Kursstürze in Rekordgeschwindigkeit

Die erste große und globale Weltwirtschaftskrise im Jahr 1857

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Zum Aufschwung nach der Krise der Jahre 1847/1848 in Europa trugen vor allem die Goldfunde in Kalifornien (1849) und Australien (1851) sowie der Boom im Eisenbahnsektor und Bankwesen bei. Banken finanzierten den industriellen Aufschwung mit großen Krediten, wodurch in den 1850er Jahren ein regelrechter Wirtschaftsboom ausgelöst wurde.

Die Verbesserung der Verkehrssysteme zu Land und auf dem Wasser, wegweisende Fortschritte in der Nachrichtenübermittlung und die Entstehung von Großunternehmen führten zu einem weltweiten Boom. Von besonderer Bedeutung für den späteren Ausbruch der Weltwirtschaftskrise war die Entwicklung des Weizenpreises.

Central Pacific Railroad

Als der Krimkrieg 1856 zu Ende ging und damit abzusehen war, dass es wieder ein größeres Angebot an Weizen geben würde, brach der Weizenhandel im amerikanischen Westen ein und die Wallstreet stand vor einem Zweifrontenkrieg. Aktien- und Weizennotierungen fielen auf breiter Front. Durch die fallenden Preise konnten viele Farmer ihre Schulden bei den Kaufleuten und Banken der Ostküste nicht mehr bezahlen.

Wie auch heute war Amerika durch ein Handelsbilanzdefizit geprägt, wodurch ständig Gold aus dem Land abgezogen wurde, was die Goldreserven deutlich verringerte. Als im Sommer 1857 die Banken die Zinsen massiv anhoben, um das Abwandern der Goldreserven zu verhindern, brach die Spekulationsblase mit Pauken und Trompeten zusammen. Die meisten Investitionsprojekte wie Eisenbahnstrecken waren hauptsächlich mit geliehenem Geld finanziert, wobei auch die Bonitäten nur unzureichend überprüft wurden. Es bedurfte also nur noch eines fallenden Dominosteines, der das Kreditkartenhaus zum Einsturz brachte.

Dieser fiel am 24. August 1857, als die New Yorker Filiale der Ohio Life Insurance and Trust Company unerwartet Konkurs anmelden musste. Das Finanzunternehmen hatte über fünf Millionen Dollar Kredite an riskante Eisenbahnprojekte ausstehen, wobei ein Großteil dieser Gelder durch die Kreditnehmer veruntreut worden war. Der Schock saß tief, und die New Yorker Banken trauten sich plötzlich gegenseitig nicht mehr, weshalb die Zinssätze auf Kreditschulden massiv erhöht wurden. Wechsel von Kaufleuten und Schuldnern, die Liquiditätsprobleme hatten, wurden nicht mehr akzeptiert. Bei fast allen fälligen Krediten wurde die sofortige Zahlung eingefordert. Unter der New Yorker Bevölkerung, die einen Kollaps der US-Wirtschaft befürchtete, löste dies Panik aus, die als „Western Blizzard“ in die Geschichte einging.

Rekordverdächtige Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krise von 1857

Die Krise breitete sich von New York und Ohio rasch auf Europa, Südamerika und Asien und damit den gesamten Planeten aus. Es war die erste globale Krise überhaupt, die übrigens starke Ähnlichkeiten mit der Krise von 2007/2008 aufweist. Trotz der globalen Tragweite der Krise währte sie nur etwa ein bis zwei Jahre. Dennoch fielen bekannte Bluechips 1857 an der New Yorker Börse innerhalb weniger Stunden um bis zu zehn Prozent ihres Wertes. Unmittelbar nach dem Aktiencrash zogen britische Kaufleute und Banken ihr Geld aus Amerika ab, wodurch der Preisverfall von Weizen und auch von Baumwolle immer dramatischer wurde. In der Folge konnten viele Eisenbahnprojekte nicht fertig gestellt werden und zahlreiche Banken gingen aufgrund zu geringer Eigenmittel bankrott.

