"Das erinnert an die Passgesetze der Apartheid"

Ein Flüchtling in Thüringen musste ins Gefängnis gehen, weil er mehrfach seinen Landkreis verließ. Die sogenannte Residenzpflicht beschränkt die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen - und sorgt für Polizeikontrollen aufgrund der Hautfarbe

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Weil er wiederholt gegen das Gesetz verstieß, wurde ein Flüchtling in Thüringen jetzt zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte aber nichts getan, als sich selbständig zu bewegen – und den tristen Landstrich seines Wohnheims hin und wieder ohne die Erlaubnis der Ausländerbehörde zu verlassen. Das Gesetz der Residenzpflicht sorgt dafür, dass deutsche Gerichte ständig auf Hochtouren arbeiten und eine Vielzahl von Flüchtlingen zu Straftätern erklärt werden – wenn sie zum Macdonald's in der Nähe gehen oder zum Familienbesuch in ein anderes Bundesland fahren. Politiker der Partei Die Grünen protestierten nun gegen die Auflage der Residenzpflicht. Schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert sorgt die Auflage für Segregation und Polizeikontrollen aufgrund migrantischen Aussehens in Deutschland. Manche fühlen sich an die Apartheid erinnert.

Dem Flüchtling Felix Otto aus Kamerun, der seine Gefängnisstrafe seit dem April antreten musste, droht nach Angaben der Flüchtlingsorganisation The Voice die anschließende Abschiebung. Die Organisation fordert hingegen seine sofortige Freilassung. Otto hatte nichts getan, als sich selbständig von Ort zu Ort zu bewegen – und er hat jetzt schon einen Leidensweg in Deutschland hinter sich.

Die Probleme begannen schon seit seiner Zuweisung in den thüringischen Landkreis Schleiz im Jahr 2000. Immer wieder sah er sich gezwungen, die Landkreisgrenze zu überschreiten – das ist für Flüchtlinge in der Regel genehmigungspflichtig. Sein Heim lag "in Rodarabrunn, einem typischen Lager mitten im Wald. Es gab keinen Supermarkt, keinen Laden, nur zweimal am Tag einen Bus – der von uns nur in eine Richtung genutzt werden durfte, denn für uns galt die ehemalige Grenze zwischen DDR und BRD noch immer. Nach Bayern zu fahren, wo es mit Kronach eine größere Stadt gegeben hätte, hätte als Straftat gegolten, denn dazu hätte man den Landkreis verlassen müssen."

Ständig wurde Otto sanktioniert, ständig gingen die Probleme für ihn weiter. Im Jahr 2007 wurde er im Auto eines Freundes von der Polizei angehalten und kontrolliert – aufgrund seiner Hautfarbe. Wieder war er auf einer Fahrt außerhalb des Landkreises ertappt worden. Otto berichtet auf der Homepage von "The Voice", dass er über Jahre hinweg 990 Arbeitsstunden, z. T. als Küchengehilfe, leisten musste - weil er ohne "Urlaubsschein" der Behörde alltäglichen Besorgungen nachgegangen war. Laut Ellen Könneker vom Flüchtlingsrat Thüringen ist das Usus. "Immer wieder kommt es für Flüchtlinge wegen Residenzpflichtverstößen zu vergleichsweise hohen Geld- oder Arbeitsstrafen."

Dieses Gesetz bedeute eine "absolute Schikane für die Flüchtlinge". Es würde von den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. "In Thüringen geht man da schon ziemlich restriktiv vor." Dabei stammen die Anlässe für Sanktionen immer wieder aus dem Gebiet der Bagatellen. Beispiel Sonneberg: Bei dem Ort befinde sich ein Asylbewerberheim, dessen Bewohner, besonders jüngere Leute, auch mal zum Macdonalds in wenigen hundert Metern Entfernung gegangen sind – dabei übertraten sie dann aber die Grenze zum bayrischen Landkreis Hof. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, der MigrantInnen unterliegen, sei für deutsche Staatsbürger "kaum vorstellbar", meint Könneker, und von dem Vorhandensein dieses Gesetzes gebe es keine breite Kenntnis in der deutschen Bevölkerung. Indessen bringe es eine "Riesenunsicherheit für die Flüchtlinge mit sich, indem sie beispielsweise ständig vor Polizeikontrollen Angst haben müssen, obwohl sie ja nichts verbrochen haben."

