Netzsperren

Heuchelei auf Kosten missbrauchter Kinder

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Es war abzusehen, dass die vor kurzem veröffentlichten beschwichtigenden Meldungen über die Netzsperren nur Täuschungsmanöver sein würden. Der nunmehr veröffentlichte Entwurf für die Gesetzesinitiative zur Sperrung kinderpornographischer Webseiten enthält nicht nur all das, was vor kurzem noch dementiert wurde, er offenbart auch eine fast schon menschenverachtende Heuchelei der Sperrungsbefürworter.

Es verwundert nicht, dass der Entwurf, der die momentan noch "freiwillige" Sperrung der Seiten in eine Gesetzesform gießen soll, sich erheblich von dem früheren Entwurf unterscheidet. Wurde vor kurzem noch bestätigt, dass die Zugriffe auf die Stoppseite, die statt der kinderpornographischen Seite zu sehen sein wird, nicht mitgeloggt werden, so soll nun das Gegenteil der Fall sein. Die Zugangsanbieter sollen die Stoppseiten selbst hosten, Zugriffe protokollieren und auf Anfrage den Strafverfolgungsbehörden übermitteln. Eine praktische Methode, um die Statistik in die Höhe zu treiben.

Zugriffe auf die Stoppseite = Interessierte

Die Idee, die Zugriffe zu loggen, ist, im Zusammenhang mit der Tatsache, dass nun auch Webseiten, die lediglich auf die gesperrten Seiten verweisen, ebenfalls gesperrt werden sollen, doppelt perfide. Zum einen wird so die Statistik zu Gunsten der Sperrungsbefürworter künstlich erhöht, wenn jeder, der sich selbst ein Bild machen will, ob die Seiten zu Recht gesperrt sind, als an Kinderpornographie Interessierter gezählt wird. Zum anderen würden so auch die Zugriffe auf Seiten wie wikileaks etc. in die Statistik mit einfließen, was die Aussagekraft der Zahlen ad absurdum führen würde.

Da bisher nicht zu merken war, dass den Befürwortern der Netzsperren an aussagekräftigen Zahlen gelegen ist, wird somit eine Art Endlosspirale der Schockzahlen begonnen. Je mehr Seiten z.B. die Sperrlisten veröffentlichen, desto mehr Seiten werden in die Sperrlisten aufgenommen. Je mehr Nutzer auf die ursprünglich gesperrten oder die berichtenden Seiten Zugriff nehmen wollen, desto höher werden die Zahlen, die dann für neue Einschränkungen von Kommunikations- und Rezipientenfreiheit genutzt werden können. Somit wird jeder Webseitenzugriff für jene, die sich gegen Sperrungen aussprechen, zum Vabanquespiel. Nicht nur riskieren sie durch Zugriffe auf Seiten wie wikileaks und Co. in die Mühlen der Strafverfolgung zu geraten, sie dienen auch gleichzeitig als Grund dafür, dass die Zahlen, mit denen die Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen samt Mitstreitern förmlich um sich wirft, weiter in die Höhe schnellen. Nicht einmal das bloße Hinnehmen der geheim gehaltenen Sperrlisten würde aus dieser Falle heraushelfen, da ja jede Seite, die sich mit der Thematik befasst, unter Umständen auch in die Sperrliste gerät.

Groteske Ausnahmen

Endgültig offenbart sich dem die Heuchelei hinter den Netzsperren, der den Ausnahmenkatalog durchliest. In diesem ist gelistet, wer von der Verpflichtung, kinderpornographische Seiten zu sperren, ausgenommen werden soll. Hier finden sich neben Bibliotheken, Behörden, Schulen, Universitäten und allen staatlichen Einrichtungen auch Provider, deren Kundenstamm nicht mehr als 10.000 Nutzer zählt.

Um diesen erneuten Schlag ins Gesicht der missbrauchten Kinder zu verstehen, lohnt es, sich eine Aussage der Bundesfamilienministerin noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Es wird immer mehr über kommerzielle Websites verbreitet. Da werden Millionenbeträge verdient. Pornographische Videos, auf denen Kinder gequält und gefoltert werden, werden allein in Deutschland bis zu 50.000 Mal im Monat heruntergeladen. Die Bandbreite reicht vom Pädokriminellen bis zum User, der wahllos sucht und ignoriert, dass er sich gerade die Einstiegsdroge besorgt.

