Amazon Polen: Über 2000 Beschäftigte wollen streiken

Amazon-Versandzentrum in Poznan-Sady. Bild: Ralf Ruckus

Restriktive polnische Arbeitsgesetze verbieten jedoch einen Streik

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Schon seit 2013 streiken Beschäftigte des Onlineversandhandels Amazon in Deutschland regelmäßig für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne - die weltweit ersten und einzigen offiziellen Streikaktionen gegen das globale Unternehmen überhaupt. Beschäftigte polnischer Amazon-Versandzentren, die in erster Linie den deutschen Markt beliefern, versuchen seit über einem Jahr, eine weitere Streikfront zu eröffnen.

Bei einer Streikurabstimmung in den drei polnischen Amazon-Versandzentren bei Poznań und bei Wrocław, die von Ende Mai bis Mitte Juni lief, stimmten über 2.000 Beschäftigte für die Durchführung von Streikaktionen. Da aber weniger als fünfzig Prozent der etwa 5.500 Beschäftigte zählenden polnischen Amazon-Gesamtbelegschaft an der Abstimmung teilnahmen, darf nach polnischem Arbeitsrecht kein Streik durchgeführt werden.

Basisgewerkschaft "Arbeiterinitiative"

Die Urabstimmung wurde nicht von der mit Ver.di im internationalen Gewerkschaftsdachverband UNI Global Union verbundenen und auch bei Amazon in Wrocław vertretenen Solidarność organisiert, sondern von der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (IP, deutsch: Arbeiterinitiative). Die IP hat bei Amazon insgesamt über 350 Mitglieder - davon über 300 am Standort Poznań-Sady und mittlerweile auch ein paar Dutzend in den Versandzentren in Wrocław.

In Poznań hatten unzufriedene Amazon-Beschäftigte bereits im Dezember 2014 - also drei Monate nach der Eröffnung des dortigen Versandzentrums - begonnen, eine Betriebsgruppe der IP aufzubauen. Diese kommt ohne hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre oder freigestellte Betriebsräte aus. Diskussionen und Entscheidungen laufen ausschließlich über Mitgliederversammlungen und gewählte Vertrauensleute, die selbst im Versandzentrum arbeiten.

Wilder Bummelstreik im Juni 2015

Die Urabstimmung markiert den vorläufigen Höhepunkt in einem bereits seit einem Jahr schwelenden Arbeitskampf. Er begann mit einem wilden - nicht offiziell von der IP organisierten - Bummelstreik im Amazon-Versandzentrum Poznań-Sady. In der Nachtschicht vom 24. auf den 25. Juni 2015 protestierten Dutzende Lagerarbeiterinnen und -arbeiter gegen zwangsweise angeordnete Überstunden.

Da bei Amazon in Deutschland gerade wieder gestreikt wurde, hatte die Geschäftsführung kurzfristig Aufträge aus Deutschland nach Poznań verschoben und dort die Schichten von zehn auf elf Stunden verlängert. Den polnischen Beschäftigten war durchaus bewusst, dass sie als Streikbrecher fungieren sollten, denn die IP hatte seit Tagen mit Flugblättern und einem auf dem Zufahrtsweg zum Versandzentrum aufgehängten Transparent über den Streik informiert. Der Protest war also auch ein ausdrückliches Zeichen der Solidarität mit den streikenden Kolleginnen und Kollegen in Deutschland.

Beim Bummelstreik in Poznań-Sady legten die "Picker", welche die bestellten Artikel aus den Regalen zusammensammeln, den Warenversand lahm, indem sie einen Flaschenhals im Arbeitsablauf ausnutzten. Normalerweise packen sie jeweils etwa ein Dutzend Artikel in eine Plastikbox und stellen diese auf ein zur Verpackungsabteilung führendes Förderband. Diesmal legten sie nur jeweils einen Artikel in eine Box, so dass das Förderband im Handumdrehen verstopfte, Boxen herunterfielen und das Band abgestellt werden musste.

Amazon behauptet, dass die Produktivität in jener Nacht um 34 Prozent gefallen sei. In der Klageerwiderung gegen die Kündigungsschutzklage eines wegen der Teilnahme am Bummelstreik entlassenen Lagerarbeiters beschreibt Amazon mit bemerkenswerter Offenheit, wie sich eine kollektive Aktion im Betrieb organisieren lässt:

Dadurch, dass nur ein Artikel in eine Box gelegt wird (…), wird der Arbeitsprozess bewusst und absichtlich verlangsamt, was sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die weiteren Prozessschritte auswirkt. Eine solche Behinderung des Arbeitsprozesses zieht umso größere potenzielle Verluste und Schäden für den Arbeitgeber nach sich, wenn eine Gruppe von Mitarbeitern bewusst und absichtlich nur einen Artikel in eine Box legt. Ein solches organisiertes Verhalten beeinträchtigt insgesamt die Fähigkeit des Logistikzentrums, die Wünsche der Kunden zu erfüllen, und führt zu einer erheblichen Verringerung der Produktivität, da damit nicht nur die Arbeit einzelner Mitarbeiter verlangsamt wird, sondern auch die Arbeit im Bereich Sortierung und Verpackung. Es kann auch zur Verstopfung des Förderbands kommen, auf dem die Boxen stehen, was wiederum zum Stillstand des gesamten Fulfilment-Prozesses führen könnte.

