In ganz Europa geht es seit Jahrzehnten mit der Religiosität bergab

Die Zahl der Religiösen schwindet, aber bevor die Nichtreligiösen die Mehrheit bildet, wächst die Zahl der "fuzzy" Christen, für die Religion kaum mehr eine Rolle spielt

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Mit leichten Schwankungen und regionalen Unterschieden sinkt in Europa der Hang zum Glauben von Generation zu Generation. Dabei spielen vermutlich aktive Aufklärung und Entzauberung eine geringere Rolle, viel stärker dürfte durchschlagen, dass der religiöse Glaube einfach an Bindungskraft verliert. Schließlich sind die meisten Menschen keine bekennenden Atheisten oder Religionsgegner, sondern Lauwarme, die sich die Entscheidung offenhalten wollen, aber bereits von der Religion Abschied nehmen. Der Populationswissenschaftler David Voas vom Institute for Social Change an der University of Manchester ist nach einer Auswertung einer europäischen Studie zum Ergebnis gekommen, dass die Mehrzahl der Europäer einem vagen, unbestimmten Glauben: einer "fuzzy fidelity", anhängt.

In der Forschung ist umstritten, ob es in Europa ein einheitliches Muster für die Entwicklung der Religiosität gibt oder ob Säkularisierung und Festhalten am Glauben sich regional erheblich unterscheiden. Nach Voas, der für seine in der Zeitschrift European Sociological Review erschienenen Studie die 2002/2003 in 20 Ländern erhobenen Daten des European Social Survey (ESS) ausgewertet hat, finden sich zwar leichte Unterschiede im Hinblick auf die Geschwindigkeit, in der der religiöse Glaube zurückgeht, aber seit einem Jahrhundert sei dieser in allen Ländern ziemlich konstant und vollziehe sich Schritt für Schritt mit jeder neuen Generation.

Deutlich wird der Niedergang des Glaubens, wenn man die Haltung der Menschen durch jeweils 5 Jahre umfassende Altersgruppen, beginnend mit dem Geburtsjahr 1920, darstellt. Auch wenn das Ausmaß der Religiosität beim Ausgangspunkt unterschiedlich ist, findet eine parallele Abnahme von Altersgruppe zu Altersgruppe statt. Auffällig ist, dass es meist eine nach unten gehende Zickzackbewegung ist, also dass nach einem steilen Abfall einer Altersgruppe die Religiosität bei der nächsten wieder relativ ansteigt, um dann weiter abzufallen. Bei den Menschen, die in stärker religiösen Ländern, vor allem den vom Katholizismus geprägten, leben, ist der Rückgang stärker, in den von vorneherein geringer religiösen schwächer, weil hier die Säkularisierung sowieso schon weiter fortgeschritten war.

In aller Regel sind die jüngeren Menschen weniger religiös als der Durchschnitt, nur Polen und Griechenland weichen hiervon ab. Dass die Menschen, wie es manchmal heißt, mit zunehmendem Alter wieder religiöser werden, gehe aus den Daten nicht hervor. Zudem werde die pro Generation sinkende Religiosität durch Umfragen bestätigt, die in den letzten 30 Jahren in allen Ländern einen erheblichen Rückgang der Kirchenbesuche belegt haben.

Der Niedergang betrifft den konventionellen christlichen Glauben – nicht den muslimischen -, was aber nicht heißt, dass die Atheisten und Ungläubigen entsprechend stark zunehmen. Die Mehrzahl der Menschen gehe nicht regelmäßig in die Kirche, aber es sind auch keine bewusst nichtreligiösen Menschen. Man hält an einem diffusen Glauben fest, heiratet vielleicht auch in der Kirche, nimmt an kirchlichen Begräbnissen teil und bekennt sich auch oft zu den christlichen Werten, ohne darauf aber wirklich Wert zu legen. Irgendwie will man nicht ganz von Tradition und Zugehörigkeit zu einer Religion lassen, was Voas eben als "fuzzy fidelity" fasst.

Viele glauben noch irgendwie an etwas, der Glaube etwa an ein höheres Wesen oder an ein Nachleben hat aber wenig mehr mit einer religiösen Doktrin zu tun. Manchen bezeichnen sich noch als Christen, auch wenn sie nur wenige oder keine christlichen Überzeugungen mehr vertreten. Die Hälfte der Europäer, so Voas, seien lediglich nominelle Christen, d.h. sie bezeichnen sich als Christen, sind aber eigentlich nicht religiös. Sie wurden getauft, waren als Kinder in der Kirche, wissen nicht, ob Gott existiert, der jedenfalls in ihrem Leben keine Rolle spielt. Eine andere Gruppe stellen die "ethnischen Nominalisten" dar, die sich nur deswegen als Christen bezeichnen, um sich von Menschen einer anderen Kultur oder Religion zu unterscheiden, ohne selbst wirklich religiös zu sein. Und eine dritte Gruppe sieht Voas noch, die sich meist als zugehörig zu einem Glauben bezeichnen, weil sie dadurch einen bestimmten sozialen Status erlangen wollen.

Für die große Mehrheit der Bevölkerung ist Religion unwichtig. Nur in den religiösesten Ländern (Griechenland, Polen, Irland, Italien und teilweise Portugal) sagt gerade einmal ein Viertel der Bevölkerung, dass Religion für sie persönlich eher wichtig als unwichtig ist. Als Trend für die letzten 200 Jahre seit Beginn der Säkularisierung sei zu beobachten, dass die Zahl der Religiösen schneller fällt, als die der Nichtreligiösen zunimmt, die weiter eine Minorität bleiben. Dafür hat der Anteil derjenigen zunächst zugenommen, die "fuzzy" christlich sind. Seit einigen Jahrzehnten nimmt aber auch dieser Anteil in den meisten Ländern ab, während die Zahl der Nichtreligiösen allmählich weiter wächst.

Der jeweilige Trend in diesen drei Gruppen kann in den einzelnen Ländern aber unterschiedlich sein. So sind in Frankreich die Nichtreligiösen auf Kosten der "fuzzy" Christen gewachsen, während die Religiösen nur leicht weniger wurden. In Dänemark gibt es beispielsweise mehr "fuzzy" Christen als in jedem anderen Land. In Griechenland oder Italien werden die Religiösen weniger und die "fuzzy" Christen mehr, die Nichtreligiösen werden aber nur sehr langsam mehr. In Deutschland hält sich der Anteil der "fuzzy" Christen bei über 40 Prozent mit Schwankungen seit Jahrzehnten ziemlich konstant. Die Religiösen sind seit 1920 von knapp über 40 Prozent auf unter 20 Prozent gesunken, die Nichtreligiösen von 10 Prozent kontinuierlich auf jetzt fast 40 Prozent gewachsen.

Der Trend geht nach Voas dahin, dass dann, wenn in einem Land die Zahl der Nichtreligiösen die der Religiösen übertrifft, der Anteil der "fuzzy" Christen nicht mehr wächst, sondern auch allmählich abnimmt, wie dies in Frankreich, Schweder, Norwegen, Ungarn oder Tschechien bereits der Fall ist. Letztlich werden dann die Nichtreligiösen die Mehrheit stellen und weiter zunehmen. Die "fuzzy" Religiösen, auch wenn hier Unentschiedenheit vorherrscht und neue Religiosität erwachen kann, bilden einen Übergang und sind "ein Schritt auf dem Weg von der religiösen zur säkularen Vorherrschaft".