Amokläufer unter sich

Bericht über eine Reise nach Absurdistan - Teil 3

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Teil 2: Einmal gefährdungsgeneigt, immer gefährdungsgeneigt

Der aufmerksame Leser von Teil 1 und 2 wird bemerkt haben, dass ich mein Objekt der Begierde, den von der Bundesprüfstelle indizierten Blutrausch des Satans, noch immer nicht in Händen halte, obwohl ich jetzt schon einiges über den Film geschrieben habe. Das ist ein trauriges Kapitel. Nachdem ich meine Volljährigkeit nachgewiesen hatte, hätte ich mir das brandgefährliche Werk - mit anderem Titel und auf DVD - im Internet problemlos kaufen können. Der Preis: Zwischen 20 und 40 Euro, plus Porto. Mit einem geradezu schwäbisch anmutenden Hang zur Sparsamkeit (auch so ein lieb gewonnenes Klischee) wollte ich das nicht bezahlen. Mir widerstrebte auch, dass es einen Zusammenhang zwischen hohem Preis und Indizierung zu geben schien. Die Nachfrage hielt sich allerdings in Grenzen. Jemand versteigerte die DVD aus seiner privaten Sammlung. Für deutlich unter 10 Euro (Porto inklusive) erhielt ich den Zuschlag.

Der Satan fährt Karussell

Kaum hatte ich das Geld geschickt, geschah der Amoklauf von Winnenden. Nach einer durch mir großteils unverständliche Verbote reglementierten Kindheit ohnehin zu Schuldgefühlen neigend, hatte ich gleich wieder ein schlechtes Gewissen. Traf mich eine Mitschuld, weil ich durch meinen Wunsch nach dem Blutrausch des Satans einen Markt unterstützte, auf dem Medien angeboten werden, deren Konsum zu Amokläufen führt? Ich habe schon viele solcher Debatten erlebt. Früher saßen ältere Herren in Anzug und Krawatte im Fernsehstudio, die sich alle darüber einig waren, dass nicht genug gegen "Gewaltvideos" unternommen wurde. Dann saß unter den älteren Herren in Anzug und Krawatte (und manchmal einer Dame im Kostüm) plötzlich ein armer Mensch, der "Gewaltvideos" aus eigener Anschauung kannte, vielleicht sogar mochte, eine andere Meinung vertrat und deshalb den Prügelknaben abgeben musste. Diese Sendungen waren demokratischer als die Vorgänger, aber fair waren sie nicht. Der Seher von "Gewaltvideos" war immer allein, jung, rhetorisch ungeschickt. Gegen ihn wurden Politiker und Professoren aufgeboten, die wissenschaftliche Studien kannten, aus denen eindeutig hervorging, wie schädlich diese Videos waren.

Der junge Mensch blieb meistens uneinsichtig, was ein Beleg dafür war, dass sich die älteren Herren um ihn kümmern mussten. Manchmal saßen Ex-Jugendliche in der Runde, die früher Gewaltvideos geschaut hatten und einen debilen Eindruck machten. Diese traurigen Existenzen waren der lebende Beweis dafür, wie gut die Politiker daran getan hatten, sich - man weiß doch gern, wovon man spricht - nur Schnipsel aus den Gewaltvideos anzusehen, sich aber keinesfalls einem ganzen Film auszusetzen, von vorn bis hinten und in normaler Laufgeschwindigkeit. Diesen Sendungen bin ich noch heute dankbar. In den langen Jahren, die ich auf deutschen Schulen und Universitäten verbrachte (ich war ein "ewiger Student"), musste immer nur eingespart werden. Durch das Fernsehen wusste ich, warum keine jüngeren Dozenten eingestellt werden konnten, es weiter durch das Dach der Bibliothek regnete und kein Geld für "neue Medien" da war. Es gab viel dringendere Probleme.

Solche Talkshows kann man sich wie das Karussell in Sudden Impact (Dirty Harry kehrt zurück, FSK 18) von Clint Eastwood vorstellen. Es gibt schön angemalte Fabeltiere, bunte Lichtlein und Musik. Wenn das Karussell sich dreht, zieht es alle Aufmerksamkeit auf sich. Anderes wird nicht mehr gehört und nicht mehr gesehen. Weil sich das Karussell öfter dreht und manche Leute immer wieder mitfahren dürfen, gibt es bald Stammgäste. Wenn jemand neu dazukommt, sitzt schon einer auf dem Einhorn oder im Feuerwehrauto (sagen wir: Herr Bosbach von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion oder Herr Pfeiffer, unser Lieblings-Kriminologe). Die alten Hasen wissen, wie man reden muss, um nicht gleich abgewürgt zu werden, was man tun muss, um das Publikum nicht zu überfordern und wie man etwas formuliert, damit es überzeugend wirkt. Neu Hinzugekommene haben da kaum Chancen. Wenn einer fernsehkompatibel ist, mit ruhiger Stimme und in ganzen, nicht zu komplizierten Sätzen Unsinn redet, kommt er besser an als einer, der kluge Sachen sagt, dabei aber schwitzt und stottert, weil er nervös ist. Das gehört zur Natur des Fernsehens, wie es zur "Medienkompetenz" gehört, dass man das weiß. Leider ist die Medienkompetenz der Erwachsenen bei uns viel geringer als die der Kinder und Jugendlichen. Ob es daran liegt, dass Letztere solche Talkshows nicht sehen wollen?

Nach dem Amoklauf von Erfurt wurden, meinem subjektiven Eindruck nach, noch etwa zur Hälfte die "Gewaltvideos" und zur Hälfte die Computerspiele verantwortlich gemacht, was zu einer Verschärfung der Jugendschutzgesetze führte, also zu neuen Verboten. Seit dem Amoklauf von Winnenden warnen vor allem solche Politiker vor "Gewaltvideos", die nicht ganz auf der Höhe der Zeit sind oder schon so lange die immer gleichen Sätze sagen, dass sich das nicht mehr abstellen lässt. Der Rest hat sich inzwischen auf die Computerspiele eingeschossen. Ich muss dazu sagen, dass ich Computerspiele nicht mag. Mir tun schnell die Augen weh, und bald kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Wahrscheinlich bin ich schon zu alt dafür und sollte mir eine Brille kaufen. Aus meiner persönlichen Erfahrung allgemeine Wahrheiten abzuleiten, hielte ich für sehr gewagt. Laut einer Umfrage sind 69 Prozent der Bundesbürger für ein generelles Verbot von "Killerspielen". Das sagt zunächst nur, dass wir in einer zunehmend vergreisenden Gesellschaft leben. Gäbe es mehr Jüngere, wäre das Ergebnis ein völlig anderes. Von Computerspielen weiß ich gar nichts. Als Freund von Horrorfilmen weiß ich aber, wie es ist, wenn Leute im Fernsehen verbal auf Sachen einschlagen, von denen sie keine Ahnung haben. Die Computerspieler tun mir deshalb leid.