Amazon

Die direkte Bezugnahme auf den gleichzeitig stattfindenden Arbeitskampf bei Amazon in Deutschland war möglich, weil die IP-Betriebsgruppe bereits seit Januar 2015 auf mehreren selbstorganisierten grenzübergreifenden Treffen Amazon-Beschäftigte aus Deutschland kennengelernt hatte - ein seltenes Beispiel selbstorganisierter Vernetzung von Arbeitern und Arbeiterinnen aus mehreren Ländern. Die Betriebsaktivisten aus den deutschen Amazon-Zentren hatten die Kollegen und Kolleginnen von der IP schon im Vorfeld über den Streik informiert.

Verhöre und Entlassungen

In den Tagen und Wochen unmittelbar nach dem Bummelstreik griff Amazon auch zu repressiven Maßnahmen. Während bekannte IP-Aktive in Ruhe gelassen wurden, wurden scheinbar zufällig Arbeiter und Arbeiterinnen, die weniger gefestigt und gut vernetzt schienen, herausgegriffen und nach Verhören freigestellt, zu Aufhebungsverträgen gedrängt oder entlassen. Wie die IP schreibt, wurden die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Verhören aufgefordert, Erklärungen zu unterschreiben, ob sie am Protest beteiligt waren und wer sie zum Protest aufgefordert hatte:

Einige kamen mit Tränen in den Augen aus dem Verhör, andere unterschrieben, dass sie absichtlich langsam gearbeitet hätten und das wieder tun würden, wenn die Firma sie wieder zu Überstunden zwänge. Wir haben den Kollegen geraten, weder Verhörprotokolle noch Aufhebungsverträge zu unterschreiben. Mehrere Mitarbeiter wurden von der Arbeit freigestellt (unter Weiterbezahlung des Lohns), andere unterschrieben Aufhebungsverträge und gingen freiwillig - die meisten wollen nichts mehr mit Amazon zu tun haben. Auf diese Weise bestrafte Amazon demonstrativ ein paar zufällig ausgewählte Mitarbeiter.

IP

Fast ein Jahr nach dem Bummelstreik, am 31. Mai 2016, begann vor dem Arbeitsgericht in Poznań das Kündigungsschutzverfahren eines der damals Entlassenen. Bisher wurde kein Urteil gefällt, und der nächste Verhandlungstermin ist erst im August - nicht ungewöhnlich in der für ihre Langsamkeit berüchtigten polnischen Arbeitsgerichtsbarkeit. In einem zweiten Verfahren, mit dem eine weitere Arbeiterin gegen Amazon vorgeht, nachdem ihr Arbeitsvertrag nach dem Bummelstreik nicht verlängert wurde, fand am 14. Juni der erste Termin statt - ebenfalls ohne Ergebnis. Der nächste Verhandlungstag ist erst im Oktober.

In der Folge des Streiks erhöhte Amazon die Löhne

Unmittelbar nach dem Bummelstreik stieg die IP Ende Juni 2015 offiziell in eine Tarifauseinandersetzung ein. Sie forderte von Amazon unter anderem die Erhöhung des Grundlohns von 13 auf 16 Zloty pro Stunde (umgerechnet knappe vier Euro), längere Pausen und Jahresarbeitspläne statt der bisherigen monatlichen Arbeitszuweisung. Obwohl die IP hauptsächlich in Poznań organisiert ist, betrifft die Tarifauseinandersetzung alle drei polnischen Logistikzentren gemeinsam, denn Amazon hat diese rechtlich in einem einzigen Betrieb zusammengefasst.

Amazon machte in den Verhandlungen mit der IP keine Zugeständnisse und brach auch die im polnischen Arbeitskampfrecht vorgesehene Schlichtung im Dezember 2015 ab. Bereits im August 2015 erhöhte die Firma jedoch die Grundlöhne sowohl in Poznań-Sady als auch in den beiden Versandzentren in Wrocław auf 14 Zloty pro Stunde. Nach Angaben von Amazon gab es keinen Zusammenhang mit dem Bummelstreik. Die Vertrauensleute der IP sind jedoch der Meinung, dass die Lohnerhöhung ausschließlich auf den Druck der Beschäftigten zurückzuführen ist.

Auch in Deutschland hatte es vor dem Beginn der Streiks bei Amazon jahrelang keine Lohnerhöhungen gegeben. Seit gestreikt wird, beteuert Amazon zwar, keinen Tarifvertrag mit Ver.di unterschreiben zu wollen, hat aber inzwischen mehrmals die Löhne erhöht - was offiziell ebenfalls nichts mit den Streiks zu tun hat.

Die IP-Gruppe machte sich weiter für ihre Forderungen stark und entschied nach den ergebnislosen Verhandlungen und der abgebrochenen Schlichtung schließlich, ab Mitte Mai 2016 eine Urabstimmung durchzuführen und damit Streikfähigkeit herzustellen. Um gegen die für Amazon charakteristische Spaltung zwischen Festangestellten und Leiharbeitern vorzugehen, setzte die IP gleichzeitig eine Streikurabstimmung bei den Leiharbeitsfirmen Adecco, Manpower und Randstad an, die Amazon in Polen mit Leiharbeitern versorgen. Der Weg dazu war frei, weil die im Herbst 2015 begonnene Tarifauseinandersetzung auch dort trotz Verhandlungen und Schlichtung zu keinem Ergebnis geführt hatte.