Mit Günter Jauch in den Gottesstaat

"Religion ist nicht Privatsache": In Berlin wollen Konservative den Religionsunterricht per Volksentscheid aufwerten

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Berlin war Vorreiter. Als die Hauptstadt den verbindlichen Ethikunterricht für alle einführte, war das die längst überfällige Angleichung an die im aufgeklärten Westen üblichen Modelle, der Abschied vom Deutschen Sonderweg der engen Verknüpfung von Staat und Kirche. Es war auch der erste Schritt in ein wirklich modernes, republikanisch-laizistisches Verständnis von Religion. Dass nämlich Religion Privatsache ist, und der Staat und die öffentlichen Schulen und Institutionen zu strikter Neutralität in religiösen Fragen verpflichtet sind, egal ob einer an die Wiederauferstehung der Toten glaubt oder an die Sinnlosigkeit des Lebens. Schon die Uno-Kinderrechts-Charta garantiert auch Kindern Religionsfreiheit, das heißt das Recht, ihren Glauben selbst zu bestimmen und den Schutz vor dem Einfluss missionierender Glaubensgemeinschaften. Genau das will jetzt die vom CDU-Bundestagsabgeordneten und Charlottenburger Rechtsanwalt Christoph Lehmann geleitete, von den Mehrheiten der beiden christlichen Kirchen unterstützte Initiative "Pro Reli" (siehe Spiritual-Spezial - einmal voll tanken, bitte!) ändern, und Religion wieder als Wahlpflichtfach an Berliner Schulen einführen. Heute wird in einem Volksentscheid darüber entschieden. Mit dem Argument der Freiheit wird die Einschränkung der Freiheit zum Religionsunterricht kaschiert. Soll jetzt in Berlin der erste (Rück-)Schritt in den Gottesstaat gelegt werden?

Freiwillig war Religionsunterricht schon immer. Das heißt, dass im Grundgesetz die Bekenntnisfreiheit festgelegt ist, und daher jeder Schüler mit einem Schreiben des Erziehungsberechtigten an öffentlichen Schulen den Religionsunterricht abwählen kann. Im Unterschied zu anderen Bundesländern - Ausnahme Bremen und Brandenburg - lässt sich in Berlin Religion auf freiwilliger Basis als Zusatzfach belegen, aber das Fach "Ethik" ist ein Pflichtfach. Genau gegen dieses Fach zielt in Wahrheit die Initiative "Pro Reli". De facto läuft ihr Vorstoß für die Einführung einer Wahlpflicht zwischen "Ethik" und "Religion" auf die Abschaffung des Pflichtfachs Ethik hinaus.

"Pro Reli" - das ist Großbürger, Adel und neue Aufsteiger, CDU, FDP und schwarzgrünes Milieu

Es ist schon eine gewagte Kombination: Günter Jauch, Katharina (Tita) von Hardenberg und Arne Friedrich. Die TV-Moderatorin ("Polylux") aus gutem, eingesessenen Westberliner Hause für die CDU-Klientel in Charlottenburg, Wilmersdorf und im Grunewald, der TV-Moderator und Lieblingsschwiegersohn älterer Mütter für die schwarzgrünen Bildungsbürger am Prenzlauer Berg mit ihrem schwäbisch-bayrischen Migrationshintergrund und der wortkarge Hertha-Kicker fürs Volk.

Gewagt ist allein schon das Engagement von Günter Jauch. Denn der Fernsehmoderator ("Wer wird Millionär?") und Multimillionär ist noch nicht mal Bürger der Hauptstadt, sondern Potsdamer. Seine Kinder wird die Regelung also nicht betreffen, für sie bleibt in Brandenburg Religion ein Wahlfach, zu dessen völlig freiwilliger Wahl sie der Papa mit seiner festen Wertehaltung vermutlich gewiss hinorientieren wird. Vor allem familiengeschichtlich hat er allerdings auch eine ganz eigene Logik und es ist recht interessant, wie sehr hier wieder einmal die Herkunft offenbar langfristige Wertüberzeugungen prägt, und die pure Schizophrenie niemanden - weder Jauch, noch die Öffentlichkeit - irritiert: Das Faktum nämlich, als Privatfernsehmoderator wöchentlich am Untergang des Abendlandes mitzuarbeiten, was offenbar mit dem Bekenntnis zu konservativen Erziehungsprinzipien und Religiosität gut vereinbar ist. Jauch selbst war Ministrant, und besuchte eine katholische Schule, sein Vater hatte schon als Jugendlicher eine enge Nähe zur Katholischen Kirche und arbeitete später für die Katholische Nachrichtenagentur KNA, sein Großvater war zunächst ein katholischer Freikorpsführer, im Zweiten Weltkrieg leitete er ein Gefangenenlager, und hatte zugleich Kontakte zum Katholischen Widerstand.