Schädigungen des Gehirns

Den Talkshows entnehme ich, dass es jetzt neueste wissenschaftliche Studien gibt, die beweisen, dass tatsächlich ein direkter Zusammenhang zwischen virtueller und realer Gewalt besteht. Ich kenne diese neuesten Studien nicht (in den Talkshows erfährt man auch nie, worum es sich genau handelt), wohl aber viele ältere Studien über Gewalt in den Medien, die früher ganz neu waren. Falls ich nicht einfach zu dumm sein sollte, um diese Studien zu verstehen (bei den vielen Filmen, die ich schon gesehen habe, wäre das ... aber halt, neueste Studien belegen jetzt, dass Filme gar nicht dumm machen), sind sie in sich widersprüchlich, und wenn nicht, gibt es zu jeder Studie eine genauso seriöse Studie, die etwas ganz anderes beweist. Es gibt so viele unterschiedliche Erkenntnisse, dass sich jeder das aussuchen kann, was am besten zu seinem Argument passt. Am Ende landet man immer bei Forschungsergebnissen, die man gewichten und interpretieren muss. Man sieht das derzeit an der Glühbirne, die durch die Energiesparlampe ersetzt werden soll. Jetzt streiten die Experten darüber, ob die Sparlampe nicht doch schädlicher für die Umwelt ist, wenn man eine ökologische Gesamtrechnung aufmacht. Sollten wir tatsächlich mehr über Hirn und Psyche des Menschen wissen als über die vergleichsweise einfach gebaute Glühbirne? (Mit solchen oder noch dümmeren Vergleichen, z.B. mit den Bäumen im Regenwald, werden in Talkshows neue Verbote begründet.)

Den neuesten Studien nach ist es so: Gewalt in Büchern hat kaum einen schädlichen Einfluss, Gewalt in Filmen einen geringen und Gewalt in Computerspielen einen sehr großen Einfluss. Das neueste Medium ist also das gefährlichste, das älteste das unbedenklichste. Ob das ein Zufall ist? Beim großen Palaver über Mediengewalt gehen Kulturpessimismus (früher war alles besser) und Fortschrittsglaube (die Wissenschaft, die sich früher schon mal geirrt hat, wird immer besser und kann immer überzeugender beweisen, dass jetzt alles schlimmer ist als früher) eine seltsame Verbindung ein.

Ich möchte diesen schönen Glauben an die Wissenschaft nicht zerstören, aber doch an das Jahr 1908 erinnern. Damals wurde im US-Bundesstaat Massachusetts ein Gesetz erlassen, das bestimmte, dass Filmvorführungen nach spätestens zwei Minuten unterbrochen werden mussten. Danach musste das Kino mindestens fünf Minuten lang hell erleuchtet werden, ehe wieder zwei Minuten Film gezeigt werden durften. Die Gefährdung bestand darin, dass Filme vom Publikum in verdunkelten Räumen gesehen wurden. Wenn das mehr als zwei Minuten lang geschah, konnte durch Überreizung der Nerven eine Schädigung des Gehirns eintreten, und blind werden konnte man auch. Wissenschaftliche Studien hatten das eindeutig ergeben. Auch bei uns wurde darüber diskutiert, ob es aus Gründen der Kultur und der Volksgesundheit nicht wünschenswert sei, den Kinosaal prinzipiell so weit erleuchtet zu lassen, dass die Herren während der Vorstellung ihre Zeitung lesen konnten. (Damals wie heute galt: Gewaltdarstellungen in etablierten Medien sind nicht schädlich, in neuen aber schon.)

Wenn man nur die Ergebnisse betrachtet, ging es um etwas ganz anderes. Neue Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie zunächst von den bestehenden Gesetzen nicht erfasst werden und dass sie ein neuartiges Publikum ansprechen. In den Anfangsjahren der Kinematographie traf sich vor allem die Unterschicht in den Kinos, weil der Eintritt billig war. Im Vorführraum war es dunkel, was auf die Phantasie der Tugendwächter aus der Mittelschicht einen unwiderstehlichen Reiz ausübte. Viele Filme aus dem ersten Jahrzehnt der Kinogeschichte kann man heute kaum mehr verstehen, weil sie anderen Regeln folgen als das, woran wir uns gewöhnt haben. Das änderte sich, als die Kinos im großen Stil von den Behörden geschlossen wurden. Die Filmproduzenten reagierten darauf, indem sie eine bisher proletarisch geprägte Ästhetik durch eine bürgerliche Ästhetik ersetzten. Auf das Bildungsbürgertum wirkten Filme nicht mehr so bedrohlich, nachdem man sie seinen Sehgewohnheiten angepasst hatte. Von einer Gesundheitsgefährdung war danach nicht mehr die Rede. Die Beleuchtung, die anzeigt, wo sich die Notausgänge befinden, stammt übrigens aus einer Zeit, als es noch keine Notausgänge gab. Auf diese Weise wurde der Kinosaal erhellt, damit die Zuschauer weniger ungehindert ihren Gelüsten nachgehen konnten. In der Dunkelheit hatten sich bis dahin nämlich - wenigstens in der Phantasie der Sittenwächter - unaussprechliche Dinge abgespielt.

Galt anfangs noch der Film insgesamt als gefährlich, waren es bald nur noch einzelne Genres, und insbesondere der Horrorfilm, in dem sich Elemente des frühen, "primitiven" Kinos erhalten haben (auch deshalb ist er ein wichtiger kultureller Wissensspeicher). Bisher war es meistens so, dass keineswegs nur Horrorfilme von den Verboten betroffen waren, die mit deren unterstellter Gefährlichkeit begründet wurden. Rein historisch gesehen besteht deshalb eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass morgen auch diejenigen die Auswirkungen eines Verbots der "Killerspiele" spüren werden, die heute noch glauben, dass das mit ihnen nichts zu tun hat. Sehr aufschlussreich ist ein Prozess von 1929.