Goldrush in Kalifornien

Die massive Verringerung der Goldreserve sollte Abhilfe schaffen, um die Lage zu entspannen. So wurde eine größere Menge Gold aus den kalifornischen Minen als Sicherheitsreserve geordert. Jedoch sank der Postdampfer "Central America" am 12. September 1857, der mehrere Tonnen Gold nach New York bringen sollte, als er vor der Küste von South Carolina in einen Hurrikane geriet. Die Meldung vom Untergang löste in New York eine Massenpanik aus und die Kurse stürzten ins Uferlose. Was die pietätlosen Banker indes vielmehr schockte als die 426 Menschen, die ums Leben kamen, war der Verlust der Fracht.

Zum Flächenbrand breitete sich die Krise am 13. Oktober 1857 aus, als immer mehr landwirtschaftliche Kredite notleidend wurden und es in New York zu einem Bankenrun kam. An diesem Unglückstag der US-Ökonomie hatten die Banken in New York kein Geld mehr vorrätig und der junge Karl Marx sah bereits das Ende des Kapitalismus nahen. Viele Banken schlossen für immer. Durch die Telegrafie verbreitete sich die Panikstimmung in Windeseile im gesamten Land und Massenentlassungen waren die Konsequenz. Es war eine merkwürdige Situation, dass Wohlstand und Überfluss quasi über Nacht verschwanden und in einen Suppenküchen-Kapitalismus übergingen. Da die Banken kein Geld mehr zum Verleihen hatten, gab es auch kein Kapital mehr für Unternehmer, womit auch diese bankrott gingen. Das Land stürzte in eine Rezession, die von Hunger, Arbeitslosigkeit und Armut begleitet war. Damals schrieb die Chicago Tribune: „Pleite ist ein anderes Wort für Hunger“, und dies beschreibt die dramatische Situation der US-Ökonomie wohl am besten.

In den USA gab es damals glücklicherweise noch keine Zentralbank, welche die Krise hätte verschärfen können. Wohl deshalb war bereits Ende 1857 das Allerschlimmste überstanden und die Wirtschaft erholte sich innerhalb von ein bis zwei Jahren recht schnell wieder von der Krise. Eine große Depression blieb aus. Es gab auch zahlreiche Profiteure der Wirtschaftskrise wie Cornelius Vanderbilt oder Moses Taylor, die durch niedrige Aktienkurse und zahlreiche Pleiten die Stellung ihrer Unternehmen stärken konnten. Da der Süden Amerikas aufgrund der niedrigen Preise für Baumwolle nicht so stark unter der Krise litt, wurden die Spannungen zwischen den Nord- und Südstaaten im Laufe der Zeit immer größer, was mit zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges im Jahre 1861 führte.

Die erste Weltwirtschaftkrise in Europa

Auch in Europa hatte ein Gründerboom die Börsen bis zum Jahr 1857 auf neue Höchststände geführt. Während in Frankreich Eisenbahnaktien en vogue waren, in Großbritannien Eisenbahnaktien und Weizen, in Skandinavien Schiffsbau und Bergwerke, waren in Deutschland vor allem Bankaktien das Hauptspekulationsobjekt - mit Ausnahme von Hamburg, wo vor allem in Zucker und Kaffee spekuliert wurde.

Während es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch wenige Privatkredite gab, änderte sich dies mit dem Aufkommen der Privatbankiers zur Mitte des Jahrhunderts. So entstanden neue Banken, insbesondere Kreditgenossenschaften und Aktienbanken, die das Recht hatten, eigenes Geld in Umlauf zu bringen. Durch die Überschwemmung der Wirtschaft mit Krediten rasten die Bankaktien zu immer neuen Höchstständen, wobei das Ende des Krimkrieges die Kurse weiter beflügelte. Als immer mehr Neuemissionen den Markt überschwemmten, kamen die europäischen Finanzmärkte ab Ende August 1856 immer mehr unter Abgabedruck. Anfang des Jahres 1857 sorgten Gerüchte über ein vollkommenes Zahlungsverbot für außerpreußische Geldscheine für weitere massive Abgaben.

