Arbeit am Schutzschild

Lateinamerika bereitet sich auf die Folgen der Weltwirtschaftskrise vor. Neue Regionalbanken sollen dabei helfen, doch ihr Aufbau ist ein Wettlauf gegen die Zeit

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Bislang hat die eskalierende Weltwirtschaftskrise Lateinamerika weitgehend verschont. Die Folgen sind bis dato vor allem in den Industriestaaten des Nordens zu spüren. Doch das könnte sich bald ändern. Das Parlament des südamerikanischen Handelsbündnisses Mercosur hat deswegen Mitte März eine außerordentliche Sitzung der Wirtschaftsminister für Ende April einberufen. Die Ressortchefs der Mitgliedsstaaten Argentinien, Paraguay, Uruguay und Venezuela sollen dann über vermeintliche Krisenanzeichen beraten: Der Handel innerhalb des Mercosur-Bündnisses sei doppelt so stark eingebrochen wie der Warenaustausch mit Staaten außerhalb der Region, konstatierten die Mitglieder des Mercosur-Parlaments. Stehen nun auch die Länder südlich der USA vor einem wirtschaftlichen Wendepunkt?

Auf den zweiten Blick werden die Krisenfolgen auch in den Staaten Lateinamerikas und der Karibik sichtbar - wenn auch weitaus geringer als in den Industriestaaten. Nach Einschätzungen der Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) wird die durchschnittliche Zunahme der Wirtschaftskraft in der Region bis zum Ende dieses Jahres noch 1,9 Prozent betragen. Die Länder Südamerikas kommen für sich genommen sogar auf 2,4 Prozent. Das wäre zwar das schwächste Wachstum - aber es wäre ein Wachstum. In den globalen Industriezentren - USA, Japan und Europa -, wo der andauernde Zusammenbruch der Finanz- und Wirtschaftssysteme noch mit Euphemismen wie "Negativwachstum" verschleiert wird, kann man von solchen Zahlen nur träumen. Selbst die konservative Neue Zürcher Zeitung musste am Montag dieser Woche nach der Dokumentation der CEPAL-Prognosen eingestehen:

Im Vergleich mit der Rezession in den USA und in Europa zeigt Lateinamerika jedoch eine gewisse Widerstandskraft. Das ist vor allem dem Umstand zu verdanken, dass die Banken in der Region nicht oder nur geringfügig in Papieren des US-Hypothekenmarktes investiert waren.

NZZ

Dabei sind die Folgen des globalen Wirtschaftseinbruchs in Lateinamerika in unterschiedlicher Stärke zu spüren. Vor allem jene Staaten, die sich selbst oder auf externen Druck hin in die Abhängigkeit der internationalen Finanzinstitutionen begeben haben, schneiden nun deutlich schlechter ab als etwa die südamerikanischen Ökonomien. Das betrifft die Karibik (mit ihrem Armenhaus Haiti, das zu Beginn der Krise im vergangenen Jahr von Hungerrevolten erschüttert wurde), Mexiko und andere zentralamerikanische Staaten.

Mercosur-Mitgliedstaaten

Durch den massiven Rückgang des Erdölpreises mussten aber auch Regierungen in Südamerika ihre Haushalte neu kalkulieren. Ecuador etwa wird bis zum Ende des laufenden Jahres voraussichtlich ein Defizit von umgerechnet 1,5 Milliarden US-Dollar verzeichnen. Auch Venezuela musste die Haushaltsplanungen korrigieren. Die Methoden unterscheiden sich noch von denen der Industriestaaten. In Caracas erklärte Chávez vor wenigen Tagen erst, seine Regierung werde bei anstehenden Sparmaßnahmen die Fonds für sozialpolitische Programme nicht berühren. Stattdessen verordnete der streitbare Staatschef den Politikern und staatlichen Funktionären einen strikten Sparkurs. Luxusausgaben gehörten der Vergangenheit an, so Chávez, der fragte: "Was macht eigentlich jemand mit 15.000 Bolívares (rund 7.500 US-Dollar) monatlich?"

