Glaube an Mythen des Bürgertums und des Kapitalismus schwindet

Für die Mehrzahl der Deutschen wird man durch Beziehungen oder soziale Herkunft reich

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Die Kluft zwischen Arm und Reich geht auseinander, jetzt verstärkt die Wirtschaftskrise die Angst der Mittelschicht, nicht nur weiter abgehängt zu werden, sondern abzustürzen (In der deutschen Mittelschicht breitet sich die Angst vor dem Absturz aus). Das Vertrauen in das kapitalistische Gesellschaftssystem schwindet, das auch deswegen attraktiv erschien, weil es eine größere Durchlässigkeit versprach und dem Bürger suggerierte, dass mit dem Einsatz der entsprechenden Leistung auch der gesellschaftliche Aufstieg winkt.

Das Versprechen war auch der Inbegriff des offenbar in den USA weiter aufrecht erhaltenen "Amerikanischen Traums", nämlich dass jeder im Prinzip vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann, wenn er sich nur genügend anstrengt. Nicht nur die USA haben sich mehr zu einer Kastengesellschaft entwickelt. Nicht mehr durch Arbeit und Handel wie im alten Bürgertum lässt sich noch aufsteigen, ein Schlupfloch bieten am ehesten noch, wie auf vielen Kanälen den Menschen eingetrichtert wird, die Karrieren in der Aufmerksamkeitsökonomie, also die Künstler, Schauspieler und anderen Figuren, die irgendwie persönliche Prominenz erwerben, was jedoch oft eher als Zufall wie im Lotto erscheint, da es meist genügend viele gibt, die über ähnliche Qualifikationen – und sei es nur die des körperlichen Aussehens - verfügen. Die "Gewinner" schreiben ihren Erfolg natürlich stets ihrer Leistung oder ihrem Können zu, während sie meist den "Verlierern" attestieren, selbst schuld zu sein und sich nicht ausreichend eingesetzt zu haben.

Die Attraktivität der zahlreichen Castingshows besteht eben darin, mit diesen noch eine soziale Durchlässigkeit vorzuspielen, die teils auch ohne Arbeit und Talent den Sprung aus der Unterschicht ins Entertainment verspricht. Das Massenspektakel, das die geilen Anwärter auf Prominenz durch sadistische Selektionsmechanismen durchlaufen müssen, zeigt auch auf, was man sich antun muss, um gegen die Anderen durchzukommen. Vermutlich glauben nur Wenige, dass bei diesen Shows alles mit rechten Dingen zugeht, also etwa dass die Zuschauer als unsichtbare Hand hinter dem Geschehen tatsächlich alle Entscheidungen der medialen Auslese fällen.

Im Gesellschaftsspiel haben die Meisten wohl den Glauben an die Mythen des Bürgertums und des Kapitalismus verloren. Das wird auch von einer Umfrage bestätigt, auf deren Ergebnisse die Hans Böckler Stiftung unlängst hingewiesen hat. Die Daten stammen aus den Sozialstaatssurveys 2005-2007, die von Wissenschaftlern des Frankfurter Instituts für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK) im Rahmen ihrer Studie über die Einstellungen zum Reichtum in Deutschland ausgewertet wurden. An eine Chancengleichheit glaubt in Deutschland nur eine Minderheit, am stärksten zweifeln daran die mittleren 80 Prozent der Gesellschaft, am ehesten glauben an die Chancengleichheit die obersten 10 Prozent. Die überwiegende Mehrheit sagt auch, dass die Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit abgenommen hat.

Wenig verwunderlich, aber doch wegen der damit verbundenen mangelnden Selbstreflexion verbunden ist, dass die obersten 10-Prozent zum überwiegenden Teil (80 Prozent!) der Meinung sind, dass sie ihren gerechten Anteil erhalten. Hier wird der status quo selbstgefällig festgeklopft, in der Mittelschicht sind aber auch noch 58 Prozent dieser Meinung und damit noch systemstabilisierend, selbst bei den unteren 10-Prozent sind es 40 Prozent. Dass die Menschen mit den hohen Einkommen insgesamt zufriedener mit dem Leben (Gesundheit, Arbeitsplatz, Sicherheit, soziale Sicherheit, Lebensstandard, politische Partizipation …) in Deutschland sind, ist auch wenig überraschend.

Deutlich ist den meisten Menschen, dass es keine wirkliche Chancengleichheit gibt und dass zudem die Gesellschaft nicht durchlässig ist, da Reichtum und Aufstieg kaum mit Leistung, Fähigkeiten und Ehrlichkeit verbunden werden, sondern vor allem mit sozialer Herkunft. Selbstverantwortliches Handeln zählt also nach Meinung der Mehrheit kaum, daher wird die Gesellschaft nicht als gerecht empfunden. An erster Stelle wird bei der Frage nach den Gründen für Reichtum in Deutschland "Beziehungen" genannt, gefolgt von "Ausgangsbedingungen". An dritter Stelle stehen "Fähigkeiten", allerdings kann man darunter vieles verstehen, dann kommen das "Wirtschaftssystem" und "Unehrlichkeit". An vorletzter Stelle steht "harte Arbeit", an letzter Glück, was auch noch von 29 Prozent genannt wurde. Wie die einzelnen Faktoren bewertet werden, hängst auch jeweils wieder von der sozialen Schicht ab.

Begabung, Fleiß und etwas Glück - wirtschaftlicher Erfolg, der dadurch zustande kommt, könne "als legitim angesehen werden", schreiben die IWAK-Forscher. Große Teile der Bevölkerung haben allerdings Zweifel, ob hohe Einkommen und Vermögen auf diese Faktoren zurückzuführen sind. Die Meinungen hängen stark von den eigenen Lebensumständen ab: Je besser jemand seine wirtschaftliche Lage und seine soziale Stellung einschätzt, desto eher neigt er dazu, den Grund für Reichtum in individuellen Eigenschaften zu sehen. In Westdeutschland ist diese Sichtweise weiter verbreitet als in den neuen Ländern.

Hans-Böckler-Stiftung