Im Spätsommer 1857 verursachte der Crash in Amerika zunächst einen Banken-Run in London, Edinburgh und Dublin. Zur Krisenvermeidung setzte die Regierung den Peelschen Bankakt außer Kraft, ein Gesetz von 1844, welches die Bank of England in eine von den Direktoren geleitete Bank-Abteilung (frei von staatlichen Einschränkungen) und eine Notengeld-Abteilung aufteilte.

Auch Hamburg, das intensive Wirtschaftsbeziehungen zu England, den USA und Skandinavien pflegte, wurde zunehmend von der Krise getroffen. Die Hamburger Kaufleute, sonst auf Ehrlichkeit und Verlässlichkeit ihrer Geschäfte bedacht, packte Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls die Gier. Man verlieh exzessiv Geld. In großem Umfang wurden Handelswechsel in Umlauf gebracht, welches zu einer immer hemmungsloseren Wechselreiterei ausuferte. Für die Banken waren es zwar riskante, aber gewinnbringende Spekulationsgeschäfte. Insbesondere der Handel mit Nordamerika warf hohe Gewinne ab. Zwei der bekanntesten Gründungen war die 1847 von den Unternehmern Merck, Godeffroy, Laeisz gegründete "Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actiengesellschaft" (Hapag) und die von Solman 1850 gegründete Dampferlinie nach Amerika, dem "Land der unbegrenzten Möglichkeiten".

Aber auch der Handel mit Skandinavien boomte. Insbesondere die von schwedischen Firmen gewährten Schiffsbau- und Bergbaukredite sollten 1857 vielen Hamburger Unternehmen zum Verhängnis werden, wie dem alteingesessenen Kolonialhandelsunternehmen Conrad Warneke. Als die Weltwirtschaftskrise im Herbst 1857 nach Hamburg überschwappte, blieb kein Handelshaus von diesem Erdbeben verschont. Denn kein Mensch wollte die im Hamburger Hafen liegenden Waren aus aller Welt im Wert von 500 Millionen Mark abrufen. Termingeschäfte wurden nicht abgerufen und immer mehr Wechsel platzten.

Die Hamburger Krise überrascht umso mehr, als die Weltwirtschaftskrise aus den künstlich erhöhten Preisen der Papierwährungen entstand, Hamburg jedoch nur Silbergeld einsetzte. Auch das Auflegen eines Hilfsfonds, der zu einem Drittel aus Staatsanleihen und zwei Drittel aus geliehenem Silber bestehen sollte, scheiterte, da niemand bereit war, den ehrbaren Hamburger Kaufleuten Kredit zu geben.

Am 8. Dezember 1857 erreichte die Krise ihren Höhepunkt, als nahezu alle Hamburger Banken vor der Pleite standen und Handelsschiffe, aus Angst, kein Geld zu bekommen, nicht mehr entladen wurden. Dann kam die erlösende Nachricht aus Wien. Österreich würde die benötigten Mittel bereitstellen. Am 12. Dezember 1857 traf der "Silberzug" mit 13 mit Silberbarren beladenen Waggons in der Hansestadt ein, womit Hamburgs Unternehmen gerettet waren. Innerhalb von sechs Monaten wurden die gesamten Schulden plus sechs Prozent Zins von den Hanseaten zurückbezahlt. Es dauerte zwar noch einige Monate, bis die Hamburger Wirtschaft und in Folge auch Skandinavien wieder Tritt fassten, da eine weltweite Rezession nach den Ereignissen von 1857 die Folge war, doch das Schlimmste war überstanden.