Interview mit dem Hamburger Abendblatt

Abgesehen von den diversen unbelegten Äußerungen ist der letzte Teilsatz hier ausschlaggebend für die Bewertung des Ausnahmekataloges. Der "User, der wahllos sucht und ignoriert, dass er sich gerade die Einstiegsdroge besorgt", soll ja durch die Netzsperren von dieser Einstiegsdroge abgehalten werden. Frau von der Leyen suggeriert also zum einen, dass bei vielen Menschen ein latentes Interesse an solcher Kinderpornographie vorhanden ist, was durch den zufälligen Zugriff auf derartige Seiten geweckt wird. Durch die Bilder angefixt, so der Vergleich mit der Einstiegsdroge zutreffen sollte, würde der User somit zum ständigen Konsumenten, dessen Droge immer stärker werden muss.

Wenn die Bundesfamilienministerin jedoch tatsächlich von dieser kruden Theorie, die bisher ohne jeden wissenschaftlichen Beleg auskommt, überzeugt ist, so stellt sich die Frage, wieso diese User nun nicht vor der Einstiegsdroge geschützt werden sollen, wenn sie bei einem Kleinprovider unter Vertrag sind. Dies wäre zu vergleichen mit einem Drogenverbot, das nur in größeren Städten durchgesetzt wird, während für kleinere Städte Ausnahmen geschaffen werden.

Auch die Ausnahmen für alle staatlichen Einrichtungen, Schulen etc. sind erstaunlich. Der Fall des 62jährigen Aushilfslehrers in Bayern ist nur exemplarisch zu sehen, doch warum sollte es so sein, dass alle Mitarbeiter von staatlichen Einrichtungen, alle Lehrer, Professoren, Schüler, Studenten und Besucher von Bibliotheken automatisch als "an Kinderpornographie uninteressiert" gelten sollen? Viele Bibliotheken bieten öffentliche Netzzugänge an, da hier ja die Listen nicht eingepflegt werden (und nicht geblockt wird), wäre es somit also für den Interessierten möglich, sich samt der veröffentlichten Sperrungsliste dann an einen Besucherrechner zu setzen, sich hier ein paar der Seiten anzusehen, die Bilder zu kopieren und mit dem Material nach Hause zu gehen. Auch könnte der "unbedarfte User" so versehentlich auf eine Seite geraten und somit der Einstiegsdroge ausgesetzt sein. Oder geht man hier davon aus, dass alle, die nur entfernt mit staatlichen Einrichtungen zu tun haben, quasi immun gegen die von Frau von der Leyen propagierte Versuchung sind?

Die Kinder sind der Politik egal

Noch wichtiger als diese Doppelzüngigkeit beim Thema Einstiegsdroge ist jedoch, dass auch der "Schutz der Menschenwürde", den Frau von der Leyen gerne ins Feld führt, anscheinend bei all diesen Einrichtungen sowie bei den Kleinprovidern nicht mehr wichtig ist. Wenn es also darum geht, dass missbrauchte Kinder nicht noch einmal missbraucht werden, indem ihre Bilder im Netz herumgereicht, heruntergeladen und zur Selbstbefriedigung genutzt werden, dann darf es hier keine Ausnahmen geben, dann muss auch der kleinste Provider, die kleinste Schule, zur Sperrung verpflichtet werden, um das Argument glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Wer tatsächlich Netzsperren für eine Möglichkeit hält, Kinderpornographie zu bekämpfen, der muss zumindest konsequent sein. Das Kabinett ließ verlautbaren, dass "die Vorschrift auf eine Handlungspflicht ausgerichtet ist, nicht auf einen Erfolg" und "bereits viel erreicht [sei], wenn solche Angebote nicht ohne Weiteres zugänglich sind". Doch bei all den Ausnahmen stellt sich die Frage, inwiefern selbst dies erreicht wird. Es ist klar, dass die Ausnahmen letztlich verhindern sollen, dass zu viele das Gesetz anfechten - gerade Kleinprovider würden ja durch die Verpflichtung über Gebühr belastet werden, da sie neues Personal einstellen und neues Equipment anschaffen müssten. Die ohnehin oft nur karg ausgestatteten und personell unterbesetzten Bibliotheken, Schulen und Universitäten wären ebenso zu stark belastet und es wäre mit harscher Kritik und ggf. Verfassungsbeschwerden zu rechnen. Hier hat man durch den Ausnahmekatalog vorgesorgt.