"In Europa einzigartige Form der Abschreckung"

Seit 1982 ist der fragliche Paragraph 56 im Asylverfahrensgesetz verankert, der die Residenzpflicht vorschreibt, und kommt eklatant einer anderen Gesetzgebung, nämlich dem Paragraphen 13 der Genfer Menschenrechtskonvention in die Quere, demzufolge jeder Mensch das Recht auf Freizügigkeit habe. Für Flüchtlinge soll dieses Recht also nicht gelten. Die offizielle Begründung: Asylbewerber sollten stets für die Bearbeitung ihres Verfahrens erreichbar sein. Faktisch bedeutet das unsinnige Kontrollen für Flüchtlinge, auch für abgelehnte Asylbewerber. Ob die Fahrt zu Freunden oder nur der Einkauf in einem anderen Landkreis, alles muss erst bürokratisch genehmigt werden. Oft gibt es keine Genehmigungen.

"Eine rassistische und stigmatisierende Politik" sieht Karl Kopp von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl mit der Residenzpflicht aufrechterhalten, weil den Betroffenen "elementare soziale Rechte" verweigert würden. Pro Asyl fordert die Abschaffung des Gesetzes. Mehr zivilgesellschaftlicher Protest könnte eine Weichenstellung dafür geben.

Die Flüchtlinge kommen nach Deutschland mit Hoffnungen und einer großen Bereitschaft, etwas Positives in die Gesellschaft einzubringen, aber dann werden sie per Gesetz daran gehindert, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Viele zerbrechen daran. In Europa ist diese Form der Abschreckung – über Jahre hinweg die Bewegungsfreiheit im Asylland zu verweigern- einzigartig. Zwar werden auch in anderen Ländern den Asylsuchenden Wohnorte zugewiesen, aber Sanktionen, um sie am Verlassen ihres Aufenthaltsortes zu hindern, die gibt es nur in Deutschland.

Karl Kopp

Und es war Deutschland, das im Jahr 2003 die Residenzpflicht sogar als "Kann-Bestimmung" in einer EU-Asylrichtlinie durchsetzte.

In der Initiative "Togo Action Plus" protestieren Migranten gegen ihre Behandlungsweise in Deutschland. Komi E., Einwanderer togoischer Herkunft, von der Initiative: " Derzeit führen wir eine bundesweite Faxkampagne für Bewegungsfreiheit für Flüchtlinge, und gegen die Residenzpflicht. Dies ist ein Isolationsgesetz, das dazu geschaffen wurde, damit wir MigrantInnen in keinen Kontakt mit der Bevölkerung kommen, sondern im Heim bleiben - eine rassistische Ausgrenzung."

Probleme beim Beantragen des "Urlaubsscheines" seien gang und gäbe, sagt Komi E.: "Als ich meine Freundin in Berlin heiraten wollte und in meinem Landkreis Saalkreis den Urlaubsschein beantragte, wurde ich gefragt: Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt? Die Sachbearbeiter fragten nach Einzelheiten und wollten erfahren, ob ich in der Vergangenheit heimlich nach Berlin gefahren wäre, denn dann hätte ich mich strafbar gemacht. Sie zweifelten an meiner Partnerschaft und erklärten, das reiche nicht aus für eine Heirat. Ich musste lange argumentieren, bevor sie mir den Urlaubsschein gegeben haben." Dazu komme die enervierende Situation auf Bahnhöfen und auf der Straße, weil Komi E. wie andere Farbige immer wieder von Polizeikontrollen betroffen ist.