Finanzielle und politische Autonomie zahlt sich aus

Dass sich die Folgen der Weltwirtschaftskrise in Südamerika trotzdem noch in Grenzen halten, führen Experten auf die Loslösung von neoliberalen Strukturen und Praktiken zurück. Der Wirtschaftswissenschaftler Antonio Minzoni von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) etwa verweist auf die regionalen Integrationsprozesse. Die Gründung der Südamerikanischen Staatengemeinschaft (CSN) Ende 2004 etwa habe zur Autonomie beigetragen. "Die CSN hat von den riskanten Suprime-Geschäften Abstand genommen", schrieb Minzoni unlängst. Deswegen seien die zwölf Mitgliedsstaaten bislang auch von den negativen Folgen verschont geblieben.

Dieses Prinzip wollen linksgerichtete Staatsführungen nun stärker verankern. Gleich zwei multinationale Entwicklungsbanken sollen helfen, den zu erwartenden Konsequenzen der Weltwirtschaftskrise entgegenzuwirken. Schon Ende 2007 war auf Initiative des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez die Bank des Südens ins Leben gerufen worden. Später gründete auch das anti-neoliberale Staatenbündnis Bolivarische Alternative für Amerika (ALBA) ein eigenes Kreditinstitut. Beide Regionalbanken lehnen Spekulationsgeschäfte ab, um stattdessen entwicklungspolitische Ziele und den sozialen Wandel in der Region zu unterstützen.

Das Dilemma nun ist, dass eben die Krise, die beide Geldinstitute zu bekämpfen suchen, ihre Gründung behindert. Während die politischen Ziele immer wieder bekräftigt werden, hat die Regierung Argentiniens unlängst als erste Staatsführung der Region wieder Kontakt zum Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgenommen. Der IWF soll nun Haushalt und Wirtschaft dieser zweitgrößten Binnenökonomie Südamerikas prüfen - ein möglicher erster Schritt zur Wiederaufnahme von IWF-Krediten. Ecuador hingegen setzt zur Überbrückung von Engpässen zunächst auf kleinere Darlehen regionaler Fonds und Institute.

Der steinige Weg zur Bank des Südens

Die Gründungsmitglieder der Bank des Südens verstärken daher ihre Bemühungen, dieses Kreditinstitut zum Laufen zu bringen. Ein schwieriges Unterfangen: Zwar wurde bereits Ende 2007 die Gründungsakte der Südbank unterzeichnet, doch die Verhandlungen über die Charta dauern an.

Anfang dieses Monats nun startete Ecuadors Wirtschaftsminister Pedro Páez einen neuen Versuch, die offensichtlich bestehenden Differenzen zwischen den sieben Mitgliedsstaaten (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Paraguay, Uruguay, Venezuela) zu überwinden. Páez steht zugleich der technischen Kommission der Bank des Südens vor, die im Mai 2007 gegründet worden war. Nach wie vor sind die Mitgliedsstaaten bereit, umgerechnet insgesamt bis zu zehn Milliarden US-Dollar für die Entwicklungsbank zur Verfügung zu stellen. Politisch aber besteht noch erheblicher Klärungsbedarf. Ursache der Differenzen sind auch unterschiedliche Ansichten über die demokratische Struktur der Kreditanstalt. Während Venezuela, Bolivien und andere auf das Prinzip "Ein Staat, eine Stimme" setzen, drängt vor allem Brasilien darauf, das Stimmgewicht in dem neuen Kreditinstitut gemäß der Investitionshöhe zu bestimmen.

