Die Türkei, die Friedensklinik Asiens

Ankaras neue Außenpolitik und die Wiederentdeckung des Nahen Ostens

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Seit der Ausrufung der „Republik Türkei“ (1923) und der damit verbundenen Abschaffung des islamischen Kalifats (1924) ging die Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk auf einen sukzessiven Distanzkurs zur islamischen Welt. Hat sich durch jüngste Entwicklungen daran etwas geändert? Will die Türkei weiter weg von Brüssel und der EU und stattdessen näher hin zu Beirut und Damaskus und Teheran? Nein, Ankara will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Die Westorientierung bescherte der Türkei einen bis heute noch anhaltenden fragilen Säkularismus. Die Türken haben lange vor einigen westlichen Ländern 1930 und 1934 das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt. In der Tat war die neue Republik über Jahrzehnte hinweg nicht aktiv in die nahöstliche Szene involviert. Diese regionale Defensive ging konform mit einer vermeintlich verheißungsvollen Westorientierung, die später in den Wunsch, der Europäischen Union (EU) anzugehören, mündete. Eine Intention, die offiziell seit dem Assoziierungsabkommen bzw. Ankara-Abkommen (1963) bis heute die höchste Priorität in der türkischen Außenpolitik genießt und zum nationalen Projekt erhoben worden ist.

Die neue türkische diplomatische Offensive in Asien und speziell im Nahen Osten bedeutet jedoch keineswegs eine Abkehr von der Westorientierung im Sinne des EU-Beitritts sondern die Türken wollen im Gegenteil mit der positiven Aufwertung ihrer regionalen Macht ihre Bedeutung als Brückenkopf zwischen Orient und Okzident untermauern.

„Kollaboration“ mit dem Westen versus Isolation im Osten

Ein grundlegender Meilenstein dafür, dass der Bosporus seine unsichtbare passive Nahostpolitik korrigierte, war der Kuwait-Krieg (1990/91). Bereits damals hat der damalige türkische Staatspräsident Turgut Özal notgedrungen den Alliierten genehmigt, den US-Luftwaffenstützpunkt Incirlik im Süden des Landes für Angriffe auf Saddams Irak zu benutzen. Özal gab damals einem deutschen Reporter ein emotionales Interview während des Krieges. Der Reporter fragte Özal vorwurfsvoll, warum er damit die traditionell guten Beziehungen zur arabischen Welt aufs Spiel setze. Özal zeigte zornig mit dem Finger auf den Reporter und sagte auf Englisch:

You (Europäer bzw. die Deutschen, Einf. d. Autors) are responsible.

Kurz vor Özals Interview ereignete sich ein historisches Treffen, das Özals verschlüsselte Worte symbolisch untermauerte. Im November 1990 und kurz vor dem Kuwait-Krieg 1990/91 flog der Altbundeskanzler Willy Brandt nach Bagdad, um sich mit Saddam Hussein zu treffen. Entgegen den Verlautbarungen war der Besuch keine Friedensmission, denn die Entscheidung zum Krieg war längst in Washington gefallen. In Wahrheit ging es darum, ca. 200 europäische, überwiegend deutsche Ingenieure und Arbeitskräfte, die Saddam als Geisel gefangen hielt, aus dem Irak heraus zu holen.

Als europäische Fachkräfte, die unter anderem in der irakischen Rüstungsindustrie tätig waren, hatten sie zuvor kräftig mitgeholfen, den Konflikt zu verschärfen. Brand kam mit einem vollen Airbus zurück und ein paar Wochen später hagelten die Bomben auf Bagdad. Wenn Özal heute noch leben würde - er ist 1993 verstorben - würde er vielleicht den Westen und insbesondere die Europäer daran erinnern, dass die Türkei als bewährte Südflanke der Nato stets die Fehler des Westens ausbaden und die Drecksarbeit für sie erledigen musste.

