Quo vadis Weltwirtschaft?

Die internationale Fragmentierung der Güterproduktion dürfte über globale "Supply-Chains" stark zur fast augenblicklichen weltweiten Verbreitung der Wirtschaftskrise beigetragen haben

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Die Einbrüche im Welthandel und bei den Auftragseingängen haben erschreckende Dimensionen erreicht. Angesichts der bestehenden Unsicherheiten wagt sich kaum ein seriöser Ökonom an Wachstumsprognosen, und jene, die von Amtswegen mit derartigen Einschätzungen befasst sind, gestehen ein, dass ihre Modelle wohl nicht imstande sind, aus der derzeitigen Datenlage sinnvolle Ergebnisse zu generieren.

Besondere Schwierigkeiten bereitet den Ökonomen die Tatsache, dass die Krise der Finanzmärkte praktisch weltweit und augenblicklich zu einem faktischen Zusammenbruch der Auftragseingänge und in der Folge zu dramatischen Produktionseinbrüchen geführt hat. Während derzeit vor allem die Globalisierung der Finanzmärkte dafür verantwortlich gemacht wird, dürfte ein realwirtschaftliches Phänomen des vergangenen Jahrzehnts von zumindest ebenso großer Bedeutung sein, das Ökonomen unter dem Stichwort „Fragmentation“ diskutieren.

Grundgedanke der im Bereich der Handelstheorien dominierenden Theorie ist, dass durch Fortschritte bei Telekommunikation und Transport sowie durch den Abbau von Handelshemmnissen die Produktionsprozesse von handelbaren Gütern in immer kleinere Fragmente aufgesplittert werden, die sich – Stichwort Outsourcing/Offshoring - an unterschiedlichen Orten befinden können und auch nicht im Eigentum des jeweiligen Produzenten stehen müssen. Multinationale Unternehmen, im Jargon oft als „OEM“ („Original Equipment Manufacturer“, englisch für Originalausrüstungshersteller) bezeichnet, übernehmen oft nur noch Entwicklung und Vertrieb der Endprodukte und zersplittern die Produktionen theoretisch auf Basis absoluter Kostenvorteile auf einzelne, oft weit entfernte Standorte. Ländern mit niedrigen absoluten Lohnkosten wird es dadurch ermöglicht, sich entsprechend ihrer Fähigkeiten auch an technologieintensiven Endprodukten zu beteiligen, die sie mangels technischer Kompetenz „autonom“ nicht produzieren könnten, etwa als KFZ-Komponentenfertiger oder -Assembler.

Den Entwicklungsländern wird dadurch – organisiert von den Multis - die Möglichkeit geboten, am Weltmarkt mit Low-tech-Fertigungen zu reüssieren, während Konsumenten weltweit von niedrigeren Preisen profitieren sollten. Im Westen weniger beliebt ist die Folge, dass, wenn das Produkt aus Arbeitskosten und Produktivität konsequent maximiert wird, bei den im Westen herrschenden Lohnniveaus dort nur noch die produktivsten Arbeitsplätze verbleiben können. Industriearbeitsplätze, für die niedrige Qualifikationen ausreichen, wandern folglich in die Entwicklungsländer. Niedrig qualifizierte Arbeitskräfte, die auch in den westlichen Industrieländern nach wie vor die Mehrheitsbevölkerung stellen, geraten dadurch unter Druck, während die Höherqualifizierten durch diese Neuorganisation der Weltwirtschaft durchaus profitieren sollten – so könnte man jedenfalls die Ergebnisse dieser heute dominierenden akademischen Handelstheorie kurz zusammenfassen.

Eine weitere Kehrseite der Fragmentierungs-Medaille ist nun offenbar, dass diese globalen „Supply Chains“ (Lieferketten) sich in der Krise als höchst störungsanfällig erwiesen haben. So kamen sowohl die integrierten Multis, die die meisten ihrer internationalen Komponentenlieferanten selbst kontrollieren, unter Druck wie jene, die sich vor allem auf unabhängige Lieferanten verlassen. Denn Erstere haben regelmäßig höhere Schulden, müssen um ihre Kreditlinien bangen und derartige „Assets“ nun vielleicht billig abgeben. Letzteren drohen hingegen wichtige Lieferanten abhanden zu kommen, was oft nur vermieden werden kann, indem der betroffene Multi den Lieferanten übernimmt und weiterführt. Das dürfte zu einer Änderung der Risikoeinschätzung durch die Multis führen, die als Konsequenz die absoluten Kosten gegenüber dem Aspekt der Verlässlichkeit (der vermutlich stark mit geografischer Nähe assoziiert werden wird) zurückstufen werden; insbesondere da sich viele Kosteneinsparungshoffnungen im Zuge ihrer Realisation als übertrieben erwiesen haben.

