Die 13-jährige Lisa, Flüchtlinge und der Propagandakrieg

Nach dem russischen Staatssender mischt sich nun auch der russische Außenminister in den angeblichen Vergewaltigungsfall ein und wirft den deutschen Behörden Vertuschung vor

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Seit Tagen zirkuliert das von der Polizei dementierte Gerücht, das russlanddeutsche 13-jährige Mädchen Lisa aus Berlin-Mahlsdorf sei 30 Stunden lang von drei südländisch aussehenden Männern entführt und vergewaltigt worden. Aufgebracht hatte die Behauptung der russische staatliche Sender "Erster Kanal", der eine Tante des Mädchens interviewt hatte und den Verdacht gegen Flüchtlinge lenkte. Die Frau sagte, es seien wahrscheinlich Migranten gewesen. Die Polizei hatte die Behauptung schnell zurückgewiesen (Spätaussiedler protestieren gegen Migranten).

Das russische staatliche Medium Sputnik machte letzte Woche schon im Kommentar klar, dass man offenbar nach der Silvesternacht einen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Flüchtlingen und der von diesen ausgehenden Gewalt herstellen und die aus rechten und ausländerfeindlichen Kreisen bekannte Behauptung stärken will, dass die deutsche Polizei und die deutschen Medien Ausländerkriminalität vertuschen: "Diese Geschichte ist vor dem Hintergrund der sich in der EU entfaltenden Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen ans Licht gekommen. In deutschen Städten, aber auch in Österreich und Schweden, offenbaren sich jetzt durch den Migrantenzustrom ausgelöste Sicherheitsprobleme."

Schon einen Tag vorher wurde noch eindeutiger im Titel erklärt: "Berlin: Minderjährige vergewaltigt, Polizei tatenlos". Es sei nicht der einzige Fall, wurde suggeriert. Dazu wurde auf ein Video verlinkt, das auf einer Facebook-Seite veröffentlicht wurde, die von Rechten - offenbar auch aus dem Umkreis von Compact - unter dem Titel "Anonymous.Kollektiv" betrieben wird. Angeblich würden hier Männer mit Migrationshintergrund die Vergewaltigung einer Minderjährigen einräumen.

Ansonsten heißt es hier: "Politik und Medien vertuschen Vergewaltigung! Nach dem 30 stündigen Martyrium, dass die 13-jährige Lisa in Berlin-Marzahn erleiden musste, lässt die fremdgesteuerte deutsche #Lügenpresse nun alle Hemmungen fallen." Die Rede ist vom "Einwanderungsdschihad von Kanzlerin Merkel", gefeiert wird natürlich Putin: "Über die tatsächlichen Ursachen des Migranten-Tsunamis wird im öffentlichen Diskurs gar nicht gerne gesprochen. Was aber ist nun der Grund für den ungebremste Zustrom von Menschen aus Afrika, dem arabischen Raum und dem Balkan? Den Blick von außen erlaubt sich einmal mehr Russlands Präsident Wladimir Putin und stellt sich damit auf die Seite des deutsches Volkes." Compact, wo man von einer "Diktatur Merkel" spricht, mischt ziemlich offen mit: "Russland-Deutsche fordern Ende der Asyllawine".

Die Berliner Polizei hat die Meldung dementiert. Das Mädchen sei zwar vermisst worden, aber es habe einvernehmlichen Sex gehabt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt dennoch gegen zwei 20-jährige Männer, einem Türken und einem türkischstämmigen Deutschen, da sexuelle Handlungen mit Minderjährigen unter 14 Jahren als sexueller Missbrauch gelten und geahndet werden. Der Vorfall müsse noch geklärt werden, Näheres teilte die Polizei zum Schutz der Minderjährigen nicht mit.

Alexej Danckwarth, der Rechtsanwalt von Lisas Familie, erklärte gegenüber Sputnik, dass es in den 30 Stunden von Lisas Verschwinden zu Straftaten gekommen sei. Zudem kritisierte er hier die deutschen Medien: "Sie stellen es so da, als sei Lisa überhaupt kein Tatopfer, sondern eine Lügnerin." Das sei eine "geschmacklose Hetze".

Der russische Außenminister schaltet sich ein und macht den Fall zum Politikum

Über das Wochenende haben bereits wegen der angeblichen Gruppenvergewaltigung Rechtsextreme und Russlanddeutsche in Berlin und anderen Städten demonstriert und mehr staatlichen Schutz (mehr Sicherheit) verlangt. Dass der staatliche russische Sender womöglich eine Kampagne loszutreten suchte, scheint der Auftritt des russischen Außenministers Lawrow auf seiner Jahrespressekonferenz (russisch hier) deutlich zu machen, der sich ausgerechnet wegen dieses Falls in die deutsche Politik einmischte und erklärte, dass die Nachricht über Lisas Verschwinden verschwiegen wurde:

Es ist absolut klar, dass das Mädchen nicht freiwillig für 30 Stunden verschwand. Hier müssen die Freiheit und Gerechtigkeit herrschen. Ich hoffe sehr, dass die Migrationsprobleme nicht zum Versuch führen, die Realität wegen 'political correctness' und innenpolitischer Zwecke zu beschönigen.

