Lithium im Trinkwasser senkt die Suizidrate

Das Ergebnis einer Studie von japanischen Wissenschaftlern führt zur Diskussion, ob man die Menschen durch Hinzufügung von Medikamenten zu ihrer körperlichen oder geistigen Gesundheit zwingen darf

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In Japan ist die Selbstmordrate besonders hoch. Etwa 30.000 Japaner beenden seit 1998, als es einen Sprung nach oben gegeben hatte, jedes Jahr ihr Leben. 2006 waren es nach der WHO 29.921 Menschen, zwei Drittel Männer, die nicht mehr weiterleben wollten: etwa 100 Menschen am Tag. Das sind 23,7 auf 100.000 Menschen (bei den Männern sogar 34,8). 2007 hatten sich mehr als 33.000 Menschen das Leben genommen, 2008 war ein leichter Rückfall auf 32.249 zu verzeichnen. Im Januar 2009 haben sich allerdings mit 2.645 Menschen 15 Prozent mehr als im selben Monat 2008 umgebracht – möglicherweise wegen der Rezession. Man spricht von einer Selbstmordepidemie in Japan.

Litauen übertrifft Japan noch mit 38,6 Selbstmörder pro 100.000 Einwohner. Auch in Russland ist die Selbstmordrate hoch (32,2) sehr hoch. In Deutschland, das eine mittlere Stellung einnimmt, nehmen sich 13 von 100.000 Menschen das Leben, Tendenz sinkend. Aber auch hier sind es zahlenmäßig sehr viel mehr Männer als Frauen, die Schluss machen. Während in Deutschland die Altersgruppe über 65 und vor allem über 75 Jahre bei den Menschen überwiegt, die Selbstmord begehen, sind es bei den Russen die 45-54-Jährigen und die über 75-Jährigen, bei den Japanern ist die Altersgruppe der 55-64-Jährigen am gefährdesten, also wenn das Berufsleben zu Ende und die Verrentung beginnt oder in Aussicht steht.

Es sind also nicht die Jugendlichen, die sich über das Internet zum Selbstmord verabreden, die den Großteil der Lebensmüden bilden. Das aber hatte für einige Jahre für Aufregung gesorgt und dazu geführt, dass das Internet schärfer kontrolliert wird (Verabredung zum Selbstmord im Internet). Eine neue Methode scheint die Verwendung des tödlichen Schwefelwasserstoffs zu sein, der sich aus Haushaltsprodukten wie WC-Reinigern und Badesalzen hergestellen lässt. Das aber kann auch zur Gefährdung von Nachbarn und Rettungspersonal führen.

Kein Wunder jedenfalls, dass japanische Wissenschaftler einen Vorschlag zur Bekämpfung der Epidemie gemacht haben, der möglicherweise wirksam sein könnte, aber auf jeden Fall die Türe zu einer neuen Art der Massenbeeinflussung öffnen würde, wie sie bislang nur von Science-Fiction-Autoren ausgedacht wurde, am beeindruckendsten wahrscheinlich von Stanislaw Lem im "Futurologischen Kongress".

Bekanntlich wird Lithium seit langem als Medikament zur Behandlung von schweren psychischen Störungen und vor allem von Depressionen eingesetzt. Nachgewiesen ist auch, dass die Einnahme das Selbstmordrisiko senkt. Allerdings kann eine Reihe von Nebenwirkungen auftreten, vor allem wenn die Dosierung zu hoch ist.

Japanische Psychologen und Psychiater der Universitäten Oita und Hiroshima haben nun festgestellt, wie sie in der Zeitschrift British Journal of Psychiatry berichten, dass selbst geringe Mengen von Lithium schon die Neigung zum Selbstmord verringern können.

Für ihre Studie haben sie haben sie das Trinkwasser der 18 Gemeinden der Präfektur Oita auf der Insel Kyushu auf die natürlich vorkommenden Lithium-Konzentrationen untersucht. Die unterschiedlichen Werte, die erheblich variierten und zwischen 0.7 bis zu 59 Mikrogramm pro Liter lagen, verglichen sie mit den Selbstmordraten der Gemeinden. Das Ergebnis für die Jahre 2002 bis 2006: Die Gemeinden mit den höchsten Lithium-Werten im Trinkwasser hatten die geringsten Selbstmordraten. Auch wenn die Konzentration sehr gering ist, könnte nach der Vermutung der Wissenschaftler die konstante Aufnahme eine kumulative Wirkung haben.

Interessant wäre natürlich auch gewesen, ob es weitere "Nebenwirkungen" der höheren Lithium-Aufnahme durch das Trinkwasser gibt. Das hat die Wissenschaftler aber offenbar weniger interessiert, die wohl eher an eine Anwendung ihres Forschungsergebnisses denken und indirekt vorschlagen, dass man doch dem Trinkwasser generell zur Suizidprävention ein wenig Lithium zusetzen könnte. Das könnten eben auch so geringe Dosen sein, dass es zwar langfristig einen antisuizidalen Effekt gibt, aber das Lithium sich ansonsten nicht auf die Stimmung niederschlägt.

Direkt den Vorschlag zu machen, durch die Zuführung von medizinischen Wirkstoffen im Trinkwasser zwangsweise alle Menschen in dieser Region zu beeinflussen, war den Wissenschaftlern wohl doch zu heikel. In einem Editorial in derselben Ausgabe der Zeitschrift versucht jedoch Allan Young vom Institute for Mental Health in Vancouver den Türspalt ein wenig weiter zu öffnen. Die Ergebnisse sollten weitere Forschungen anregen, schreibt er, und meint damit Massenversuche mit dem Zusatz von Lithium im Trinkwasser. Das würde zwar Debatten auslösen, aber die "möglichen Vorteile für die psychische Gesundheit könnten beträchtlich sein".

Es gab bereits heftige Diskussionen darüber, ob man dem Trinkwasser zur Kariesvorbeugung Fluor zugeben soll, was auch einen Schutz vor Osteoporose bieten könne, wie vermutet wird. In den USA, in Irland oder in der Schweiz werden die Menschen damit zu ihrem "Glück" gezwungen, angeblich mit der Folge, dass Karies zurückgegangen ist. Allerdings findet sich Fluor wie Lithium auch in unterschiedlichen Konzentrationen sowieso im Trinkwasser und anderen Lebensmitteln, zudem wird es häufig der Zahnpasta oder Salz hinzugefügt. Problematisch wird es, wenn Menschen zu viel Fluoride zu sich nehmen, aber es ist grundsätzlich umstritten, ob Menschen ohne ihr Einverständnis therapiert oder präventiv behandelt werden dürfen, selbst wenn es dabei kein Risiko geben und dies demokratisch mehrheitlich entschieden werden sollte.

Schon der Zusatz von Fluor ist medizinisch, moralisch und politisch höchst fragwürdig. Der Schritt von Fluor zu Lithium wäre ein noch größerer Sündenfall, da damit auch das Verhalten mit beeinflusst werden würde. Bald wäre man dann von der Suizidprävention bei der Stabilisierung der Gefühle oder, um Standvorteile zu erzielen und Ausgaben zu mindern, bei Medikamenten, die nicht nur Krankheiten verhindern, sondern etwa die körperliche und kognitive Leistung erhöhen. Von anderen Manipulationsmöglichkeiten "böser" Mächtiger einmal abgesehen, die dann freilich auch eine alternative Trinkwasserversorgung benötigen würden, wenn sie sich nicht selbst zwangsbehandeln möchten.