Laut Sebastian Kummer, Vorstand des Instituts für Transportwirtschaft und Logistik an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien, bestanden vor der Finanzkrise hohe Überkapazitäten, die durch den kreditfinanzierten Boom überdeckt wurden. „Immerhin wurden jahrelang und weltweit nicht nur Autos, sondern auch Wohnhäuser und Büros auf Lager produziert. Die schwächeren Marktteilnehmer werden jetzt sehr hart um ihre Eigenständigkeit kämpfen müssen. Tatsächlich ist jetzt eine starke Übernahmewelle absehbar, die zu einer weitgehenden Neuorganisation der globalen Supply-chains führen wird.“

Bullwhip-Effekt

Der massive Lagerabbau, der momentan praktisch überall vorgenommen wird, ist für Kummer eine zwingend-logische Folge der Finanzkrise: „Offenbar beobachten wir gerade so etwas wie einen gigantischen und globalen Bullwhip-Effekt." Dabei handelt es sich um ein schon lange bekanntes Problem unternehmensübergreifender Lieferketten, das jedem Logistiker in der Form des „Beer-Game“ näher gebracht wird. Denn dabei schaukeln sich regelmäßig selbst kleine Schwankungen der Bestellungen in Richtung der Zulieferer („upstream“) massiv auf, wobei oft schon nach der ersten Stufe - sprich dem Handel – der Zusammenhang mit dem ursprünglichen Bedarf verloren geht, es also zu völlig irrationalen Bestellungen kommt. Durch die unheimliche Unsicherheit im Zuge des Finanzmarktdebakels sei dieses Phänomen gerade in globalem Maßstab zu beobachten.

Einerseits wird jetzt versucht, über den Lagerabbau Betriebskapital zu mobilisieren, und natürlich sind auch die Absatzerwartungen zurückgegangen. Viele Unternehmen nutzen zudem die Gelegenheit, um unangenehme Rationalisierungsmassnahmen, die sie schon länger vorhatten, tatsächlich umzusetzen.

Sebastian Kummer

Das müsste Kummer zufolge bereits zu starken Übertreibungen geführt haben, die früher oder später korrigiert werden müssten: „Irgendwann werden die Lager aber doch zu leer, und so folgt üblicherweise auf einen zu starken Bestell- und Lagerabbau eine starke Gegenbewegung." Auf einen solchen raschen „technischen Aufschwung“ der Industriekonjunktur würde Kummer vorerst aber noch nicht wetten. „Ich denke, diesmal könnte die Stimmung so schlecht sein, dass auch dann nur sehr vorsichtig bestellt wird, wenn die Lager schon gefährlich leer werden.“ Es könnte für einige Unternehmen sogar von Vorteil sein, wenn dieser erste Aufschwung nicht allzu kräftig ausfällt. „Denn wenn das Finanzierungsumfeld sich nicht deutlich verbessert, könnte es vielen Unternehmen dann schon am nötigen Betriebskapital fehlen, um wieder loszustarten." Für die gesamtwirtschaftliche Effizienz müsste der Zusammenbruch indes durchaus positive Folgen haben:

In der Hochkonjunktur, wenn die Lieferketten verstopft sind, ist es fast unmöglich, sie zusammenzulegen und zu optimieren. Wenn sie leer sind kann man hingegen sehr viel Effizienz erreichen.

Sebastian Kummer

In der globalen Transportwirtschaft dürfte ein Blutbad jedenfalls unvermeidlich sein, insbesondere da sich die Eigenkapitalausstattung in der Branche oft sehr bescheiden ausnimmt. Über deutlich mehr Eigenkapital verfügt die Investitionsgüterindustrie, die sich allerdings mit Ausnahme der von den diversen Konjunkturpaketen geförderten Bereiche derzeit ebenfalls völlig am Boden wiederfindet. Zuvor hatten sich dank Niedrigzinsen und der Aufholjagd Asiens die meisten börsenotierten Unternehmen jedoch daran gewöhnt, jährlich ein wenigstens zehnprozentiges Umsatzwachstum zu budgetieren. Dementsprechend aufgebläht sind die Produktionskapazitäten, und angesichts der Unsicherheiten über die künftige Konjunktur wäre es kaum zu verantworten, jetzt offensiv in neue Anlagen zu investieren. Hier einen baldigen Aufschwung zu erwarten, dürfte also wohl nur den hemmungslosesten Optimisten gelingen

Weniger klar ist, wie es derzeit innerhalb der großen, globalen Supply-Chains aussieht, die sich oft über mehrere Kontinente erstrecken und zumeist bei US-amerikanischen oder europäischen Konsumenten enden. Händler berichten, dass etliche Multis ihre Quartals-Bestellungen im Januar drastisch reduziert hätten, nur um dann bereits im Februar Nachbestellungen vornehmen zu müssen. Was den Lagerabbau angeht, zeigen sich zudem weltweit große Unterschiede. So sind nach der US-Großbank JP Morgan die Endverkäufe in Japan stärker zurückgegangen als das reale BIP, was auf einen weiteren Lageraufbau deute. In den USA und z.B. in Korea sei jedoch das Gegenteil der Fall, und sind die Produktionsrückgänge offenbar deutlich stärker ausgefallen als der Absatzeinbruch.