Die (aus der Sicht der islamischen Welt) negative türkische Verwicklung in den Kuwait-Krieg wurde später komplettiert durch den Beginn einer intensivierten Beziehung zu Israel Mitte der 90er Jahre. Als einziger islamischer Staat erkannte die Türkei 1949 Israel formell an. Entsprechend ist die Türkei heute der einzige Staat in der Region, der starke ökonomische und militärische Beziehungen zu Israel unterhält.

Der Beginn des neuen regionalen Kurses

Die Türken, die aufgrund dieser Entwicklungen ihre Beziehungen zu wichtigen Akteuren der Region, darunter den Nachbarn Iran und Syrien, eklatant verschlechtert hatten, wurden dennoch von Europa in ihrem EU-Beitritts-Wunsch abgewiesen. Neue europäische Staaten, die zum Teil in ihrer ökonomisch-politischen Entwicklung weniger gefestigt waren als die Türkei, durften sich reihenweise der EU anschließen. Ankara verlor zeitweilig die Lust auf den EU-Beitritt und die Implementierung der von den von den Europäern geforderten innenpolitischen Reformen. Erdogans Staatstour durchlief kürzlich Libanon, Syrien, Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien Jordanien, Irak und den Iran. Der Ministerpräsident lässt sich hingegen seit 2005 in Brüssel nicht mehr blicken. Der Fokus wurde nun statt auf Brüssel auf Beirut und Damaskus und Teheran bzw. den Nahen Osten gelenkt, deren Statist die Türken bis dato waren.

Seit der Machtübernahme von Recep Tayyip Erdogans „islamistischer“ Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 haben die Spannungen der Türkei mit ihren Nachbarn bzw. den Staaten des Nahen Ostens gegen Null zu tendieren begonnen. Die Säule der türkischen Außenpolitik bildet, neben dem EU-Beitritt als nationalem Projekt, die Maxime "zero problems with its neighbors" .

Zwei Parameter helfen den Türken bei ihrem regionalen Erfolg. Zunächst einmal ist hier das jahrzehntelange Scheitern der amerikanisch-europäischen Diplomatie (aber auch das der regionalen Organisationen wie der Arabischen Liga), im Nahen Osten zu nennen. Weder die USA (wegen ihrer aggressiven Außenpolitik) noch die EU (aufgrund der Uneinheitlichkeit) besitzen ausreichende Legitimation als allseits akzeptierte Vermittler. Die Türken vereinen hingegen die wichtigsten Voraussetzungen hierfür auf sich: ein junges bevölkerungsstarkes Land mit einer funktionierenden großen Ökonomie in der Region und vor allem mit einem beachtlichen regionalen Ansehen. Die Regionalmacht Türkei profitiert von der kläglichen Absenz der Globalmächte. Die vermeintlich islamistische AKP-Regierung erweist sich seit Jahren als eine Administration mit pragmatischem, weltlichem und vor allem ungemein professionellem diplomatischen Kader.

Die Türken sind nun als „bridge country” in allen Richtungen Asiens unterwegs. Sie vermittelten im jüngsten Gaza-Krieg. Sie haben durch ihre Vermittlung zum ersten Mal offizielle Verhandlungen zwischen den Erzfeinden Israel und Syrien möglich gemacht. Die Türken sind im Gespräch als Mediator zwischen Teheran und Washington. Sie sind auch in Entspannungsverhandlungen zwischen Indien und Pakistan, Pakistan und Israel sowie auf dem Kaukasus einbezogen. Im November 2007 kam es in Ankara zu einem historischen Ereignis. Gemeinsam mit seinem palästinensischen Amtskollegen Mahmud Abbas sprach erstmals ein israelischer Präsident, Schimon Peres, vor dem Parlament eines überwiegend muslimischen Staates.

Auch die Staatschefs von Pakistan und Afghanistan, Ali Zardari und Hamid Karsai waren auf Einladung von Abdullah Gül im vergangenen Dezember in Istanbul. Beide sind US-Verbündete, haben aber keine offiziellen diplomatischen Beziehungen. Die türkischen Spitzendiplomaten, an vorderster Stelle Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Erdogan, sind seit einigen Monaten auf Wunsch aller beteiligten Konfliktparteien im gesamten Nahen Osten unterwegs und beweisen sich als erfahrene und kompetente Vermittler. Sie lassen den EU-Chefvermittler im Nahen Osten Tony Blair blass aussehen.