In London stand ein Mann vor Gericht, der ein Dienstmädchen ermordet hatte. Der Täter machte Tod Brownings Film London After Midnight für das Verbrechen verantwortlich. Lon Chaney trat dort in einer Doppelrolle als hypnotisierender Polizist und Schwindel-Vampir auf. Auf Anraten seines Verteidigers erklärte der Angeklagte, Chaney sei ihm in einer durch den Film hervorgerufenen Wahnvorstellung im Hyde Park erschienen und habe ihn gezwungen, der Frau die Kehle durchzuschneiden. Die Geschworenen nahmen ihm das nicht ab und verurteilten ihn zum Tode. Der Innenminister sah es anders und setzte das Urteil aus - aus medizinischen Gründen, wie es hieß (es gab neue wissenschaftliche Studien). Die Gründe waren aber eher politisch. Das Eingreifen des Ministers war der Beginn einer Kampagne, an deren Ende ein sehr strenges Zensurgesetz stand. Davon betroffen waren nicht nur Leinwandvampire, sondern auch, beispielsweise, J'accuse von Abel Gance (weil die pazifistische Botschaft durch Bilder von Kriegsinvaliden unterstützt wurde) und ein Dokumentarfilm über die Geburt eines Kindes. Billiger Populismus war wie üblich von der Zensur ausgenommen. Viele Kopien von London After Midnight wurden - unter beträchtlicher und sehr realer Schädigung der Umwelt - vernichtet, weil dieses Machwerk "nachweislich" zu einem brutalen Mord geführt hatte. Der Film gilt heute als verschollen. Das ist gut so. Weil ihn keiner mehr sehen kann, werden keine Dienstmädchen mehr umgebracht.

Euthanasie in Winnenden

Das Spiel, in dem virtuell auf Pixelmännchen geschossen wird, heißt "Killerspiel". Aber der Verein, in dem real, mit echter Munition auf Schießscheiben geschossen wird, heißt Schützenverein, nicht Schießverein (und schon gar nicht Killerverein). Das klingt gleich viel netter. Mit Sprache kann man eine Menge machen (es ist auch ein Unterschied, ob man den Horrorfilm Im Blutrausch des Satans sieht oder den Öko-Film Ökologie des Verbrechens, oder einfach einen Film, den man nicht schon vorher kategorisiert). Kurz vor und kurz nach dem Amoklauf von Winnenden brachten deutsche Männer ihre Frau und ihre Kinder um. Darüber wurde nur knapp berichtet. Es wurden keine Talkshows einberufen, um das Motiv der Täter zu erforschen, Forderungen nach Verboten blieben aus. Kein Wunder. Es handelte sich um "Familientragödien". Wenn ein 17-Jähriger andere Leute umbringt, ist das ein Amoklauf. Wenn ein Erwachsener seine Familie ermordet, ist das eine "Tragödie". Talkshows über paternalistische Denkweisen, die möglicherweise zu so einer "Familientragödie" führen könnten, gab es nicht. In den Berichten, die ich gelesen habe, war mehrmals vom "Schicksal" die Rede. Das Schicksal spielt in der klassischen Tragödie eine große Rolle. Und gegen das Schicksal kann man leider gar nichts machen.

Der Vater aller deutschen Amokläufer wäre heute schon keiner mehr, wenn sich seine Tat nicht in zwei Etappen vollzogen hätte. Der Mann hieß Ernst Wagner. Er war Lehrer von Beruf. In der Nacht vom 3. auf den 4. September 1913 ermordete Hauptlehrer Wagner in Degerloch bei Stuttgart mit einem großen Messer seine Frau und seine vier Kinder (die Familientragödie). Anschließend fuhr er, mit Pistolen bewaffnet, in das Dorf Mühlhausen, wo er zehn Menschen - und zwei Stück Vieh - erschoss; mindestens acht Menschen wurden schwer verwundet (der Amoklauf). Am Abend davor hatte der Lehrer mit seiner Familie und seiner Vermieterin noch friedlich im Garten gesessen. Weil aber nach dem Amoklauf Taten gefordert wurden, damit so etwas nie wieder geschehen könne, wurde über die Sperrstunde in schwäbischen Wirtshäusern und mehr Waffen für die Polizei diskutiert. Im Frühjahr 1913 hatte Wagner im Kino den Film Quo vadis gesehen, was scheinbar so wenig hergab wie Sherlock Holmes' Abenteuer auf seiner Leseliste. Wenn schon Homunculus (1916) oder Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) gezeigt worden wären, hätte man vielleicht schärfere Zensurgesetze gefordert, aber diese Horrorfilme konnte es noch nicht geben, weil sie eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg waren (statt ihn auszulösen).

Hauptlehrer Wagner wurde überwältigt, bevor er sich selbst töten konnte. Zwei Psychiater attestierten ihm einen krankhaften Verfolgungswahn, worauf er in die Heilanstalt Winnental im Örtchen Winnenden eingeliefert wurde. Seine Schriften kann man gut mit dem vergleichen, was Adolf Hitler in Mein Kampf von sich gibt. Wagner erklärte später stolz, er sei der erste Nationalsozialist in Winnental gewesen. In einem Nachruf bescheinigte ihm sein Psychiater, dass er die "Aufbauarbeit des Führers bewundert und einem grundsätzlichen Antisemitismus gehuldigt" habe. Wagner starb am 27. April 1938. 1940 wurden 396 Patienten von Winnental in den grauen Omnibussen der "Gemeinnützigen Kranken-Transport-GmbH" nach Mauthausen und nach Grafeneck auf der schwäbischen Alb gebracht. Dr. Otto Gutekunst, der Direktor der Heilanstalt, nahm die Einladung des Leiters von Grafeneck, sich vor Ort ein Bild zu machen, gerne an, denn: "Ich hatte natürlich Interesse zu erfahren, was dort oben vorgeht; ich konnte mir ja nicht vorstellen, wie die Tötung der vielen Menschen vor sich gehen sollte."