Während die persönlichen Dienstleistungen sich weltweit weitgehend stabil halten konnten, ergab sich bei den industrienahen Dienstleistungen hingegen eine Art von Zweiteilung. Denn während einzelne Bereiche, die ihren industriellen Auftraggebern Kostensenkungen versprechen, aktuell verstärkt von Auslagerungen profitieren, ist gleichzeitig die Tendenz zu beobachten, zuvor ausgelagerte Aufgaben wieder ins Haus zu holen um bestehendes Personal auszulasten.

Besonders gravierend dürfte natürlich der Rückgang bei den Diskretionären Unternehmensausgaben ausfallen, zu denen etwa das Schalten von Image-Inseraten oder Bewirtung und Repräsentationsausgaben zählen. Zwar gibt es kaum zeitnahe Statistiken, anekdotisch lässt sich für Europa bezogen auf die Werbeausgaben jedoch befürchten, dass die Rückgänge noch stärker ausfallen werden als im Sommer 2000, als der New Economy-Blase die Luft ausging. In den USA, die Europa konjunkturell offenbar gut ein halbes Jahr vorauslaufen, ist dies jedenfalls bereits der Fall.

Trendwende: Von „who's next to fail?“ zu „who's first to recover?“

Dass die Krise bereits im Abklingen sei, davon scheint zumindest die Wall Street auszugehen, wo die Aktienkurse seit ihrem Tiefpunkt am 9. März bereits wieder rund 20 Prozent zurückgewinnen konnten. Immerhin hatten die negativen Überraschungen zuletzt ein wenig abgenommen. So hat der „Global growth supply index“ von UBS, der angibt, ob Daten zur weltweiten Konjunkturlage besser oder schlechter herauskommen als die gemittelten Analystenerwartungen, erstmals wieder eine leichte Besserung gezeigt.

Die Analysten der Wiener Raiffeisen Zentralbank stimmt dabei besonders zuversichtlich, dass nicht nur „schwache“ Indikatoren wie Zukunftserwartungen ansteigen, sondern auch „handfeste Komponenten“ wie der PMI Einkaufsmanagerindex in der Eurozone und die Auftragseingänge in den USA; deutlich abgeschwächt hätten sich mittlerweile auch die Osteuropaängste. Da es nun ein Licht am Ende des Tunnels weltweiter Rezession zu geben scheint, ändere sich der Fokus an den Märkten laut RZB von „who's next to fail?“ zu „who's first to recover?“

So ganz möchten die Analysten der stark in Osteuropa engagierten RZB dem Frieden freilich noch nicht trauen, vielmehr befürchten sie, dass die derzeit herrschende Euphorie mit enttäuschenden Konjunkturdaten rasch wieder verpuffen könnte.

Immerhin scheinen außerhalb des Bereichs langlebiger Konsumgüter die Konsumenten ihre Käufe weder in den USA noch in Europa auch nur annähernd so stark zurückschrauben, wie sich der internationale Handel zuletzt verringert hat. Die Lager sollten sich weltweit also zusehends leeren, was ja vielleicht schon zu den zuletzt positiven Konjunkturüberraschungen beigetragen hat.

Wie sehr der Welthandel dadurch aber auch immer kurzfristig aufzublühen vermag, die gewaltigen Überkapazitäten in der Seefracht dürften kaum absorbiert werden. So sollen laut dem „Economist“ derzeit elf Prozent der weltweit vorhandenen Containerschiffe ungenutzt vor Chinesischen Häfen auf Fracht warten und dürften bald von der chinesischen Regierung von dort vertrieben werden. Außerdem hatten zwischen Ende 2006 und Juli 2008, als die Frachtraten bis zu 20 mal so hoch waren als heute, die Schiffswerften so viele Aufträge erhalten hatten, dass sich die bestehenden Seetransportkapazitäten nochmals verdoppeln, werden sie tatsächlich ausgeführt.

Da es wohl noch teurer kommt, einen laufenden Schiffbau zu stornieren, dürften die meisten davon wohl tatsächlich zu Wasser gelassen werden, was bis auf weiteres wenig Hoffnung für die Betreiber, Finanziers und Produzenten von Frachtschiffen bedeutet. Auch der Baltic Dry Index, der die Frachtpreise widerspiegelt und sich seit Jahresanfang von den Tiefstständen entfernt hatte, war zuletzt, wieder deutlich zurückgegangen.