Gleichzeitig ist die Kombination auch sprechend: Großbürger, Adel und neue Aufsteiger - das ist genau das Klientel, aus dem sich die Initiative speist. "Pro Reli" hat seine Bastionen in den Vierteln der Reichen und der Kleinbürger weit im Westen der Stadt - und am Prenzlauer Berg, wo das Neobürgertum seinen Kindern neben Biokost und ökologischem Besserverdienen auch ein wenig "Neue Werte" predigen möchte. Die Mehrheiten für Einführung des Volksentscheids vor einigen Monaten entsprachen zudem wie bereits im Fall der Tempelhof-Schließung genau dem - insgesamt eher mäßigen - Wählerreservoir der CDU und der FDP.

"Religion ist nicht Privatsache"

Unterstützt wird "Pro Reli" auch von den Führungskadern der Kirchen. Zu den Erstunterzeichnern gehören der konservative EKD-Ratspräsident Bischof Wolfgang Huber und der katholische Kardinal Georg Sterzinsky. Die Kampagne wird jetzt wesentlich mit kirchlichen Geldern finanziert. Dabei ist Berlin gegenüber Bayern oder dem Rheinland Diaspora: Nicht einmal jeder Dritte gehört der Kirche an. Rund 9 Prozent sind katholisch, knapp 20 Prozent evangelisch.

Sehr deutlich enthüllte den polemischen Stil und die tatsächlichen Absichten des Volksbegehrens ein Text des an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin lehrenden Theologen Professor Dr. Rolf Schieder (siehe auch: "Religionsunterricht indoktriniert nicht") in der (Druckausgabe der) FAZ.

Schieder verwies bereits im ersten Satz darauf, dass die Vorschrift in in Berlin "auf das Jahr 1945 zurückgeht", und durch "Machthaber von sowjetischen Gnaden" initiiert worden sei. Nicht nur unterschlägt Schieder dabei, dass im britisch besetzten Bremen ähnliche Vorschriften erlassen worden waren, dass alle drei westlichen Besatzungsmächte 1945 auf eine stärkere Trennung von Kirche und Staat drängten, es ist auch für Berlin falsch, denn in Westberlin herrschte ähnliches Recht. Doch dann kommt der erzkonservative Schieder zu seinem Punkt: "Religion ist nicht Privatsache". Titel und wesentliche Argumentationslinien des Volksbegehrens sind auch über einzelne Stimmen wie die von Schieder hinaus hohle Phrasen, die nur die tatsächlichen Absichten der Initiative kaschieren: Eine Kampagne gegen den Ethikunterricht zu führen, den Einfluss der Kirche, die ihren Einfluss schwinden sieht, zu stärken.

Wenn "Pro Reli" und ihre prominenten Unterstützer mit "Freiheit" argumentieren, zeigen sie nur, dass sie nicht verstanden haben, dass Freiheit immer zwei Seiten hat: Freiheit zu etwas, und Freiheit von etwas. Zudem wird absichtlich ignoriert, dass Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist. Freiheit wäre das gleichberechtigte Nebeneinander aller Religionen, aber auch das Nebeneinander von Religion und Agnostik und Atheismus. Freiheit wäre die Toleranz der Entscheidung zur Religion und die Toleranz der Entscheidung gegen jede Religion. Genau die soll jetzt aus den Angeln gehoben werden, indem Schülern und Schülerinnen mittels einer staatlich sanktionierten Schulpflicht die freiwillige Entscheidung zum Religionsunterricht genommen werden soll. Es soll zur Aufgabe des Staates werden, was die Religionsgemeinschaften allein nicht schaffen: Den Religionslehrern die Klassen zu füllen.