Dieses Verhalten zeigt aber auch, dass es hier nicht um Kinderschutz, um den Schutz der Menschenwürde oder um missbrauchte Kinder gehen kann, denn in diesem Fall dürften solche taktischen Überlegungen keine Rolle spielen. Wenn Frau von der Leyen und Co. an allen Fronten kämpfen, wie sie nicht müde wird zu erzählen, dann ist jede Ausnahme eine Ausnahme zu viel, die sowohl die Kinder und deren Menschenwürde, als auch den unbedarften User in Gefahr bringt. Indem es diese Ausnahmen geben soll, wird deutlich, worum es geht: um ein für den Wahlkampf geeignetes Thema, mit dem gepunktet werden soll, ohne dass tatsächlich für die Kinder etwas getan wird.

Alle anderen Möglichkeiten, (nicht nur) missbrauchte Kinder zu schützen, sind kosten- und arbeitsintensiv, sie sind Langzeitprogramme, für die immer weniger Geld vorhanden ist (wie an den Einsparungen im Bereich Kinder-/Jugendhilfe zu erkennen ist). Das Thema "Kampf gegen Kinderpornographie" wäre ebenso komplex, würde es abseits des Themas "Netzsperren" behandelt werden. Die Gründe für Gewalt (nicht nur sexueller Art) gegen Kinder müssten ebenso beleuchtet werden wie jene für Kinder- und Jugendprostitution, was auch zum Thema Kinderarmut führen würde, zur Frage, wie der Reichtum gerecht verteilt werden kann, um auch Kindern in ärmeren Ländern die Möglichkeiten zu geben, die ihnen so verwehrt bleiben.

Die Frage, inwiefern die Oberflächlichkeit sowie das Statussymboldenken bei Kindern und Jugendlichen in den westlichen Ländern zu Kinder- und Jugendprostitution führen kann, stünde ebenso im Raum wie die, wie z.B. durch Präventionsprogramme Pädophile lernen könnten, mit ihrer Neigung umzugehen, ohne dass es zu einer Verletzung der Menschenwürde der Kinder kommen kann. Aber all dies ist sehr komplex und eignet sich nicht als Wahlkampfthema - der "Kampf gegen Kinderpornogaphie", der ohne Fach- und Hintergrundwissen, ohne Recherche und Argumente auskommt, eignet sich da besser.

Konnte man bisher bei Frau von der Leyen noch eventuell von Naivität und zu starker emotionaler Betroffenheit ausgehen, so ist die Bundesfamilienministerin, die ihre siebenfache Mutterschaft wie einen Heiligenschein mit sich herumträgt, durch den Ausnahmekatalog letztendlich als Heuchlerin und Schaumschlägerin entlarvt. Sie hat nicht wirklich ein Interesse daran, missbrauchten Kindern zu helfen, sondern ist auf den Zug "Kinderpornographie" aufgesprungen, weil sie so mit einfachen Parolen und markigen Sprüchen auf sich aufmerksam machen kann, ohne tatsächlich etwas vorzuweisen. Die Provider, so sagte Frau von der Leyen, um diese unter Druck zu setzen, müssten sich entscheiden, ob sie "weiterhin uneingeschränkt die Vergewaltigung von Kindern zeigen lassen" wollen. Nun, die Politik hat entschieden: bei staatlichen Einrichtungen und bei Providern mit bis zu 10.000 Kunden lautet die Antwort: "Uns doch egal".

Die Worte eines Opfers von sexueller Gewalt sprechen Bände:

Ich bin durch die aktuelle Diskussion aus meinem Trott gerissen und wieder damit konfrontiert worden. Das ist Ärger und der treibt mich an. Die Diskussion, wie sie gerade läuft, ist nicht hilfreich. Die ist schlimm für die Opfer, ihnen wird damit noch ein zweites Mal wehgetan. Ich fühle mich wieder zum Opfer gemacht. Ich fühle mich in der Debatte für ein politisches Ziel missbraucht.

Christian Bahls vom Verein Mogis (Missbrauchsopfer gegen Internetsperren) im Interview mit dem Tagesspiegel