtbereich neues Unrecht begangen wurde und neue Unterdrückung erfolgte, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Völker der Sowjetunion einen großen, unersetzlichen und unvergesslichen Anteil am Sieg über den Nationalsozialismus hatten."

Außenminister Steinmeier veröffentlichte in drei Zeitungen ehemaliger Sowjetrepubliken - in der russischen Tageszeitung "Kommersant", der ukrainischen Wochenzeitung "Zerkalo Nedeli" und der weißrussischen Tageszeitung "Sowjetskaja Belarusia" - einen Beitrag, in dem er konstatierte: "Der deutsche Angriffskrieg (...) brachte (...) Hunger, Leid und Vertreibung." Daher bleibe das Wachhalten der Erinnerungen an die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und an die deutsche Schuld eine "unverzichtbare, zwingende Voraussetzung für die Aussöhnung zwischen unseren Ländern".

Debatte im Bundestag

Die Debatte im Deutschen Bundestag war im letzten Moment auf Initiative der Linksfraktion angesetzt worden. Unter den Fraktionsgeschäftsführern hatten die Linken auf den Tagesordnungspunkt gedrängt, der zunächst mit gut einer halben Stunde und dann mit 60 Minuten anberaumt wurde. Dass dies eine Verlegenheitslösung war, wurde internen Gremien in den vergangenen Tagen mehrfach beanstandet.

Zum Gedenken an den Holocaust mit seinen sechs Millionen Toten wird im Bundestag immerhin traditionell ein feierlicher Gedenkakt ausgerichtet. Der Angriffskrieg auf die Sowjetunion und die Besatzung mit fast zweieinhalb Mal so vielen zivilen Opfern sollte übergangen werden. Manchem Abgeordneten war dabei unwohl.

Dessen ungeachtet nutzte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die Gelegenheit am Mittwoch, um in der Auftaktrede vor einer "Entfremdung" zu Russland zu warnen. Man dürfe nicht zulassen, "dass Reflexe und Vorurteile aus längst vergangenen Zeiten wieder auferstehen, als seien sie nie weggewesen". Er warf Russland allerdings auch vor, auf der Krim "erstmals" die Friedensordnung in Europa verletzt zu haben.

Dies ließ unmittelbar erahnen, dass die Debatte von den aktuellen Spannungen zwischen den Nato-Staaten und Russland überschattet sein musste. Vor wenigen Tagen noch hatte Steinmeier die Transatlantiker mit seiner Kritik am "Säbelrasseln" der Nato gegenüber Russland irritiert. Der CDU-Politiker Jürgen Hardt bezeichnete diese Wortwahl am Mittwoch erneut als "völlig unsensibel". Der Linksparteiabgeordnete Gregor Gysi hob die Äußerung indes lobend hervor, kritisierte die Haltung Steinmeiers zugleich aber als unglaubwürdig. Schließlich habe auch Deutschland im Rahmen der völkerrechtlich zweifelhaften Truppenverlegung der Nato 250 Soldaten an die russische Grenze entsandt.

Gysi verwies zugleich auf die Doppelzüngigkeit der Kritik an der Krim-Annexion durch Russland. Schließlich sei auch die von der Nato forcierte Abspaltung der nordserbischen Provinz Kosovo nicht rechtens gewesen. Damals habe Russland aber nicht militärisch reagiert.