"Kampagnenfähigkeit" statt Toleranz

Ganz offenkundig sehen das zumindest in Berlin auch viele Christen so. Längst hat sich eine Initiative "Christen pro Ethik" gegründet, die ihre Kirchen in einem Offenen Brief kritisieren, und der Aktion "Pro Reli" eine "Engführung der gesellschaftlich notwendigen Diskussion" vorwerfen. Die Protestanten unter ihnen werfen der "Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz" (EKBO) vor, die Pluralität der Meinungen in der evangelischen Gesamtkirche zu ignorieren, Meinungsvielfalt zu beschneiden und die christliche Toleranz dem Ziel der "Kampagnenfähigkeit" und der Außendarstellung unterzuordnen. Damit erleide die innerkirchliche Demokratie Schaden. Weiter heißt es in dem Papier:

Zu den Grundanliegen der Bibel gehört es, Trennungen zu überwinden, statt Gegensätze und Spaltungen zu vertiefen. Das Anliegen des für alle Jugendlichen gemeinsamen Ethikunterrichtes, etwas zur Integration beizutragen, sollte deshalb auch von den Kirchen mit allen ihren besonderen Möglichkeiten unterstützt und gefördert werden. Die Mitglieder der Initiative "Christen pro Ethik" sind überzeugte Glieder ihrer Kirche. Sie teilen die Glaubensvorstellungen, die allen Christen gemeinsam sind, halten sie für wichtig und möchten sie an andere, nicht zuletzt an Jugendliche, Schülerinnen und Schüler weitergeben. Zum Hineinwachsen in den Glauben gehört nach übereinstimmender Meinung aller Christen die Freiwilligkeit. Deswegen halten wir die derzeitige Regelung für gut - Ethik gemeinsam, Religion freiwillig.

Damit die derzeitige Regelung erhalten bleibt und weiter verbessert werden kann, möchten die "Christen pro Ethik", dass der Volksentscheid am 26.4. zum Scheitern gebracht wird. Alle, denen am Fortbestehen der derzeitigen Regelung gelegen ist, sollten am 26.4. am Volksentscheid teilnehmen und mit "NEIN" stimmen.

Offenkundig sehen das viele Kirchenmitglieder ähnlich. Denn parallel zur "Pro Reli"-Debatte wurde in Berlin ein signifikanter Anstieg der Kirchenaustritte von evangelischen und katholischen Christen beobachtet. Der evangelischen Landeskirche gingen Ende 2008 rund 27 Prozent mehr Mitglieder abhanden als im Vorjahr. Das katholische Erzbistum verliert seit Jahresbeginn sprunghaft Mitglieder: 77 Prozent mehr als Vergleichszeitraum 2008. Die Austrittswelle betrifft vor allem den viel stärker kirchlich engagierten Westen.

"Warum eigentlich liegt die Beweislast bei den Säkularen?"

Die klare Trennung von Staat und Religionsgemeinschaft ist ein hohes Gut. In Frankreich wäre eine solche Volksabstimmung verfassungswidrig. In Berlin teilt sie die Stadt auch in anderer Hinsicht. Die Springer-Presse kämpft, wie von vielen erwartet auf der Seite von "Pro Reli", dies aber weniger aus inhaltlichen Gründen - dazu ist man zu nahe "bei den Leuten", als um - wie schon beim Tempelhof-Volksentscheid - dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und seiner Rot-Roten Koalition eins auszuwischen. Der Regierende Bürgermeister kritisierte bereits das rabiate Vorgehen der "Bild"-Redaktion: "Die arbeiten immer mit der Methode: Entweder du kooperierst, oder wir vernichten dich", sagte Wowereit und bezog sich auf die "massive Kampagne" des Springer-Verlags zu den Volksentscheiden. Bemerkenswerter ist das Engagement des rechtsliberalen "Tagesspiegel" der tendenziell Pro-Ethik kommentiert.

So gibt er Raum für Gastbeiträge wie den der Publizistin Hilal Sezgin, die schrieb: "Keine Angst vor Ethik". Sezgin erwähnte auch "die an Täuschung grenzende Kampagnenführung von Pro Reli: Keineswegs will die Initiative den Religionsunterricht für Kinder aller Religionen erstreiten, der ist in Berlin nämlich längst erlaubt. Pro Reli ist vielmehr kontra Ethik - die Kinder, die in den Religionsunterricht geschickt werden, sollen nicht auch Ethik besuchen müssen. 'Zwangsethik' nennt Pro Reli das momentane Pflichtfach. Was insofern passt, als es auch Zwangssport, Zwangsdeutsch und Zwangsmathe gibt. Ja, in Deutschland herrscht allgemeine Schulpflicht; unabhängig vom Bildungshintergrund der Eltern sollen die Kinder lernen, was sie später zum Leben brauchen. Wieso begehrt man jetzt dagegen auf?"