Am 23. März kam es erst nach 33 Jahren zu einem historischen Besuch von Abdullah Gül in Bagdad. Gül verwendete im Beisein des irakischen Präsidenten, dem Kurden Dschalal Talebani, zum ersten Mal das Wort „Kurdistan“. Das Wort steht in seinem Heimatland auf dem Index. Die irakischen Kurden führen im Nordirak eine kurdische Regionalregierung.

Warum die Wiederentdeckung des Nahen Ostens?

Zusätzlich zur jahrzehntelangen Westorientierung war die türkische Diplomatie sehr damit beschäftigt, Überzeugungsarbeit für ihre Aufnahme in die EU zu leisten, was Ankara wenig Spielraum für eine aktive Nahostpolitik ließ. Nun entdecken die Türken in der außenpolitischen „Neuorientierung“, in deren Zentrum anscheinend kurz- und mittelfristig der Nahe Osten steht, eine neue leichter zu öffnende Hintertür zur EU-Mitgliedschaft. Ankara will zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Die Türken wissen, dass der Westen, zumal Europa, immense Probleme hat, deren Wurzel im Nahen Osten liegen. Sie heißen Öl, Terrorismus, Drogen- und Menschenschmuggel sowie Migration. Der Westen kann diese Probleme nicht alleine lösen. Und in der Region teilen sich die Staaten auf in die Reihen radikaler Frontstaaten (Iran, Syrien) oder US-freundlicher Länder, von denen manche wie Israel selber zum Zentrum des Konfliktes gehören. Die Türken haben in kürzester Zeit ihre souveräne selbstbewusste und handlungsfähige Außenpolitik mit dem Nein zum Irak-Krieg untermauert. Sie sind aktives Mitglied der „Organisation Islamischer Konferenz“ (OIC) und als solche müssen sie zuweilen und auch mit Recht harsche Kritik an Israel ausüben. Dabei hat es Erdogan stets sehr ernst gemeint mit der Miteinbeziehung der Hamas in die Friedensverhandlungen:

Wir sind bereit, uns für die Freilassung des israelischen Gefreiten Gilad Shalit einzusetzen, dafür muss aber Israel den Parlamentspräsidenten und die Abgeordneten der Hamas freilassen. Man kann nicht das ganze Parlament eines Gebietes gefangen halten und zugleich erwarten, dass die Leute Ruhe geben.

Erdogan war zuversichtlich, Shalit freibekommen zu können, wenn Israel im Gegenzug die palästinensischen Parlamentarier freilässt. „Ich gehe nach Israel, berate mit meinen Beratern und komme dann alsbald zu Ihnen zurück“, soll Olmert bei seinem Türkeibesuch kurz vor dem Gaza-Krieg gesagt haben. „Während ich auf Olmerts Antwort wartete, hagelten Bomben auf Gaza“, sprach der türkische Ministerpräsident entrüstet. Solche kritischen Worte und der Auftritt in Davos (siehe Mittagessen oder Krieg?) haben den Premier zum „Arab Hero“ aufsteigen lassen. In Davos verließ der Türke das Podium wegen der palästinensischen Sache, während der Araber Amru Musa, Generalsekretär der Arabischen Liga, blieb. Musa konnte seinen Respekt nicht verheimlichen, stand auf und schüttelte dem an ihm vorbeigehenden Erdogan die Hand.

Die Türkei, die USA und die EU: Gegenpol zum aggressiven arabisch-iranischen Islamismus

Die neue Türkei, die sich mit einer vermeintlich islamistisch geführten Regierung eines säkularen Staates und mit einem neuen regionalen Profil definiert, ist sehr auffällig ins Blickfeld der neuen US-Administration gerückt.