Könnte sich Tim K. Hauptlehrer Wagner zum Vorbild genommen haben, der die letzten 25 Jahre seines Lebens in Winnenden verbrachte und dort starb? Oder könnte ein Grund für den Amoklauf darin zu finden sein, dass Tim K. in einem Land lebte, das dauernd neue Filme über die Nazizeit und noch eine Guido-Knopp-Dokumentation hervorbringt, dabei aber das weniger spektakuläre Gedankengut des Dritten Reichs so nachhaltig verdrängt, dass führende Politiker sich nichts dabei denken, wenn sie ein Nazilied in ihr Gesangsbuch "für fröhliche Stunden" aufnehmen; in einem Land, in dem man, obwohl demokratisch, sehr schnell auf autoritäre Strukturen stößt, wenn man sich ein wenig abseits von der Norm bewegt; in einem Land, das seinen Bürgern misstraut, weshalb es noch immer glaubt, das Heil in undurchsichtigen Verboten finden zu können statt in der argumentativen Auseinandersetzung?

Ich habe keine Ahnung. Tim K. ist mir ganz unbekannt. Ich will hier nur zeigen, wie leicht es ist, anhand des Amoklaufs von Winnenden eine völlig andere Geschichte zu erzählen - eine Geschichte, die ohne Gewaltvideos und Computerspiele auskommt und aus der man ganz andere Rückschlüsse für den Jugendschutz ziehen müsste als die, die immer dann diskutiert werden, wenn sich das Talkshow-Karussell in Gang setzt. In meiner Geschichte gibt es nur reale Gewalt, keine virtuelle. 1893 verbrachte übrigens auch der pazifistische und anti-chauvinistische Hermann Hesse einige Zeit in Winnental. Auf Betreiben seines Vaters wurde er auf Anzeichen von "moralischem Irresein" untersucht. Ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs schrieb er eine Novelle mit dem Titel "Klein und Wagner", in der es heißt: "Er schrak plötzlich zusammen. Schon wieder ein Zusammenhang!"

Der Hölle so nah

Und der Blutrausch des Satans? Durch neueste wissenschaftliche Studien entlastet (es sind doch nur die Computerspiele und nicht die Horrorfilme, die zu realen Gewalttaten anregen), wartete ich frohgemut auf mein Paket. Doch der Mann, bei dem ich den Film ersteigert hatte, war ein Chaot. Er konnte die DVD nicht finden. Als Ersatz bot er mir einige andere Filme an, die alle indiziert sind. Ich geriet kurz in Versuchung, mir statt des Blutrauschs den Tanz der Teufel schicken zu lassen. Im schon erwähnten Buch über die "besten Filme aller Zeiten" wird Sam Raimis The Evil Dead (Originaltitel) mit einem Eintrag bedacht (ein Verstoß gegen das Werbeverbot?), und zur Sicherung des kulturellen Erbes verwahrt das Museum of Modern Art eine Kopie des Films. Ich entschied mich dann dagegen, und das war mein Glück. Das latente Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, hatte mich doch nicht getrogen.

Peeping Tom

Meinen Informationen nach darf man sich indizierte Filme, streng genommen, gar nicht mit der Post schicken lassen (der Jugendschutz). Unbedenklich ist der Erwerb eines indizierten Filmes nur, wenn ich ihn als Erwachsener in einem Laden mit abgetrenntem Gewalt- und Pornoraum kaufe, es also so mache wie der schmutzige alte Mann in Peeping Tom, der im Zeitschriftenladen verschämt nach Photos mit nackten Frauen fragt (und die Tageszeitung kostenlos mit dazu bekommt, weil er in einer scheinheiligen Gesellschaft lebt). In München, wo ich wohne, wüsste ich gar nicht, wo ich da hingehen sollte. Wahrscheinlich würde ich es in der Gegend um den Hauptbahnhof versuchen. In zwei Straßen, die nach Goethe und nach Schiller benannt sind (Paul Heyse, Träger des Nobelpreises für Literatur, hat eine stinkende Unterführung bekommen). Zwischen Pornokinos, Striptease-Lokalen und - interessanterweise - Computerläden würde ich vielleicht ein Geschäft mit Schmuddelware finden, in dem ich nach dem Blutrausch des Satans fragen dürfte.

Peeping Tom

Sind also die Leute, die einem bereitwillig indizierte Filme ins Haus schicken, skrupellose Verbrecher? Ich glaube, die meisten wissen gar nicht, was erlaubt ist und was nicht. Außerdem herrscht auch Unklarheit darüber, was indiziert ist und was nicht. Wenn ein Film indiziert ist, steht das nicht auf der DVD-Hülle. Mit einer Indizierung darf nicht geworben werden, und ein solcher Hinweis wäre bestimmt Reklame. Im Blutrausch des Satans hätte ich bei Anbietern kaufen können, in deren Artikelbeschreibung abwechselnd "indiziert" oder "nicht indiziert" oder gar nichts stand. Den beiden letzten Gruppen nehme ich ihr Unwissen sofort ab, weil es mir selbst nicht anders gegangen war. Ich habe erst in Tim Lucas' Buch Mario Bava: All the Colors of the Night davon gelesen, dass der Film, den ich unter einem ganz anderen Titel kannte, als Im Blutrausch des Satans bei uns indiziert ist. Das ist, zwischendurch bemerkt, eine weitere Nebenwirkung der Arbeit unserer Bundesprüfstelle: Amerikaner, die so etwas bei Tim Lucas lesen, fragen sich unwillkürlich, was das hier für ein Land ist, in dem man mit mittelalterlichen Methoden (der Index) gegen solche Filme zu Felde zieht. Den meisten, deren Meinung ich in einer völlig unrepräsentativen Umfrage eingeholt habe, fielen gleich wieder die Nazis ein. Aber das mag damit zu tun haben, dass den meisten Amerikanern grundsätzlich die Nazis oder das Oktoberfest einfallen, wenn es um Deutschland geht. (Die Frage ist allerdings, ob das nur die Schuld der Amerikaner ist.)

Für die Regelung, dass die Indizierung eines Filmtitels auch für "inhaltsgleiche Medien" gilt, gibt es einen guten Grund. Geschäftemacher könnten den Film sonst umetikettieren und unter neuem Titel auf den Markt bringen, und die BPjM käme nicht mehr hinterher. Praktisch ist es aber so, dass es eine sehr große Zahl von Filmen gibt, die unter irgendwelchen Titeln auf einer Geheimliste stehen und oft unter ganz anderen Titeln vertrieben werden. Genaues erfährt man nur wieder, auf Nachfrage, von der Bundesprüfstelle. Als Erwachsener gerät man so sehr schnell in Konflikt mit den Bestimmungen des Jugendschutzes, ohne es zu wissen. Es liegt auf der Hand, dass so etwas nicht zur allgemeinen Akzeptanz solcher Bestimmungen beiträgt. Das kann nicht im Sinne des Erfinders sein.