Und weiter:

Wenn ein Kind aber zu fragen beginnt, warum es so oder anders handeln soll, dann ist nicht einzusehen, dass säkulare Argumente religiösen unterlegen sein sollten. Warum eigentlich liegt die Beweislast bei den Säkularen? Warum müssen die Religiösen nicht beweisen, dass ihre religiös begründete Ethik nach wie vor taugt? … Nebenbei bemerkt: Es ist ziemlich unhöflich, den Eindruck zu vermitteln, agnostische Bürger verfügten nicht über genügend jener "Werte", die man zu einem Leben in Anstand braucht.

Auch Alfred Grosser wurde Platz gegeben. Er erinnerte daran, dass in Frankreich Philosophie Pflichtfach für Abiturienten ist, und schrieb:

Der Ethikunterricht mag schlecht umgesetzt werden. Aber dieser gemeinsame Blick wird durch ihn doch leichter allen Schülern zusammen verliehen - anders, als wenn sich jede Religion zu dieser Auffassung durchringen müsste.

Überhaupt müsste die Abstimmung am Sonntag der FDP-Klientel am meisten Bauschmerzen bereiten. Einerseits ist man gegen Rot-Rot, und möchte gern am Rockzipfel der Union wieder in Berlin mitregieren, andererseits hatte man in der FDP mit den Kirchen und Gesinnungspolitik noch nie viel am Hut.

Vorbild Hitler statt Frankreich

Die besondere deutsche Nähe zwischen Kirche und Staat hat man, wie so manches andere, wieder einmal Reichskanzler Otto von Bismarck und dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler zu verdanken. Erster führte zwischen 1871 und 1878 den letztlich erfolglosen Kulturkampf vor allem gegen die Katholische Kirche, in dem er Zivilehe und vor allem die staatliche Schulaufsicht durchsetzen wollte - freilich mit falschen, weil überharten Mitteln, die nur den Widerstand des Katholizismus und konservativer Protestanten anheizten und das religiöse Lager nicht wie vorgesehen spalteten, sondern festigten. Hitler wiederum schloß schon im Juli 1933 das berüchtigte Reichskonkordat mit dem Heiligen Stuhl unter Papst Pius XI. (Verhandlungsführer war seinerzeit der Apostolische Nuntius im Deutschen Reich, Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII.), mit dem er sich die Stillhaltepolitik des Vatikans und der überwiegenden deutschen Katholiken erkaufte und das de facto die Trennung von Staat und Kirche unterläuft.

Besonders in der Frage des Schulunterrichts unterscheidet sich die Regelung in den 13 von 16 Bundesländern mit Wahlpflichtfach Religion stark von der Regelung in sämtlichen anderen Ländern des demokratischen Westens: In Frankreich wurde die offizielle Trennung von Staat und Kirche zwar erst 1905 besiegelt, doch bereits seit 1882 ist der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen verboten. In Italien war der Religionsunterricht nach der Vereinigung des Landes 1871 nur noch als freiwilliges Fach geduldet. 1929 machte ihn der faschistische Duce Benito Mussolini zur Pflicht. Nach der Befreiung des Landes vom Faschismus ab 1943 war es damit wieder vorbei. In Großbritannien hat die anglikanische Staatskirche bereits seit dem 18. Jahrhundert keinen Einfluss mehr auf die Politik, allerdings gab es bis 1988 an den Schulen den christlichen Religionsunterricht als Pflichtfach. Das ist vorbei und Religionsunterricht durch ein Wahlfach "Religiöse, philosophische und moralische Erziehung" ersetzt, in dessen Curriculum auch Atheismus, Agnostizismus und Humanismus offizielle Bestandteile sind. Auch in Skandinavien ist der konfessionelle Unterricht längst durch das weltanschaulich neutrale Fach "Religion, Ethik, Lebenskunde" ersetzt worden. Und in den USA ist die religiöse Erziehung schon seit 1791 aus den Schulen verbannt.

Auch in der Bundesrepublik muss man der Tatsache Rechnung tragen, dass immer mehr Bürger inzwischen keiner Religionsgemeinschaft mehr angehörten. Dafür brauchen Schüler verstärkt Fähigkeiten, um ethische Dilemmata zu diskutieren. Anstelle der Verkündigung oder Information über einen bestimmten Glauben sollte daher besser die Fähigkeit zur philosophischen Auseinandersetzung und Argumentation geschult werden.

Dazu gehört als erstes zu verstehen, dass Freiheit nicht das gleiche ist, wie der Zwang sich zwischen Ethik und Religion entscheiden zu müssen. Religion ist Privatsache, Ethik unverzichtbar. Wer auf Religion verzichten will, aber auch wer Ethik und Religion haben möchte, muss in Berlin am Sonntag mit Nein stimmen.