Lawrow
Bild: Russisches Außenministerium

Interessant ist, dass Lawrow auch von "Medienkampagnen" spricht. Man versuche, "die Verbreitung von alternativen Informationen und Meinungen" zu verhindern. Die Instabilität im Nahen Osten und in Afrika und die Ausbreitung des Terrorismus würden die "ganze Zivilisation" und die "globale Sicherheit" bedrohen. Aufgezählt werden von Lawrow die Vorstöße und Interventionen gegen den Terrorismus sowie die Kooperationen, die man eingegangen sei, um dem Westen schließlich eine "hoch unkonstruktive und gefährliche Politik gegenüber Russland" vorzuwerfen.

Gefragt nach den Beziehungen zu Deutschland, sagte Lawrow, er sehe sie nicht in einer Krise und in einer Sackgasse. Man denke pragmatisch, was beispielsweise das Projekt der Gaspipeline Nordstream-2 unter Umgehung der Ukraine angeht, Russland sehe die Bedeutung Deutschlands für Europa, das u.a. durch die Migration von schweren Problemen heimgesucht werde. Es gebe Risse, Russland unterstütze Deutschland, um ein gestärktes Europa zu schaffen. Er wünschte Deutschland auch im Umgang mit der Migration Erfolg und kam dann auf den Fall Lisa - "unserer Tochter Lisa"! - zu sprechen. Es gebe "enorme Probleme mit den Flüchtlingen", Deutschland dürfe diese nicht unter den Teppich kehren. Man stehe im Kontakt dem Rechtsanwalt von Lisa.

Damit ist der Fall Lisa zum Politikum geworden. Falls die Berliner Polizei und die Staatsanwaltschaft nichts unterdrückt, wovon man in diesem Fall ausgehen kann, muss man sich fragen, was den russischen Außenminister reitet, in diesen Fall einzugreifen und die Rechten und ausländerfeindlichen Bewegungen und Parteien in Deutschland zu stärken. Die werfen der Regierung auch Staatsversagen und Vertuschung vor, die deutschen Medien sind sowieso Lügenpresse - die russischen Medien scheinen hingegen die Wahrheit zu berichten -, die Ausländer- und vor allem Muslimfeindlichkeit teilen die deutschen (und europäischen) völkischen Rechten mit der russischen Regierung, die auch gerne in Kontakt mit den europäischen Rechten steht, die vielfach wiederum gegen die USA auf der Seite Russlands stehen.

Wie in der Ukraine und anderswo scheint nun die russische Regierung auf die russische Bevölkerung im Ausland zu setzen, im Fall von Deutschland auf die Russlanddeutschen oder die sogenannten Spätauswanderer. Die sind zwar aus Russland ausgewandert, scheinen aber noch die russische Mentalität zu teilen und von russischen Medien angesprochen zu werden. Lawrow also stellt sich hinter diejenigen, die in Deutschland gegen die Behörden und die Regierung, aber auch gegen die Flüchtlinge und die Einwanderung protestieren.

Aber es ist zu vermuten, dass Lawrow damit vor allem eine andere Agenda verfolgt. Ob er bezweckt, die deutsche Regierung zu schwächen, ist fraglich, schließlich ist Deutschland noch ein gewisser Verbündeter, was die Syrien-, Ukraine- und Sanktionspolitik betrifft. Der russischen Regierung dürfte es jedoch ein Anliegen sein, die Geschlossenheit der Nato und der EU aufzulösen, die Russlands Einfluss weiter schwächen wollen. Dazu ist die Flüchtlingsthematik, die Europa spaltet, ein guter Hebel, zumal der Krieg gegen den IS und die Bewältigung der Flüchtlingsströme den Blick weg von der Ukraine, von Georgien und der Moldau lenkt. Zudem soll Russland ein entscheidender Faktor sein, die Flüchtlingsursache durch die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus zu lösen, der Russland auch direkt (Tschetschenien) bedroht. Russland will auch keine Flüchtlinge aus der Region aufnehmen und könnte daher versuchen, eine humanitäre Haltung wie die Deutschlands, und ein Asylrecht wie das deutsche zu diskreditieren.

Sicher geht es auch um Innenpolitik. Die militärische Intervention in Syrien war von den Russen nicht unbedingt begrüßt worden. Umso wichtiger ist es, diese zu rechtfertigen und zu demonstrieren, dass der Krieg gegen islamistische Terroristen und für das Assad-Regime die Sicherheit in Russland erhöht. Das angeblich zögerliche Vorgehen der europäischen Länder, vor allem Deutschlands, und der Vorzug von Rechtsstaatlichkeit vor Sicherheit könnten dagegen die Unsicherheit verstärken. Aber wir sind nun endgültig in einem Propagandakrieg gelandet, wo jede Seite behauptet, die Wahrheit gepachtet zu haben und der anderen Desinformation vorzuwerfen, ziemlich entlarvend ist ein Bericht des ZDF, aber auch dieser. Glauben wir also letztlich rechten Aktivisten von Compact und Co. sowie staatlichen russischen Medien, dass deutsche Behörden vertuschen und lügen?