Ein Verleih, der nicht bereit ist, die Schnittauflagen der FSK zu erfüllen, kann einen Film theoretisch auch ohne Freigabe und explizit nur für Erwachsene in Umlauf bringen, praktisch aber so gut wie nicht. Rechtlich gesehen ("Die Zensur ist abgeschafft") ist das problematisch. De facto nimmt die FSK eine "hoheitliche Funktion" wahr, was ihr aber gar nicht zusteht. Der Staat darf das eigentlich nicht erlauben und entsendet deshalb einen "Ständigen Vertreter der Obersten Landesjugendbehörde" in die FSK, der bei jeder Prüfung den Vorsitz führt, also auch mit dabei ist, wenn es um Filme geht, für die eine Freigabe ab 18 beantragt wurde und für die er gar nicht zuständig ist. Der Ständige Vertreter bestätigt das FSK-Urteil durch Dienstsiegel und Unterschrift, wodurch aus einer "Empfehlung" ein staatlicher Verwaltungsakt wird.

Auf dem Gynstuhl geknebelt

Sollte der Ständige Vertreter den Verdacht hegen, dass ein Film gegen ein Strafgesetz verstoßen könnte (was bei uns viel leichter möglich ist als in anderen Ländern, weil vor Jahren die entsprechenden Gesetze verabschiedet wurden), ist er verpflichtet, das den zuständigen Behörden zu melden. Dadurch wird einer jener Automatismen in Gang gesetzt, die deutlich machen, wie wichtig fundierte Begründungen wären, wenn FSK oder BPjM ihre Urteile fällen. Der mir angebotene Film Tanz der Teufel (keine FSK-Freigabe) wurde 1988 von der Staatsanwaltschaft München beschlagnahmt. Indiziert war er auch. Indizierte und beschlagnahmte Filme werden automatisch in "Liste B" der BPjM eingetragen. Damit gelten verschärfte Verbreitungseinschränkungen. Ein solcher Film ist praktisch verboten, und zwar für alle. Zumindest, wenn ein Film bundesweit beschlagnahmt wurde, weil er angeblich gegen Bestimmungen verstößt, die es so nur in der Bundesrepublik Deutschland gibt, darf er auch an Erwachsene nicht mehr abgegeben werden. Allerdings gibt es dazu abweichende Meinungen. Ich wünsche allen viel Glück, die eine verbindliche juristische Stellungnahme einholen wollen. Ob beabsichtigt oder nicht: Zensur wird in demokratischen Staaten dann besonders wirksam, wenn Rechtsunsicherheit besteht.

Rear Window

1992 hob das Bundesverfassungsgericht das Verbot von Tanz der Teufel auf. 2000 wurde der Film wieder verboten. Ich nehme an, das gilt bis heute. Es muss bis heute gelten, und sei es nur zum Schutz des Konsumenten. Die Nacht der rollenden Köpfe, kürzlich noch in einer auf 666 Exemplare limitierten "Spezial-Edition" unter dem Ladentisch gehandelt, steht nicht mehr auf dem Index. Der Film wird jetzt mit dem Slogan "Nach 25 Jahren endlich vom Index" angepriesen. Das weckt Erwartungen, die unerfüllbar sind. Es rollt doch eher wenig (interessant ist der Film trotzdem, als Bindeglied zwischen Hitchcocks Rear Window und Brian de Palmas Body Double). Jedenfalls bin ich froh, mich gegen die Teufel entschieden zu haben, wenn auch - weil früher ganz naiv - aus den falschen Gründen (der Film ist stark gealtert). Wer weiß, was mir alles hätte passieren können. Womöglich hätte man mich eingesperrt. Dann wäre ich bestimmt in die Zelle mit dem Mann aus dem Spot gegen Raubkopierer gesteckt worden, der seine Kinder nur noch durch Gitterstäbe sehen darf. Bei meiner Freilassung hätte mir dieser gewissenlose Mensch seine Kopier-Software zugesteckt. Eine kriminelle Karriere wäre damit vorprogrammiert gewesen.

Body Double

Der Chaot bot mir dann noch ein Werk an, das vielleicht indiziert ist und vielleicht nicht, unter diesem Titel oder unter jenem, und dessen Inhaltsangabe (DVD-Cover) ich hier hoffentlich zitieren darf, wenn ich nicht sage, wie es heißt:

In Vollgummi gehüllt und an Ketten gelegt wird die pralle Sklavin verbal erniedrigt, gespankt, ausgepeitscht, auf dem Gynstuhl geknebelt, gedehnt und gefickt. Mit verbundenen Augen begibt sich Lustobjekt Simone in die Hände ihres Peinigers, der triebhafte Phantasien einsetzt, um seine sexuellen Wünsche auszuleben.

Ich ließ mir dann doch lieber mein Geld zurückschicken. Das letzte Angebot sagt viel über unseren Umgang mit Filmen und gar nichts über Mario Bava aus. In einer Welt, wie ich sie mir wünsche, würden wir Filme nicht in "indiziert" und "nicht indiziert" einteilen, und der Mann hätte mir als Ersatz für den verschlampten Bava-Film nicht Simone nebst Peiniger angeboten, sondern eine DVD mit La ronde. La ronde ist ein Meisterwerk des bereits erwähnten Max Ophüls. Ecologia del delitto ist ein radikales "Remake" dieses Films. Bava gibt uns "gleich zu Beginn" zwei Hinweise darauf. Die Darstellerin der Gräfin Frederika ist Isa Miranda, die auch in La ronde eine wichtige Rolle spielt. Und er zeigt das sich drehende Rad am Rollstuhl der Gräfin, das zum Stillstand kommt, wenn Frederika stirbt. Bei Ophüls dreht sich ein Karussell. Beide, Ophüls wie Bava, zeigen - ohne das gutzuheißen - eine Welt, in der der Mensch verdinglicht wird, in der er auf einer Stufe mit Gegenständen wie einem Rad oder einem Karussell steht, in der sein Körper austauschbar wie eine Ware ist. Hier müsste, meiner Ansicht nach, eine Indizierungsbegründung ansetzen. Nachdem man sich darüber klargeworden ist, worum es geht, kann man sich überlegen, ob sich Bava womöglich in der Wahl seiner Mittel vergriffen hat, ob der Film jugendgefährdend ist oder nicht. Im Text des 3er-Gremiums findet sich davon kein Wort.