"Togo Action Plus" fordert auch den Stopp der gezielten Polizeikontrollen: "Wir Afrikaner werden mehr kontrolliert, sobald Polizisten unsere Hautfarbe sehen, und die Leute, die die Kontrolle miterleben, sehen uns aufgrund dessen als kriminell an", heißt es in ihrem Protestschreiben. Herr E. klagte außerdem im Jahr 2007 gegen die Gebührenzahlung für die "Urlaubsscheine". Wer z. B. im Saalkreis als Flüchtling beabsichtigt zu reisen, muss zehn Euro für den Antrag bezahlen. Flüchtlinge haben aber in der Regel nicht mehr als 40 Euro Bargeld monatlich zur Verfügung. Die Klage beim Amtsgericht Halle wurde bis heute nicht bearbeitet. Darum bereiten sich die Migranten jetzt auch zur Demonstration vor dem Amtsgericht in Halle/Saale am 26. Mai vor.

Behördenwillkür und die Erinnerung an Kolonialgesetze

Integration wird von dem Gesetz offenbar geradezu virtuos verhindert. Die Migranten stehen vor einer amtlichen Hürde, z. B. wenn sie den Wunsch verspüren, aus den Regionen ihrer Heime herauszukommen, die sich meist in abgelegenen waldigen Gegenden befinden. Auch werde so gut wie nie erlaubt, den Landkreis für Bildung, etwa den Besuch von Deutschkursen, zu verlassen. Das berichtet die Sozialwissenschaftlerin Beate Selders, die das Buch "Keine Bewegung! Die Residenzpflicht für Flüchtlinge – Bestandsaufnahme und Kritk" (Hrsg. Flüchtlingsrat Brandenburg und Humanistische Union 2009) schrieb, eine umfassende Übersicht über das Gesetz, seine politischen Hintergründe und Auswirkungen, die kürzlich neu erschienen ist. Ein Jahr lang hatte sie Fälle gesammelt und Interviews mit Flüchtlingen und Personen aus migrantischer Hilfe und Sozialforschung über das Gesetz der Bewegungseinschränkung geführt. Betroffene vermuteten, dass die sogenannten Urlaubsscheine zum Verlassen der Landkreise willkürlich vergeben werden. Selders' Befragung von Ausländerbehörden bestätigte das: "Dafür gibt es meist interne Regeln, aber die sind für Außenstehende völlig untransparent."

Die Gefängnishaft, zu der Felix Otto verurteilt wurde, ist nach Kenntnis von Selders keine Seltenheit, wenngleich sie nicht immer so hoch ausfällt. Dabei werde die Logik des Strafrechts angewendet, wonach Delikte bei Wiederholung mit steigendem Strafmaß und schließlich mit Haft zu ahnden seien. Zwischen 80 und 100 Flüchtlinge seien es jährlich, die bundesweit aus dem gleichen Grund wie Otto in den Knast gehen müssten, sagt Selders.

Mehr als 160.000 Strafverfahren gab es in der BRD seit 1982 gegen Flüchtlinge, die sich unerlaubt aus den zugewiesenen Kreis- oder Bundeslandgrenzen fortbewegt haben, sagt Selders. Auch sie ist der Ansicht, dass deutsche Staatsbürger noch nicht allzu viel von dieser massiven Lebenseinschränkung für Flüchtlinge wissen.

Selektive Polizeikontrollen aufgrund fremdländischen Aussehens und der Hautfarbe, starke Einschnürung bei der privaten Lebensplanung und bei notwendigen Gängen im Alltag- das erinnert an die Passgesetze der Apartheid , meint Selders. "Eine solche Erinnerung liegt für die Betroffenen sehr nahe, zumal wenn jemand aus der Westbank oder aus einem afrikanischen Staat kommt." Und: "Das Gesetz bedeutet institutionellen Rassismus, das muss weg." Parallelen zu Wortlaut und Strafmaß in der faschistischen Ausländerpolizeiverordnung von 1938 erblickte gar Michael Stoffels, der zu einem früheren Grundrechte-Report der BRD beitrug, in der Residenzpflicht. Politiker reagierten auf diese Kritik empfindlich, und wiesen sie von sich.

Die Aktivisten von "Togo Action Plus" sehen laut Protestschreiben kolonialgesetzliche Analogien zu dem Paragraphen 56: "Es sollte daran erinnert werden, dass es während der Kolonialisierung Togos, Kameruns und weiterer Länder durch Deutschland der Bevölkerung nicht erlaubt war, ihr jeweiliges Dorf oder Gebiet ohne eine kostenpflichtige Sondergenehmigung zu verlassen."