Offenbar „stört“ die Armenier-Frage, der Völkermord der türkischen Osmanen an den Armeniern zwischen 1915 und 1917, bei dem bis zu 1,5 Millionen Menschen starben, die Attraktion der Türkei für die neue US-Administration nicht. Hilary Clintons Besuch in Ankara Anfang März folgte Barack Obamas Reise in die Türkei am 06. April. Kein amerikanischer Präsident hat bislang kurz nach seinem Amtsantritt die Türkei bereist. Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass der Bosporus eine Schlüsselrolle in der Nahostpolitik der neuen US-Administration spielen wird.

Obama hat bewusst die Türkei als seine erste Station in der islamischen Welt gewählt. Die weitgehend muslimisch bevölkerte Türkei hat die größte Affinität zum Westen. Sie ist NATO-Mitglied, gehört zu den G-20-Staaten und ist nun auch UN-Sicherheitsratsmitglied. Etwa 800 türkische Soldaten sind im Rahmen der NATO-Truppe in Afghanistan stationiert, die nun auf Forderung Obamas zur Bekämpfung der Taliban aufgestockt werden sollen. Amerikas „Exit-Plan“ aus dem Irak muss mit Ankara koordiniert werden. Da einer der strategisch wichtigsten US-Militärstützpunkte in Asien, Manas in Kirgisien auf Druck Russlands geschlossen werden soll, brauchen die USA ihre Luftwaffenbasen in Incirlik, um die Truppenbewegungen in der Region zu implementieren. Und die neue US-Administration will mit einer Akzentuierung der Türkei ihr regionales Gewicht gegen den aufsteigenden Iran vergrößern.

Fakt ist, dass auf dem neuen US-Präsidenten ein schweres Erbe seines Vorgängers lastet, insbesondere was die Beziehungen zur islamischen Welt anbelangt. In diesem Kontext ist Obamas Rede vor dem türkischen Parlament zu verstehen, in der er versicherte, dass Amerika keinen „Krieg gegen den Islam“ führt. In fast allen Amerika kritischen Zonen in Asien genießen die Türken großes Ansehen. Für die Lösung der wichtigsten regionalen Krisen braucht Obama dringend die Türkei. „Die USA brauchen heute viel mehr die Türken, als die Türkei die USA“, so kürzlich ein US-Diplomat. Das Land verkörpert heute, und das ist trotz aller Skepsis einiger westlicher Kreise Realität, den Gegenpol zum aggressiven arabisch-iranischen Islamismus. Die vermeintlich islamistische AKP-Regierung hat bisher den Islam nicht zur ideologischen Säule ihrer innen- und außenpolitischen Maxime erhoben. Die intensive türkisch-iranische Annäherung ist auch mit dem akuten Energiebedarf der Türkei zu erklären.

Obamas Reise in die Türkei direkt im Anschluss an das G-20-Treffen in London und seinen Besuch in Deutschland und Frankreich ist ein Indiz dafür, dass die USA die Türkei als ein Teil Europas betrachten. Ein klares Zeichen, dass Amerika die Türkei in ihren Bemühungen um einen EU-Beitritt gewiss unterstützen. Ankara macht sich zwar als Regionalvermittler attraktiv, das reicht jedoch aus der EU-Perspektive nicht aus. Die Türken müssen die Geschwindigkeit ihrer verschleppten innenpolitischen Reformen (insbesondere im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit sowie des Minderheitenschutz) an die Außenpolitik angeleichen. Die EU wäre im Gegenzug besser beraten, nicht zu sehr unterschwellig den kulturell-religiösen, also islamischen Hintergrund der Türkei zu thematisieren.

Europa hat seit dem zweiten Weltkrieg seine Bedeutung und Wirkung im Nahen Osten stark an die USA eingebüßt. GASP (die „Gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik“ der EU) ist immer noch ein inhaltsleerer Begriff geblieben. Europa streckt großzügig Aufbaugelder für Projekte vor, die zuvor die Amerikaner und die Israelis platt gewalzt haben. Politisch hat Brüssel wenig zu melden. Die Türkei als EU-Mitglied könnte die Bedeutung Europas auch als politischer Global Player enorm verbessern.