Isa Miranda in 'La ronde'

La ronde ist eine Verfilmung von Arthur Schnitzlers Skandalstück Der Reigen. Schnitzler sah die Wiener Gesellschaft lange vor dem Ersten Weltkrieg im Zerfall begriffen und zeigte das am Beispiel der Liebe, an deren Stelle es im Reigen nur Sex, Gier und Geld gibt. Die Zeitgenossen verwechselten die Gesellschaftskritik mit ihren eigenen Sexualphantasien und mit Pornographie. In Berlin führte das 1921 zu einem Prozess, der für die deutsche Justiz alles andere als ruhmreich und von stark antisemitischen Untertönen geprägt war. Schnitzler war angewidert von den vielen Experten für hineinphantasierte Schlüpfrigkeit und von einer Gesellschaft, die so sehr mit dem Unterdrücken als unangenehm empfundener Dinge beschäftigt war, dass sie nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Deshalb verfügte er ein generelles Aufführungsverbot. Weil sich sein Erbe dem Wunsch des Vaters verpflichtet fühlte, durfte das Stück jahrzehntelang nicht gespielt werden.

La ronde

Die Rechte an der französischsprachigen Version vermachte Schnitzler seiner Übersetzerin. Ophüls konnte La ronde nur drehen, weil sie ihre Zustimmung gab. Den größten Publikumserfolg seiner Karriere verdankte er einem Missverständnis. Weltweit strömten die Leute in Scharen in einen Film, um etwas zu sehen, was es auf der Leinwand gar nicht gab. In England wurde La ronde 1952 zum "Best Picture of the World" gewählt, und der Bischof von Münster sprach über den Film einen Bann aus. Kein Kino in der Stadt traute sich, La ronde aufzuführen. Dem Mann, der in einem Ort namens Gremmendorf ein Lichtspieltheater betrieb und scheinbar nicht katholisch war, bescherte das einen warmen Geldregen. Die Münsteraner standen bei ihm Schlange, um La ronde sehen zu dürfen.

Adolf Wohlbrück in 'La ronde'

Der FSK muss ich ausdrücklich ein Lob aussprechen. Sie gab La ronde ohne Schnitte frei und wurde dafür heftigst angefeindet. In einigen Bundesstaaten der USA wurde der Film verboten. Der dortige Verleih kämpfte sich durch alle Instanzen. 1954 führte das zu einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs, in dem der Film anderen Künsten gleichgestellt wurde, weshalb ihm dieselben Rechte und Freiheiten zugesichert wurden wie anderen Künsten. Bei uns lieferte die FSK-Freigabe ein zusätzliches Argument für die Einführung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Bleibt noch die Frage, was die FSK hätte entfernen sollen. Es gibt schlicht nichts. Ophüls hatte den Zensoren die Arbeit abgenommen. In einer Szene hält der von ihm erfundene Spielleiter (Adolf Wohlbrück, auch ein Exilant) die Handlung an und schneidet ein anstößiges Stück Film heraus. Dann kann es weitergehen.

Vergebliche Liebesmüh

Was La ronde, meiner Meinung nach, mit Mario Bava zu tun hat, will ich hier nicht weiter ausführen (das Werbeverbot). Ich will auch nicht behaupten, dass ich Recht habe (oder dass der Film für Kinder geeignet ist). Doch meine Interpretation dürfte ich nur zur Diskussion stellen, wenn das hier eine zugangsbeschränkte Website mit Hardcore-Pornos für Erwachsene wäre (Simone und ihr Peiniger würden sich dafür nicht interessieren - aber vielleicht ist das auch nur ein Vorurteil). Was ich sagen darf ist, dass all meine Bemühungen um meine private, nur für mich gedachte DVD mit Ecologia del delitto letztlich vergeblich waren. Inzwischen weiß ich: Der Videofilm Im Blutrausch des Satans wurde vom Landgericht Köln mit Beschluss vom 21.1.1987 (Az.: 102 Gs 4/87) bundesweit beschlagnahmt. Deshalb wurde auch er, wie Tanz der Teufel, automatisch in die "Liste B" eingetragen und darf meines Wissens in Deutschland nicht mehr verkauft werden, auch nicht in einem Hinterzimmer. Mein Grundvertrauen in den Rechtsstaat ist stark genug, um davon auszugehen, dass eine Klage beste Erfolgsaussichten hätte. Aber wer wird das tun? Die nicht mehr existierende "Verfahrensbeteiligte" sicher nicht. Ich gebe untertänigst zu bedenken, dass ich ein harmloser Filmhistoriker bin, der weder die Zeit noch die Mittel für ein Jurastudium hat, und auch nicht für langwierige Prozesse. Da ich ein wissenschaftliches Interesse nachweisen kann, würde ich auf Antrag wahrscheinlich eine Ausnahmegenehmigung erhalten. Ein Trost ist mir das nicht.

Ich habe Freunde in Österreich, die Mitleid mit mir hatten. Sie haben die DVD für mich gekauft. Bei unseren Nachbarn ist das ganz einfach und sogar erlaubt, wenn man ein Erwachsener ist. In Österreich habe ich sie mir angesehen. Bava hat mit denselben Darstellern eine italienische und eine englische Fassung von Ecologia del delitto gedreht. Als Filmliebhaber würde ich sagen, dass man nicht automatisch von einer "Inhaltsgleichheit" der beiden Versionen ausgehen kann, aber mit dieser Meinung gehöre ich wahrscheinlich zu einer kleinen Minderheit - zumindest, wenn man annimmt, dass das, was hierzulande mit dem Kulturgut Film geschieht, die Billigung der großen Mehrheit findet. Innerhalb eines Systems, in dem ein paar Filmsekunden mehr oder weniger darüber entscheiden, ob Psycho jugendfrei ist oder nicht, müsste so etwas eigentlich eine Rolle spielen. Tut es aber nicht. Falls Frau Monssen-Engberding das liest, kann ich ihr sagen, dass sich die deutsche Synchronfassung auf der DVD, die mit dem, was sie auf der Videokassette gehört hat, identisch ist oder nicht, an der englischen Version orientiert. Das ist schade. Die italienischen Dialoge sind besser.