In dieser Woche nun kamen Finanzminister und technische Experten zu einer neuen Beratungsrunde in der venezolanischen Hauptstadt Caracas zusammen. Nach einem ersten Tag mit "harten Diskussionen", so hieß es in einer Pressemitteilung des venezolanischen Außenministeriums, sei man in technischen Aspekten vorangekommen. Man stimme darin überein, dass Lateinamerika "eine stärkere Stimme im internationalen Konzert spielen wird", sagte Venezuelas Wirtschafts- und Finanzminister Ali Rodríguez Araque. Im Mai werde die technische Kommission der Bank des Südens daher erneut zusammenkommen. "Ein folgender Präsidentengipfel in Caracas, Venezuela, soll die endgültige Aufnahme der Geschäfte der Bank des Südens besiegeln", heißt es in dem Kommuniqué des venezolanischen Kommunikations- und Informationsministeriums.

Regionalbündnis ALBA mit den deutlichsten Fortschritten

Bedeutend schneller lief die Gründung der ALBA-Bank (Bolivien, Kuba, Nicaragua, Venezuela) ab. Im Juni 2007 wurde die Idee vorgebracht, Anfang 2008 nahm das Kreditinstitut seine Arbeit auf. Inzwischen unterstützt die ALBA-Bank, die über ein Kapital von umgerechnet bis zu zwei Milliarden US-Dollar verfügt, Entwicklungsprojekte in den vier Staaten.

Der Fokus liegt dabei auf der Förderung der regionalen Wirtschaft und der Ernährungssicherheit. In großen Maßstab wird in Venezuela und Nicaragua Soja-Anbau gefördert, um die regionalen Märkte zu bedienen. Ein Sonderfonds soll den Mitgliedsstaaten helfen, die Folgen der in der Region immer wiederkehrenden Naturkatastrophen zu überwinden. Allein in Kuba hatten zwei große Wirbelstürme im vergangenen Jahr volkswirtschaftliche Schäden in Höhe von umgerechnet zehn Milliarden US-Dollar angerichtet.

Jorge Valero, der Präsident der ALBA-Bank, bekräftigte unlängst auf einem alternativen Wirtschaftstreffen in der kubanischen Hauptstadt Havanna die politischen Ziele der Kreditanstalt. Es ginge darum, so der venezolanische Diplomat, "die kriminelle Abhängigkeit von Produktion und Handel Südamerikas vom internationalen Finanzsystem" zu brechen.

Die etablierten Finanzinstitutionen hingegen sind in Lateinamerika diskreditiert. Die Staaten der Region setzen deswegen in zunehmendem Maße auf die Entwicklung einer eigenen Finanzinfrastruktur. Die 1959 gegründete "Interamerikanische Entwicklungsbank" habe heute 48 Mitglieder, von denen sich lediglich 26 in Lateinamerika befinden, merkte die Wirtschaftsanalytikerin Mariela Buonomo vom uruguayischen Think-Tank Zentrum für soziale Ökologie mit Sitz in Montevideo unlängst an. Neben den regionalen Mitgliedern seien 16 EU-Staaten, Israel, Südkorea und China Teil dieses Kreditinstituts, so Buonomo in einem Aufsatz.

Die Industrie- und Schwellenstaaten nutzten das Engagement offenbar, um Aufträge in Lateinamerika zu akquirieren. Über die interamerikanische Bank sorgten sie so für eine Stimulierung der eigenen Wirtschaft. Zudem hielten die 26 Mitgliedsstaaten Lateinamerikas nur 50,02 Prozent der Anteile. Die USA alleine kontrollierten jedoch 30,007 Prozent, gefolgt von Brasilien und Argentinien mit je 10,752 Prozent. Um Washington in der "Interamerikanischen Entwicklungsbank" zu überstimmen, so Buonomo, müssten sich Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, die Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Paraguay, Uruguay und Venezuela zusammenschließen. Zusammen kämen all diese Staaten in der BID auf gut 35 Prozent der Stimmen. Erst dann bestünde eine Chance, die Politik dieser neben dem IWF wichtigsten Entwicklungsbank in der Region mitzubestimmen. Die Gründung eigener Institutionen scheint da fast einfacher, um einen effektiven Schutzschild gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu entwickeln.