Alfred Hitckock in 'Psycho'

Wenn ich Ecologia del delitto das nächste Mal sehen will, fahre ich wieder nach Österreich wie damals die Münsteraner nach Gremmendorf. Einführen will ich die DVD lieber nicht. Ich fürchte, das verstößt gegen ein Gesetz. Zum Glück habe ich den Film im Ausland schon mehrfach im Kino gesehen. In anderen Ländern ist das kein Problem. Besonders gern erinnere ich mich an eine anschließende Diskussion, in der es um die dramaturgische Funktion des Lichts in Bavas Operazione paura im Vergleich zu Ecologia del delitto ging (in Ecologia verzichtet Bava auf das für ihn charakteristische farbige Licht). Das war in London. In Deutschland müsste man bei einer solchen Diskussion immer Angst haben, dass gleich der Staatsanwalt kommt. Deshalb findet sie erst gar nicht statt.

In Italien gibt es eine Firma, die stolz auf die Gialli ist und sie seit einigen Jahren auf DVD herausbringt: mit umfangreichem Bonusmaterial, in dem sich Beteiligte und Filmhistoriker äußern und in digital überarbeiteten Fassungen, was in diesem Fall auch stimmt (bei uns steht es - bei den DVDs für alle - oft nur auf der Packung, und keine Bundesoberbehörde stört sich daran). Ob es diese Firma noch gäbe, wenn auch Italien eine Bundesprüfstelle hätte? Oder hätte die Firma immer wieder geklagt und die Behörde dadurch gezwungen, ihre Indizierungspraxis zu überdenken? Das ist Spekulation. Festhalten kann man nur, dass wir uns mit jugendlichen Amokläufern herumschlagen, obwohl wir eine Bundesprüfstelle haben, die Italiener dagegen nicht. Es muss doch noch andere verderbliche Einflüsse auf die Jugend geben als diese Filme.

Satanismus in der Schule

Um nicht blauäugiger zu erscheinen, als ich bin, muss ich sagen, dass viele gefährdungsgeneigte Jugendliche sich nicht mit denselben rechtlichen Bedenken tragen wie ich als verantwortungsbewusster Erwachsener. Sollte ein Jugendlicher Im Blutrausch des Satans sehen wollen, würde er nicht erst den Ausweis seines Vaters klauen (ein klassischer Fall von Beschaffungskriminalität) oder den eigenen Ausweis mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändern, um nach absolviertem Postident-Verfahren freigeschaltet zu werden und dann, im 18er-Raum, Simone und ihrem Peiniger begegnen zu dürfen. Er würde den Film einfach aus dem Internet herunterladen. Oder er würde ihn sich aus dem Ausland schicken lassen, was kein Problem wäre, obwohl er bei uns verboten ist. Niemand würde den Jugendlichen nach seinem Alter fragen. Die einzige Voraussetzung wäre die, dass er online bezahlen kann. Und zur Not könnte er das Geld im Umschlag schicken. Das wäre nur etwas teurer.

Nehmen wir also an, ein solcher Jugendlicher hätte sich den Film besorgt und ein Lehrer würde merken, dass seine Schüler Im Blutrausch des Satans sehen. Was würde ein solcher Lehrer tun? Würde er die Indizierung des Films beantragen, damit die Kinder nicht mehr an ihn herankommen können? Da würde er sich wundern. Würde er die Mrs. Bates machen, den Schülern sagen, dass der Film gewaltverherrlichend ist, weil er gewaltverherrlichend ist und allenfalls noch ein paar Morde aufzählen? Hoffentlich nicht. Die Indizierungsbegründung der BPjM kann der Lehrer somit vergessen. Aber was sonst? Hier schlägt die Stunde der nun gern beschworenen Medienkompetenz. Nur: Wie soll ein Lehrer seinen Schülern beibringen, was er selbst nicht hat?

Als ich ein Student war, musste man sich die wenigen Filmseminare mühsam zusammensuchen und darauf hoffen, dass sie in einem Fach angeboten wurden, das man selbst belegt hatte (Gäste wurden nicht aufgenommen, weil solche Kurse hoffnungslos überfüllt waren). Die meisten Professoren glaubten, dass es sich um eine kurzfristige Modeerscheinung handele und waren entschlossen, diese Geschmacksverirrung auszusitzen. Gut ausgebildetes Personal, das Filmseminare hätte anbieten können, gab es praktisch nicht. Ich erinnere mich an einen Kurs, in dem auf einem viel zu kleinen Monitor ein Film gezeigt wurde. Die Lautstärke war gedämpft, weil nebenan die Bibliothekarin ihr Arbeitszimmer hatte und nicht gestört werden durfte. Nach Filmende wurde der Videorekorder aus- und nicht mehr eingeschaltet. Einzelne Szenen durften wir kein zweites Mal sehen, weil das nicht der Erfahrung des Kinogängers entsprochen hätte, der den Film auch nur einmal sah (meinte der Kursleiter). Das war Filmanalyse nach Art von Rudi Carrells Am laufenden Band. Man ließ Sachen an sich vorbeiziehen und zählte später auf, woran man sich erinnern konnte: den Globus, das Fragezeichen und die Waschmaschine. (Ob wohl einer der anonymen Filmbewerter aus dem 3er-Gremium eine solche Veranstaltung besucht hat?)

Angeboten wurde auch ein Kurs über Shakespeare-Verfilmungen. Der Text der Dramen wurde mit den Filmdialogen verglichen. Für die Filme ging das immer schlecht aus, weil die Drehbuchautoren die Stücke gekürzt hatten. Im Fach Germanistik gab es einen armen Dozenten, der lange Klagereden darüber hielt, was er gern gemacht hätte, aber nicht durfte (später wurde er lieber Filmkritiker). Erlaubt war zunächst nur, deutsche Verfilmungen von deutscher Literatur zu besprechen. Eine germanistische Spezialität war das Erstellen von Filmprotokollen. Das wäre eine gute Sache gewesen, wenn es der Schärfung der Wahrnehmung gedient hätte. Es ging aber eigentlich nur darum, Filme in eine schriftliche Form zu überführen. Das fanden auch die Literatur-Professoren gut.

Ich erzähle hier keine Anekdoten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Lehrer, die heute zwischen 40 und 50 sind, haben in ihrem Studium höchstwahrscheinlich etwas ähnliches erlebt wie ich und das auch nur, wenn sie eine große Universität besuchten; bei kleineren Unis sah es noch finsterer aus. Deshalb habe ich Verständnis für die Talkshow-Politiker, die nach neuen Verboten rufen. Sie werden in solche Sendungen geschickt, um dem Wahlvolk zu erzählen, dass ihre Partei das Problem erkannt hat und dass dieser Partei keine Anstrengung zu groß ist, wenn es um das Wohl der Kinder geht. Sollen sie sagen, dass man es kaum schaffen wird, die Jugend vom Konsum verbotener Medien abzuhalten, dass die Eltern damit sowieso überfordert sind und dass es daher wünschenswert wäre, die Kinder in der Schule mit einer möglichst großen Medienkompetenz auszustatten, was aber leider daran scheitern wird, dass die Politik es im Gegensatz zu anderen Ländern viel zu lang versäumt hat, das bei der Lehrerausbildung entsprechend zu berücksichtigen? Wie reizvoll ist dagegen so ein Verbot. Billig ist es auch. Die Bundesprüfstelle, sicher ohnehin unterfinanziert, kann nie so viel kosten wie die dringend nötige Sanierung unserer Bildungseinrichtungen. Verbote sind allgemein beliebt. Wer in der Talkshow eines fordert, dem ist der Beifall des Studiopublikums gewiss.

Der Urwald brennt

Als alternatives Sofortprogramm würde ich vorschlagen, die wirklich sehr freundlichen Mitarbeiter der Bundesprüfstelle zu Medienpädagogen umzuschulen, die dann dringend benötigte Fortbildungskurse für Lehrer anbieten könnten. Polemisieren will ich gegen die BPjM schon deshalb nicht, weil ich das im Grunde unsportlich finde. Es ist viel zu leicht. Die ersten "Schriften", die von der Bundesprüfstelle am 9. Juli 1954 indiziert wurden, waren die Comics Tarzan - Der Riese aus grauer Vorzeit und Tarzan - Der Urwald brennt. Das Gremium war der Ansicht, sie würden auf Jugendliche "nervenaufpeitschend und verrohend" wirken und sie "in eine unwirkliche Lügenwelt versetzen" (bei Meinungsumfragen hätte es für das Tarzan-Verbot bestimmt eine genauso große Mehrheit gegeben wie jetzt für ein Verbot der "Killerspiele", weshalb es gut ist, dass wir, die Erwachsenen von heute, so viel klüger sind als unsere Eltern und Großeltern und dass wir uns endlich auf neueste wissenschaftliche Studien berufen können). Man sollte das der jetzigen BPjM so wenig vorhalten wie den ziemlich gruseligen Text, mit dem das Tarzan-Verbot begründet wurde und in dem - keine zehn Jahre nach Ende des Dritten Reichs - davon die Rede ist, dass solche Darstellungen "das Ergebnis einer entarteten Phantasie" seien. Bedenkenswert finde ich etwas anderes.

Der kluge Erich Kästner, von den Nazis mit Schreibverbot belegt und Autor vielgerühmter Kinderbücher (Das fliegende Klassenzimmer, Pünktchen und Anton), wurde 1950, vor Einführung des "Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften", vom Bundestag als Sachverständiger gehört. Seine Meinung:

Wenn's schon nicht gelingt, die tatsächlichen Probleme zu lösen - die Arbeitslosigkeit, die Flüchtlingsfrage, die Steuerreform -, dann löst man geschwind ein Scheinproblem. Hokuspokus - endlich ein Gesetz! Endlich ist die Jugend gerettet! Endlich können sich die armen Kleinen am Kiosk keine Aktphotos mehr kaufen und bringen das Geld zur Sparkasse.

Wer also klatscht, wenn ein Politiker die nächste Verschärfung der Gesetze fordert, um einen Amoklauf wie den von Winnenden zu verhindern, sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er das Opfer eines Ablenkungsmanövers werden könnte. Man kann dann immer noch für solche Gesetze sein, sollte aber wissen, dass unsere Schulen dadurch um nichts besser werden und die Gesetze bisher zu einer Einschränkung der Freiheit von Erwachsenen führten, was mitunter grotesk anmutet und den Kindern wenig nützt. Auch aus Kindern werden Erwachsene (sogar die 2,4 Millionen, die nach Angaben der Arbeiterwohlfahrt derzeit in Armut leben). Wenn sie dann eine weniger freie und demokratische Gesellschaft vorfinden als die ihrer Eltern, weil die Eltern sie vor Schmutz und Schund bewahren wollten, ist etwas schiefgegangen.

Zum Schluss eine (vor)letzte Lektüreempfehlung und ein Zitat, über das man immer wieder einmal nachdenken sollte, um wachsam zu bleiben. Es stammt aus dem Roman Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen von Irmgard Keun. Im Dritten Reich wurden Irmgard Keuns Bücher verbrannt (Lesetipp für Herrn Strobl von der CDU: Jürgen Serkes Die verbrannten Dichter). Ferdinand erschien 1950. Haben wollte den Roman damals keiner. Das lag daran, dass Irmgard Keun als Nestbeschmutzerin galt und die Mehrheit der Ansicht war, dass die Nazis sicher irgendwie recht gehabt hatten, wenn sie bestimmte Bücher verbrannt hatten und andere nicht. Hier also das Zitat zum Nachdenken:

[...] Nachtigallen hin oder her, ich möchte keine Geschichte von Nachtigallen schreiben, obwohl die Tagespresse es schätzt, wenn Autoren über Dinge schreiben, von denen sie nichts verstehen. Tiefe Unkenntnis wirkt auf weite Kreise der Leserschaft überzeugend, auf weitere Kreise liebenswert. [...] Ich nehme auch an, dass Nachtigallenthemen kontrollrätlich erlaubt sind und von der Mehrzahl unserer augenblicklichen deutschen Diktaturen nicht beanstandet würden. Aus Gründen der Sittlichkeit wird heute vieles beanstandet. Diktaturen sind immer sehr streng in Bezug auf das, was sie unter sittlich und Volksmoral verstehen. Die ehemalige deutsche Diktatur hat sich, nach Art niederer Lebewesen, durch Spaltung fortgepflanzt und heißt jetzt Demokratie.